Protocol of the Session on November 6, 2013

(Abg. Dr. Stefan Fulst-Blei SPD: Du liebe Güte! – Glocke des Präsidenten)

Herr Abg. Grimm, gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Boser?

Nein. – Ihre Absicht, durch Akademisierung eine bessere Qualifikation zu erreichen, führt die Jugend an der dualen Ausbildung vorbei. Dann passiert hier das Gleiche, was in anderen europäischen Ländern auch passiert ist.

Wenn Sie der Jugend und der Wirtschaft und somit der Zu kunft unseres Landes etwas Gutes tun wollen, darf man damit nicht erst in den Klassenzimmern beginnen. Kinder, die De fizite haben, müssen vor der Einschulung gefördert werden. Darin liegt das große Problem, Herr Kollege Rust. Es wäre einfacher und kostengünstiger, bei den Kindern anzufangen.

Dann wäre die Grundvoraussetzung, nämlich die Sprach kenntnis, gegeben, wenn die Kinder eingeschult werden.

Ziel jeder schulischen Ausbildung muss ein Abschluss sein, der auch zum Anschluss führt. Das Motto darf nicht heißen: Jeder hat eine Chance auf einen Abschluss. Vielmehr muss das Motto lauten: Jeder muss einen Abschluss erreichen. Erst dann können Sie das Ziel festschreiben, dass alle Jugendli chen eine Chance auf eine berufliche Ausbildung haben sol len. Bis dahin sollte man den Jugendlichen beigebracht ha ben, dass ihr beruflicher Weg mehr ihren Fähigkeiten als ih ren Wünschen entsprechen sollte.

Außerdem brauchen wir einen Ausbildungspakt, der den hoch qualifizierten und motivierten Jugendlichen gerecht wird. Dies gilt insbesondere angesichts des Drangs hin zur Akademisie rung. Schulen müssen so gestärkt werden, dass die duale Aus bildung hoch qualifizierte Menschen hervorbringt. Dabei muss man Schule und Berufsausbildung nicht neu erfinden.

Der derzeit eingeschlagene Weg führt dazu, dass sich die Schere zwischen der Zahl der offenen Stellen und der Zahl der Bewerber weiter öffnet. Das zeigt sich auch dadurch, dass wir doppelte Abgänge – G 8 und G 9 – u. a. auch im Ausbil dungsbereich haben. Die Situation wird sich in den nächsten Jahren aber entzerren. Deshalb wird die Schere weiter ausei nandergehen.

Wenn Bewährtes verbessert werden kann – auch aus der Ver gangenheit heraus gibt es bestimmt einiges zu verbessern –, dann sollte das, wenn es den Jugendlichen und der Wirtschaft dient, auch gemacht werden. Deshalb sollten Sie das auch ver suchen, aber Sie sollten nicht anstreben, mit neuen Systemen und mit neuen Ideen etwas Bewährtes zu umgehen. Sie soll ten nicht versuchen, mit einer Stange im Nebel nach neuen Wegen zu stochern.

Ich denke, wir finden uns alle hier im Leben wieder, meine Damen und Herren. Dabei meine ich das richtige Leben.

Danke schön.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Für die Landesregierung spricht der Minister für Finanzen und Wirtschaft, Herr Dr. Nils Schmid.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich, dass wir uns in diesem Haus bei zwei Grundsätzen ei nig sind. Dies betrifft zum einen die überragende Bedeutung der dualen Ausbildung als Erfolgsfaktor für Wirtschaft und Gesellschaft in unserem Land. Ein Blick in die europäischen Nachbarländer und in die weite Welt hinaus zeigt uns, dass wir mit diesem weltweit fast einzigartigen Ausbildungssys tem in Deutschland und auch in Baden-Württemberg auf dem richtigen Weg sind. Bei Delegationsreisen stelle ich immer wieder fest, dass die baden-württembergischen Mittelständler diese bewährten Strukturen im Ausland gern vorfinden wol len oder diese tatkräftig mit aufbauen.

Entscheidend ist aber auch – da will ich Herrn Paal ausdrück lich zustimmen –, dass duale Ausbildung nicht nur bedeutet, dass man Berufsschulen errichtet, Berufsschullehrer einstellt

und Ausbildungsverträge abschließt, sondern das ist auch ei ne kulturelle, eine mentale Frage, die nicht aus dem Nichts heraus entstehen kann. Wichtig ist ein Zusammenwirken der Wirtschaft mit den öffentlichen Einrichtungen. Die Voraus setzungen hierfür können nicht alle in Gesetze gefasst wer den.

Das setzt eine langfristig orientierte Kultur in unserer Wirt schaft und außerdem die Bereitschaft voraus, Geld in die Hand zu nehmen, um jungen Menschen drei oder dreieinhalb Jahre lang eine Ausbildung zu ermöglichen und ihnen zudem eine Ausbildungsvergütung zu bezahlen, obwohl die Gefahr be steht, dass die ausgebildete Fachkraft später an eine andere Stelle wechselt, und zwar anders als beim Fußball ohne Ab lösesumme.

Wir können uns glücklich schätzen, in der Lage zu sein, dass die baden-württembergischen Unternehmer insbesondere des Handwerks und des Mittelstands mit großem Eifer in die Aus bildung investieren. Eine zweite mentale bzw. kulturelle Vo raussetzung ist, dass sie sich ehrenamtlich in den Kammern engagieren. Sie sind also nicht nur Ausbilder, sondern auch ehrenamtliche Prüfer in den verschiedenen Gremien der Hand werkskammern, Industrie- und Handelskammern und der In nungen, um die Ausbildung voranzubringen.

Dieses Gesamtgeflecht ist sehr wertvoll. Deshalb messen wir, die Landesregierung, und sicher auch alle hier im Landtag der beruflichen Ausbildung eine so große Bedeutung bei.

(Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Gerade weil wir die berufliche Ausbildung so hoch schätzen, ist eine feste Quote, die vorschreibt, wie viele junge Leute ei nes Jahrgangs einen akademischen Abschluss bzw. einen nicht akademischen Abschluss anstreben sollten, natürlich nicht Ziel dieser Landesregierung. Das ist im Koalitionsvertrag si cherlich missverständlich formuliert. Angesichts des sich ab zeichnenden Fachkräftebedarfs brauchen wir sehr viele junge Leute, die die bewährte duale Ausbildung absolvieren.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Sehr rich tig!)

Mit verschiedenen Maßnahmen ermuntert die Landesregie rung Jugendliche zum Eintritt in die duale Ausbildung.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen sowie des Abg. Claus Paal CDU)

Bei dieser Frage sollte man sich vor einem falschen Konkur renzdenken hüten. Verschiedentlich ist die nicht ausgeschöpf te Begabungsreserve der Jugendlichen eines Jahrgangs ange sprochen worden, die keinen Berufsabschluss erzielen. Das heißt, es gibt jenseits der Frage, wie viele junge Menschen an die Hochschule gehen, viele Tausend Jugendliche im Land, die weder an die Hochschulen gehen noch eine berufliche Aus bildung erfolgreich abschließen. Insofern gibt es in unserer Gesellschaft ein unglaublich großes Potenzial für die duale Ausbildung. Genau dieses Potenzial will ich als Wirtschafts minister ausschöpfen.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Nach den allgemeinen Glaubenssätzen und den Bekenntnis sen, die wir sicherlich alle teilen, komme ich jetzt zur berech

tigten Aktualität dieser Debatte. Beim Spitzengespräch des Ausbildungsbündnisses am Montag, also erst vorgestern, ha ben wir einen Durchbruch auf dem Weg zur Reform des Über gangsbereichs erzielt. Deshalb freue ich mich, dass die SPDFraktion aus diesem aktuellen Anlass diese Aktuelle Debatte beantragt hat.

Zunächst einmal möchte ich die Ausgangslage auf dem Aus bildungsmarkt in Baden-Württemberg schildern. Die Lage hat sich im Vergleich zum Vorjahr nicht wesentlich verändert. Der Ausbildungsmarkt ist nach wie vor von Rückgängen geprägt. Die Zahl der neuen Ausbildungsverträge geht bei Industrie und Handel um 5 %, beim Handwerk um 4 % zurück.

Auf der anderen Seite war zum Stichtag 30. September bei den Arbeitsagenturen gemeldet, dass rund 5 000 Ausbildungs plätze noch unbesetzt geblieben sind. Demgegenüber waren nur 800 Jugendliche völlig unversorgt. Diese Zahlen, vor al lem aber die hohe Zahl offener Lehrstellen, zeigen, dass die Schwierigkeiten der Wirtschaft, ausreichend Fachkräftenach wuchs auszubilden und die Ausbildungsplätze zu besetzen, weiter zunehmen.

Deshalb ist es so wichtig, dass auch auf Initiative des Ausbil dungsbündnisses in diesem Jahr erstmals Berufsberater der Arbeitsagenturen und Kammervertreter direkt an beruflichen Schulen offene Ausbildungsplätze vorstellen, wodurch Ju gendliche an beruflichen Schulen, die noch auf Ausbildungs platzsuche sind, eine kurzfristige Chance zu einem Direktein stieg in eine duale Ausbildung erhalten. Das ist wichtig, weil dies beides – den Einsatz gegen den Fachkräftemangel und das Bieten neuer Chancen für die Jugendlichen – miteinander verbindet.

Dieser Fachkräftebedarf wurde in dem IHK-Fachkräftemoni tor – das will ich bei dieser Gelegenheit in Erinnerung rufen – auf 150 000 bereits heute fehlende Fachkräfte und 270 000 im Jahr 2021 fehlende Fachkräfte beziffert. Das zeigt auch die Dimension der Herausforderung, vor der wir stehen.

Wie bereits in den Vorjahren und auch aktuell analysiert wor den ist, gehen jährlich 38 000 Jugendliche in Baden-Württem berg nicht in eine Ausbildung, sondern in den Übergangsbe reich. Genau das, meine sehr verehrten Damen und Herren, können wir uns angesichts der geschilderten Situation nicht mehr länger leisten,

(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

und zwar erstens, weil es bedeutet, dass die betroffenen jun gen Menschen Warteschleifen drehen müssen, und zweitens, weil es finanziell nicht länger tragbar ist.

Deshalb haben wir – das ist der Durchbruch, den wir durch intensive Vorbereitung aller Bündnispartner in der Steuerungs gruppe erreicht haben – uns vorgenommen, diesen Übergangs bereich kleiner und zielführender zu gestalten. Das überge ordnete Ziel ist, den Übergangsbereich so auszulegen, dass die jungen Leute möglichst schnell direkt in eine Ausbildung kommen. Auf diesem Weg wollen wir keinen einzigen Jugend lichen zurücklassen. Das ist unser Anspruch.

(Glocke des Präsidenten)

Herr Minister, gestatten Sie eine Zwi schenfrage des Kollegen Dr. Bullinger?

Ja, gern.

Herr Minister, wenn ich mich recht erinnere, gab es einmal Aktionen von Lehrstel lenwerbern, die meines Wissens vom Wirtschaftsminister ge meinsam mit den Kammern initiiert wurden. Was tun Sie? Werden diese Aktionen fortgeführt oder intensiviert? Ich hal te es für wichtig, sowohl mehr Lehrer in die Betriebe als auch die Betriebe, also die Unternehmer, vor allem die Handwer ker, verstärkt in die Schulen zu bringen. Es ist auch wichtig, dass die Kammern von der Landesregierung im Hinblick auf diese Lehrstellenwerbeaktionen unterstützt werden. Wird dies fortgeführt? Sind Sie vielleicht auch aufgrund der vorliegen den Zahlen bereit, diese Aktionen zu intensivieren?

Sie sprechen ein ganz wichtiges Instrument an, das wir auch im Ausbildungsbündnis vereinbart haben: Das sind die sogenann ten Ausbildungsbotschafter, die in den Klassen unter den na hezu Gleichaltrigen für eine Ausbildung werben. Das ist ein ganz großartiges Modell, an dem sehr viele Betriebe teilneh men. Wir versuchen, dies in der Fläche gleichmäßiger und in tensiver zu begleiten. Wir kooperieren hier mit den Kammern. Diese Aktionen wollen wir fortführen. Denn, so denke ich, es ist besonders überzeugend, wenn ein junger Mann oder eine junge Frau, der oder die aktuell in einer Ausbildung ist, in der Klasse von eigenen Erfahrungen erzählt, davon, wie die Aus bildung abläuft, was man in der Ausbildung alles tut. Das ist viel authentischer, als wenn ein Außenstehender erzählt, was eine duale Berufsausbildung ist. Dieses Modell hat sich un heimlich bewährt. Wir werden es weiterführen.

Jetzt komme ich zu den Punkten, die wir gemeinsam – das Land, die Wirtschaft, Gewerkschaften, Arbeitsagentur, Kom munen – hinsichtlich der Reform des Übergangsbereichs ver einbart haben. Nach einer intensiven Vorbereitungszeit von über einem Jahr konnten wir ein Eckpunktepapier vorstellen. Ich bin froh, dass es bei diesem komplexen Thema zu diesem Durchbruch gekommen ist. Der breite Konsens – das ist das Neue, der neue Schwung, der in den Prozess gekommen ist – ist besonders wertvoll. Alle ziehen an einem Strang, und das auch noch in dieselbe Richtung. So soll es sein.

Es geht vor allem um eine bessere Berufsorientierung an all gemeinbildenden Schulen sowie eine starke Einbindung be trieblicher Aspekte in der schulischen Ausbildungsvorberei tung, um sogenannte Klebeeffekte zu erreichen. Auch dann, wenn junge Leute nicht direkt in einen Ausbildungsberuf ein steigen, sollen sie schon in den schulischen Einrichtungen, in denen sie dann sind, sehr viele Elemente betrieblicher Berufs bildung mitbekommen. Das wird so umgesetzt – ich nenne die fünf entscheidenden Punkte –, indem erstens die systema tische Berufsorientierung an den allgemeinbildenden Schulen so ausgestaltet wird, dass jeder Schüler weiß, was den Aus bildungsberuf ausmacht, dass er sich bei guter Informations lage selbst frei entscheiden kann, ob er in eine Ausbildung ein mündet oder einen anderen Weg geht.

Das Kultusministerium – das möchte ich ausdrücklich beto nen – ist bereits auf einem sehr guten Weg, etwa mit dem Leit

prinzip „Berufliche Orientierung“ in den neuen Bildungsplä nen und dem neuen Schulfach „Wirtschaft/Berufs- und Stu dienorientierung“. Ich will meinem Kollegen Minister And reas Stoch und der Staatssekretärin Marion von Wartenberg ausdrücklich für die gute Kooperation, gerade bei diesen The men, danken.

(Beifall bei der SPD)

Nach der Berufsorientierung in den Schulen geht es jetzt um den Übergang. Hier wollen wir – das ist das erste Element – den Jugendlichen, die noch nicht ausbildungsreif sind, durch eine stärkere Einbindung von Betrieben in der Ausbildungs vorbereitung den Übergang erleichtern. Wenn Betriebsprak tika eingebaut werden, führt dies zu Klebeeffekten und damit zu höheren Übergangsraten in die betriebliche Ausbildung.

Dazu sollen die bisherigen vollzeitschulischen Bildungsgän ge durch einen neuen schulischen Bildungsgang „Ausbil dungsvorbereitung Dual (AV Dual)“ ersetzt werden. Dies ist zwar ein schulisches Angebot, der duale Bezug wird jedoch deutlich stärker herausgestellt. Die Ausbildung umfasst in der Regel zwei Tage pro Woche in der betrieblichen Praxis. Au ßerdem sollen sich während der Betriebspraktika Begleiter um die Jugendlichen kümmern und bei der Vermittlung von Ausbildungsstellen helfen.

Jetzt kommt das Entscheidende, nämlich das Partnerschaftli che mit der Wirtschaft: Das Ganze funktioniert nur, wenn die Betriebe ausreichend Praktikumsplätze bereitstellen. Die Wirt schaft hat mit einer Praktikumsgarantie eine starke Selbstver pflichtung auf den Tisch gelegt. Auch dafür möchte ich allen Vertretern der Wirtschaft ganz herzlich danken.

Für diejenigen Jugendlichen, die keinen Förderbedarf haben, jedoch keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, gibt es ein neues berufsschulisches Angebot, das das erste Ausbildungs jahr in ausgewählten Berufen ersetzt. Dies entspricht der Aus bildungsgarantie, die wir im Koalitionsvertrag unter dem Stichwort „Recht auf Ausbildung“ vereinbart haben.

Klar ist aber auch: Auch bei diesem Modul bleibt das Ziel der Übergang in die betriebliche Ausbildung, auch noch kurzfris tig aus der Schule heraus. Die beruflichen Inhalte, die in die sem ersten Jahr unterrichtet werden, werden mit der Wirt schaft eng abgestimmt. Es soll nicht für irgendwelche Mode berufe ausgebildet werden. Die Inhalte müssen mit dem Aus bildungsbedarf der Wirtschaft abgestimmt sein.