Aber auch das Risiko, das wir eingehen, ist überhaupt nicht gering, weil die Folgeschäden eminent sein können in Bezug auf alles, was das nach sich zieht. Dessen muss sich jeder be wusst sein.
Das heißt: Es gibt keine sichere Balance auf diesem dünnen Eis; die gibt es einfach nicht – und zwar schon aus dem ein fachen Grund, dass die Wirkungen dieses Virus nicht sehr gut bekannt sind. Sie haben noch einmal auf die Widersprüche in der Wissenschaft hingewiesen, Herr Dr. Rülke. Auch die Wis senschaft lernt Woche für Woche dazu; auch die Wissenschaft hat über dieses Virus immer wieder neue Erkenntnisse.
An der Maskenpflicht hat sich das ja am deutlichsten gezeigt; zunächst war bekanntlich davon abgeraten worden, aber in zwischen erachten fast alle Epidemiologen – auch das RKI, das für uns ein besonderer Maßstab ist; es ist ja die Instituti on, die im Infektionsschutzgesetz genannt wird – die Masken pflicht als sinnvoll, einfach aus der Kenntnis heraus, dass die ses Virus insbesondere durch Tröpfcheninfektion übertragen wird. Wenn die Maske den Träger selbst wohl auch nicht schützt – das ist wissenschaftlich noch nicht ganz geklärt –, so ist es doch plausibel, dass eine Schutzwirkung gegeben ist, wenn möglichst viele Menschen eine Maske tragen. Darauf haben sich letztlich auch die Epidemiologen geeinigt: Wenn jeder die Maske trägt, ist die Ansteckungsgefahr minimiert – in welchem Maßstab auch immer; das ist natürlich wissen schaftlich noch nicht geklärt, man kann es aber in etwa ab schätzen.
All die Fragen der Begleitfolgen, der sozialen und wirtschaft lichen Kosten müssen abgewogen werden; genau dies wird aber auch getan. Darum machen wir auch keinen harten Lock down und haben einen solchen auch nie gemacht; wir wägen diese Folgen gegeneinander ab. Je mehr wir über das Virus und seine Ansteckungswege wissen, je besser wir über Ein dämmungsmöglichkeiten informiert sind, je präziser wir wis sen, wo die Gefahren stecken und wo nicht, mit desto größe rer Sicherheit können wir dann auch Entscheidungen über mögliche Öffnungen treffen.
Ich nenne Ihnen einmal ein ganz einfaches Beispiel. Es kam die Frage auf, ob man Schwimmbäder überhaupt öffnen kann. Dabei geht es ja auch um die Frage, ob das Virus über das Wasser übertragen werden kann. Alle Fachleute haben gesagt, dass das mitnichten der Fall ist, haben gesagt, dass diese Ge fahr vernachlässigbar ist. Also ist jedenfalls das Schwimmen selbst in einem Schwimmbad hinnehmbar. Auf dieser Basis kann man ganz anders mit der Entscheidung umgehen, als
wenn man dies nicht wüsste oder sogar davon ausgehen müss te, dass dies eine Gefahr darstellt. Es wird in Zukunft also da rum gehen müssen, wer in dieses Schwimmbad kommen darf und wie viele Personen gleichzeitig da sein dürfen, wie sie sich auf den Liegewiesen verteilen etc. Dies sind die Fragen im Zusammenhang mit einer Öffnung.
Herr Kollege Dr. Rülke, wir wissen nun einmal nicht alles über dieses Virus. Die Erkenntnisse wachsen, und damit wer den unsere Entscheidungen auch sicherer und besser begründ bar; das ist keine Frage. Ich habe deswegen jede Woche zwei große Runden, in denen ich mich mit Wissenschaftlern ausei nandersetze und mit ihnen die einzelnen Fragen bespreche. – Das ist also der Maßstab, mit dem wir an diese Krise heran gehen.
Klar ist auch: Wenn uns die Experten sagen: „Ja, diese Maß nahme ist vertretbar, weil man annehmen kann, dass sie kei ne neuen, großen Infektionswellen auslöst“, dann ist es ver antwortbar. Und genau das ist der Maßstab, nach dem wir vor gehen.
Wenn man natürlich weiß, dass das Wissen nach wie vor lü ckenhaft ist, dann erklärt sich auch, dass die Maßnahmen, die wir ergreifen, nicht immer widerspruchsfrei und konsistent sind. Dies zu verhindern ist ein Ding der Unmöglichkeit; das kann niemand leisten.
Da geht es z. B. um die Frage, ob rein systematisch geöffnet werden kann. Ich habe vor der letzten Ministerpräsidenten konferenz ein Papier herumgeschickt; diesem Papier können Sie entnehmen, dass ich eigentlich einen anderen Weg vorhat te, als die MPK ihn beschlossen hat, nämlich, Öffnungsfragen rein systematisch nach den hygienischen Regeln im Rahmen der Pandemie anzugehen. Ich bin aber darüber belehrt wor den – und zwar überzeugend –, dass jede solche Maßnahme eben auch mit einer statistischen Lücke verbunden ist. Das Robert Koch-Institut spricht von 5 bis 10 %. Das heißt, dass in der Summe bei vielen Öffnungsmaßnahmen, auch wenn sie nach den epidemiologischen Regeln erfolgen, trotzdem ein statistischer Sickereffekt vorhanden ist, der dann einfach da zu führen kann, dass allein diese 5 bis 10 % wieder Infekti onswellen auslösen.
Also ist die MPK mit der Kanzlerin diesen Weg erst einmal nicht gegangen, sondern geht schrittweise vor; ein solches schrittweises Vorgehen führt aber immer zu Inkonsistenzen. Sie öffnen das eine, und dann fragt jemand, der nahe dran ist: „Ja, warum ich nicht?“ Das gibt schwierige Debatten, für Sie und auch für mich. Das ist mir bekannt. Aber das ist natürlich der Preis für ein schrittweises Vorgehen; dies hat dann eben nicht die Logik.
Mit diesem Vorgehen wird die Gefahr zu vermeiden versucht, dass aufgrund solcher statistischen Sickereffekte trotzdem wieder Infektionswellen entstehen. Das war der Hintergrund, warum wir so entschieden haben.
Die Gerichte haben das unterschiedlich beurteilt. Die einen haben es verworfen; der Verfassungsgerichtshof in Hessen hat es heute hingegen für legal erklärt. Man sieht also, dass auch bei Gerichten unterschiedliche Auslegungen erfolgen.
Ich will Ihnen aber sagen: Natürlich versuchen wir, jetzt mög lichst in eher systematische Öffnungen zu kommen. Wir wer den jetzt in der Regierung so etwas machen wie eine Ampel. Das heißt, wir gehen die verschiedenen Dinge durch und fra gen, was epidemiologisch sehr problematisch ist. So sind z. B. Großveranstaltungen extrem problematisch – das sagen uns alle unisono –, sodass diese erst einmal „Rot“ bekommen.
Gasthausbesuche sind auch problematisch. Es ist dort sehr schwierig, die Abstandsregeln einzuhalten, es sei denn, Sie machen das so rigoros, dass der Wirt kein Einkommen mehr hat; dann ist ihm natürlich auch nicht geholfen – schwierig. Vor allem ist auch zu bedenken: Wenn Sie ins Büro gehen, treffen Sie dort immer in etwa dieselben Leute. Aber in einem Wirtshaus treffen Sie immer andere Leute. Das heißt, das hin terher nachzuverfolgen ist schwierig. Also würde ich einmal sagen, das bekommt „Gelb“.
... „Grün“ be kommen. Denn das ist ja eigentlich nicht problematischer als ein Spaziergang im Freien.
Ich will Ihnen sagen: Wir arbeiten daran, sukzessiv weitere Öffnungen hinzubekommen. Aber ich sage Ihnen auch ganz ehrlich: Wir haben alle einen ganz großen Respekt davor, dass es doch zu einer zweiten Infektionswelle kommen kann.
Ich will nochmals sagen: Wir sind bisher, verglichen mit an deren Ländern, ordentlich durch diese Krise gekommen – auf grund des Kurses, den wir da gefahren sind. Alle, vor allem auch die Epidemiologen, sagen uns, wir sollten dies nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.
Meine Damen und Herren, ich habe versucht, Ihnen die Ab wägungsgrundlagen nochmals deutlich zu machen. Man kann sie anders gestalten. Darüber sollten wir uns in der Tat ausei nandersetzen. Das kann überhaupt nicht schaden und ist auch richtig und wichtig.
Ich will aber auch noch einen Satz zum Parlament verlieren. Ich verstehe es vollkommen, dass das Parlament da unruhig wird. Das verstehe ich wirklich. Ich war lange genug selbst Parlamentarier.
Ich sage Ihnen nochmals, worin das Problem liegt: Das Infek tionsschutzgesetz ist ein Bundesgesetz. Das heißt, der Bund hat das im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung an sich gezogen. Die Länderregierungen, die aber zum großen Teil für die Ausführung dieses Gesetzes zuständig sind, können nun Rechtsverordnungen aufgrund eines Bundesgesetzes er lassen. Das haben wir gemacht. Ich denke, das, was wir da ge macht haben, ist erst einmal rechtssicher.
Wenn wir es anders haben wollen, müssen wir dieses Gefüge ändern. Ich habe nichts dagegen, wenn das Parlament dazu Überlegungen anstellt. Ich verstehe Ihre Unruhe darüber, dass
jetzt über Rechtsverordnungen einer Regierung einfach Grund rechte eingeschränkt werden, vollkommen. Sie werden aller dings wirklich nur temporär eingeschränkt – das gebe ich noch einmal zu bedenken. Aber im Moment ist das eben der Rege lungscharakter.
Ich will aber auch noch dazusagen: Das Kontrollrecht des Par laments ist in keiner Weise eingeschränkt.
Es liegt wirklich am Parlament selbst, jeden Minister, der da zu Maßnahmen ergreift, im Ausschuss dazu zu befragen, zu kontrollieren. Ich denke, dieses Recht ist nicht eingeschränkt. Ich will nochmals wirklich betonen: Ich verstehe auch den Unmut, der sich da aufbaut, wenn das über lange Zeit andau ert. Ich bin gern bereit, mit Ihnen über Regelungen zu spre chen, wo wir etwas verbessern können.
Aber ich will auch noch einmal dazusagen, was nicht gesche hen darf. Wir müssen trotzdem schnell und entschlossen han deln können. Natürlich bedenkt man bei dieser Geschwindig keit nicht immer alles. Da haben Sie mit dieser 800-m2-Rege lung schon den Finger in die Wunde gelegt, keine Frage. Ich war für 400 m2. Auf dem Kompromissweg ist es dann so ge kommen. Das hat dann zu gewissen Inkonsistenzen geführt, die Sie durchaus zu Recht angemahnt haben.
Es darf nicht dazu kommen, dass wir nicht mehr schnell und entschlossen genug auf die Pandemie reagieren können. Das ist sozusagen die andere Seite, die beachtet werden muss. An solchen Inkonsistenzen sieht man nämlich, dass der reguläre Weg, den wir im parlamentarischen Verfahren bei Gesetzen und Verordnungen haben, und auch das Tempo durchaus rich tig sind, um die Dinge zu durchdenken, auf ihre Konsequen zen hin zu überprüfen. Das ist eben der Vorteil. Aber während einer Pandemie darf das schnelle Handeln andererseits auch nicht gefährdet sein. Ich bin – das möchte ich Ihnen nochmals ausdrücklich sagen –, wenn das Parlament mir Vorschläge macht, wie wir beides besser zusammenbekommen, dafür of fen.
Herr Ministerpräsi dent, vielen Dank für das Zulassen der Zwischenfrage. – Sie haben vorhin argumentiert: Für Sie stand der Gesundheits schutz an erster Stelle. Dann musste man sich auf die 800 m2 einigen; Sie seien für 400 m2 gewesen. Es geht doch um den Abstand und die Hygienevoraussetzungen und nicht um die Quadratmeterzahl, oder? Das wäre die erste Frage.
Die zweite Frage: Sie haben angeführt, es gibt Bundesgeset ze, die Sie als Ministerpräsident schnell und richtig umsetzen müssen – da bin ich bei Ihnen. Aber können Sie mir erklären, warum diese Notverkündungen der Notverordnungen in Ba den-Württemberg meist freitagabends um 23:45 Uhr oder 22:45 Uhr gemacht werden? Dadurch kann man sich nicht vorher auf das vorbereiten, was für den nächsten Montag gilt; weder die Kommunalen noch die Unternehmen noch die El tern können das. Andere Bundesländer bekommen dies deut lich früher hin. Was hat man sich dabei gedacht? Ich denke,
auch die Frage, wie man so etwas umsetzt, spielt gerade in ei ner solchen Krise eine bedeutende Rolle.
Wir haben das schon selbst besprochen. Bei den nächsten Re gelungen sind wir vielleicht in der Lage – – Eine Frage ist im mer, wann die Tagungen sind. Dann müssen Sie sich natür lich in der Regierung committen, und dann ist es immer ein fach zum Ende der Woche. Ich hoffe, dass wir bei den nächs ten Regelungen früher dran sind.
Die Regelung etwa für die Kirchen habe ich Ihnen im Kern heute schon gesagt, sodass sie da in der Lage sein werden, zu reagieren. Das wird eher am Anfang der Woche stattfinden.
Das hat wirklich keine tieferen Gründe. – Ich nehme Ihre Fra ge zum Anlass, nochmals zu schauen, ob wir das nicht im Wo chenrhythmus besser nach vorn verlegt bekommen, damit al le besser darauf reagieren können. Vielen herzlichen Dank.
Ich darf mich am Schluss einfach nochmals für die gute De batte bedanken. Solche Debatten sind in solch einer Krise wichtig; man ist auf Anregungen angewiesen. Ich will noch einmal sagen, dass wir jenseits dessen, was wir sonst üblicher weise pflegen, sehr offen sind für alle Vorschläge, die auch von Ihnen kommen; diese nehmen wir gern auf. Ich glaube, es ist aber auch wichtig – das erwarten die Menschen von uns auch –, dass wir in einer solch schweren Krise Auseinander setzungen konstruktiv führen. Dafür darf ich mich recht herz lich bedanken.
Meine Damen und Herren, the oretisch wäre in der Aussprache noch eine Runde möglich, aber sicherlich auch in Anbetracht der Zeit sehe ich keine Wortmeldungen. Vielen Dank.