Protocol of the Session on December 19, 2012

(Zuruf des Abg. Claus Paal CDU)

davon sogar jeder dritte schon in der Probezeit. Das sind dra matische Zahlen. Allein im Handwerk wird jeder vierte Aus bildungsvertrag vorzeitig gelöst.

Das können wir sicher nicht damit erklären, dass wir jetzt ei ne Schieflage im Bildungssystem haben. Da müssen wir tie fer hineingehen und fragen: Was passiert da eigentlich? Wir müssen uns die Frage stellen: Was passiert in der Berufsori entierung in den allgemeinbildenden Schulen?

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ja, genau!)

Das ist ein Punkt, über den wir uns unterhalten müssen. Aber es stellt sich natürlich gleichermaßen die Frage: Was passiert in den Ausbildungsbetrieben? Ist da die Qualität so, dass jun ge Leute sagen: „Das ist ein Angebot für mich“?

Wir bewegen uns hier auf einem Markt. Wir können die jun gen Leute schließlich nicht in eine berufliche Ausbildung hi neinprügeln. Wenn ein Betrieb eine Ausbildung zum Metzger oder zum Bäcker anbieten will, muss das auch gewissen Qua litätsansprüchen genügen. Mir tut es leid, wenn bei den Aus bildungen im Bäckerhandwerk eine Abbrecherquote von 40 % besteht. Das ist ein untragbarer Zustand. Da müssen wir wirk lich auch einmal überlegen: Woran liegt es, dass wir da so ho he Abbrecherquoten haben?

Eines müssen Sie sich auch noch vergegenwärtigen, nämlich dass 39,1 % der Schulabgänger in Baden-Württemberg, die eine duale Ausbildung aufnehmen könnten, in das Übergangs system, in den Übergangsbereich gehen. Der Bundesdurch schnitt liegt bei 28 %. Das ist natürlich auch ein Grund dafür, dass wir eine geringe Jugendarbeitslosigkeit haben. Frau Schütz, das ist mit ein Merkmal davon.

Bei uns, Frau Schütz, sind 36 % der jungen Leute, die einen Ausbildungsvertrag abschließen, Altbewerber. Sie haben sich also schon ein Jahr vorher um einen Ausbildungsplatz bemüht. Da bedarf es Veränderungen.

Jetzt, Frau Schütz, nenne ich Ihnen noch eine letzte Zahl, die ebenfalls wichtig ist – auch für den Wirtschaftsstandort Ba den-Württemberg –: 15 % der 25- bis 35-Jährigen haben kei nen anerkannten beruflichen Bildungsabschluss. Das ist ein brutal hoher, großer Anteil. Wir sind damit zwar knapp bes ser als der Bundesdurchschnitt, aber trotzdem ist das ein Po tenzial, das wir heben müssen. Dazu brauchen wir dringend neue Angebote der beruflichen Ausbildung, sei es in Form ei ner Teilzeitausbildung oder einer assistierten Ausbildung. Denn es darf nicht sein, dass wir junge Leute aus Spanien für eine duale Ausbildung hierherholen, obwohl bei uns 15 % der jungen Menschen keine berufliche Ausbildung haben. Da brauchen wir Angebote in hoher Qualität und in neuen For men der dualen Ausbildung. Das müssen wir leisten.

In der Enquetekommission haben wir dazu einen Konsens ge funden. Unsere Positionen liegen nicht weit auseinander. Las sen Sie uns also nicht die falschen Schlachten führen – näm lich über das allgemeinbildende Schulsystem –, sondern las sen Sie uns gemeinsam über die Punkte diskutieren, die wirk lich notwendig sind.

(Beifall bei den Grünen – Zuruf: Bravo!)

Für die SPD-Fraktion er teile ich Herrn Kollegen Hofelich das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin, herzlichen Dank. Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Ich habe mir erlaubt, meine Fraktion zu bitten, zu diesem Tagesordnungspunkt sprechen zu dürfen. Das tue ich gern. Ich sage auch der CDU-Fraktion meinen Dank, dass das Thema auf die Tagesordnung gekommen ist; denn ich bin der Meinung, dass es ein aktuelles und ein wichtiges Anlie gen ist. Ich denke auch, dass uns die Stellungnahme des Mi nisteriums für Finanzen und Wirtschaft weitere erhellende In formationen gibt, die sicherlich auch den Blick nach vorn rich ten, auch wenn nicht alles – das wissen die Beteiligten im Raum – neu sein kann und neu ist. Ich denke, dass wir auf je den Fall an einem Punkt sind, bei dem sich die Debatte sehr lohnt.

Meine Damen und Herren, ich möchte gern voranstellen, dass wir alle ein Interesse daran haben, dass unser Handwerk in unserem Land eine gute Zukunft hat. Es hat jedoch keine gu te Zukunft, wenn die Ausbildung im Handwerk nicht funkti oniert und wenn es nicht genügend Auszubildende, nicht ge nügend junge Leute gibt, die ins Handwerk gehen wollen. Un sere Dörfer und unsere Städte wären um einiges ärmer, wenn das Handwerk ausgedünnt würde, wenn es weniger davon gä be. Deswegen sagt das Land Baden-Württemberg: Wir wol len, dass das Handwerk ein substanzieller Teil unseres Lan des Baden-Württemberg ist und bleibt, meine Damen und Her ren.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU und der Grünen)

Dass die Situation ambivalent ist, ist in der Analyse, die durch die ersten beiden Redner vorgenommen wurde, schon deut lich geworden. Ich will es mit meinen Worten noch einmal sa gen.

Insgesamt ist die Zahl der offenen Stellen gestiegen. Wir ha ben eine Stagnation bzw. einen Rückgang bei der Zahl der Ausbildungsverträge im Handwerk. Angebot und Nachfrage haben sich gewandelt.

Wir haben unversorgte Bewerber. Wir haben aber auch die be kannten Warteschleifen, in denen sich Personen befinden, die nur sehr schwer zu vermitteln sind. Wir haben besondere Lü cken im Einzelhandel. Wir haben auch Lücken in der Gastro nomie, im Nahrungsmittelhandwerk, und wir haben – nicht zu vergessen – immer noch ein Rekrutierungsgefälle zwischen großen Unternehmen und kleinen Unternehmen und damit ty pischerweise Handwerksbetrieben. Viele sagen: „Na ja, wenn es nach der Ausbildung um den Beruf geht, bin ich vielleicht doch lieber in der Industrie mit geregelten Arbeitszeiten etc.“ Das ist die Lage, über die man nicht lange zu debattieren braucht. Sie ist, wie sie ist.

Der Druck, der daraus resultiert, dass die Zahl der Schulab gänger im Zeitraum von 2012 bis 2020 um insgesamt 18 % sinken wird, baut sich weiter auf. Wenn nichts geschieht, Frau Kollegin Schütz und Herr Kollege Lehmann, haben wir ein Problem. So ist es.

Deswegen sollte man zunächst einmal sagen: Dieses Problem besteht aus drei Teilen. Erstens gibt es ein Mobilisierungspro

blem für das Handwerk. Es stellt sich die Frage: Wer geht ins Handwerk, um einen Ausbildungsberuf zu erlernen? Zweitens gibt es ein Trainings- und Bildungsproblem, vielleicht auch ein Erziehungsproblem. Es stellt sich die Frage: Wie kommen die jungen Leute im Handwerk an? Drittens gibt es ein Attrak tivitätsproblem des Handwerks. Da geht es um die Frage: Stimmt das Image, stimmt das, was wichtig ist, um ins Hand werk zu gehen?

Meine Damen und Herren, ich behaupte – das will ich an die ser Stelle auch sagen –: Das Handwerk tut sehr viel. Es legt nicht die Hände in den Schoß. Es weiß, dass es über Qualität punkten muss. Wenn man bei Abschlussfeiern dabei ist – so wohl bei den Meistern als auch bei den Azubis –, sieht man: Die jungen Leute bringen Qualität. Man sieht auch, dass ihre Handwerksmeister hinter ihnen stehen. Ich sage: Das Hand werk strengt sich an. Das sollte man an dieser Stelle auch ganz klar sagen, meine Damen und Herren.

(Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

Die Rolle von uns als Landespolitikern wird sein, zu treiben, zu flankieren, zu finanzieren, wo es geht, und vor allem zu ori entieren. Zum Thema Orientieren möchte ich gern ein paar Anmerkungen machen, weil das auch Aufgabe der Politik ist – natürlich immer in Partnerschaft mit denen, die tatsächlich an der Front sind.

Der erste Punkt zur Orientierung ist – ich will das für meine Fraktion deutlich sagen –: Die duale Ausbildung ist gleich wertig zur akademischen Ausbildung, und wir sollten als Po litikerinnen und Politiker auch sagen, dass wir diese Gleich wertigkeit so leben und so wollen.

Weil das so ist, haben wir auch Erwartungen. Ich habe z. B. die Erwartung, dass ein Lehrer im Gymnasium, in dem heute ein großer Teil der Jahrgänge ist, auch in seinem Gymnasium für eine duale Ausbildung im Handwerk wirbt und darauf hin weist, dass das eine gute Sache ist. Das können Lehrerinnen und Lehrer durchaus tun.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen)

Ich bin ebenfalls dafür, dass die Gemeinschaftsschule in ih rem Wert erkannt wird. Kollege Lehmann hat auf den mittle ren Bildungsabschluss hingewiesen. Das ist das, was heute gefragt ist. Meine Damen und Herren. Das allmähliche Vor dringen der Gemeinschaftsschule wird eine Trumpfkarte für das Handwerk sein. Deswegen hat das Handwerk übrigens auch die Gemeinschaftsschule gefordert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen)

Wir haben allen Anlass, einiges zu bewerben, weil man auch ein wenig rasseln muss. Deswegen ist das, was unterwegs ist – sowohl vom Bündnis für Ausbildung, weil es schon in der früheren Landesregierung angelegt war, als auch von der Fachkräfteallianz –, richtig. Wir haben gute Ideen. Die Aus bildungsbotschafter oder die Videos auf YouTube werden all gemein gelobt.

Wir sollten jedoch auch darüber nachdenken, wie die Chan cen der Schwächeren verbessert werden. Hier gilt es vor al lem, dass wir, das Land, von der assistierten Ausbildung bis hin zu den Berufskollegs unsere Anstrengungen verbessern.

Wir sollten auch – lassen Sie mich das noch ansprechen – nach den Ausbildungsabbrechern schauen, deren Zahl in einzelnen Branchen in der Größenordnung liegen mag, wie sie darge stellt worden ist. Dort gilt es, mit Coaching-Maßnahmen etc. zu helfen.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Man sollte sich auch die Studienabbrecher anschauen!)

Teilzeitausbildung ist gerade ein Thema für junge Eltern. Es ist auch eine wichtige Frage, wie das Berufsbildungsangebot, das Berufsschulangebot der Zukunft aussieht. Es ist eine wich tige Aufgabe der Zukunft, dass künftig Berufsschulen in der Nähe des Ausbildungsplatzes und des Wohnorts der jungen Leute sind, so gut es bei dem demografischen Wandel geht. Die Landesregierung ist in der Pflicht, eine entsprechende Vor stellung zu haben.

Letzter Punkt: Ich finde, uns tut Selbstbewusstsein gut. Wir können Europa sagen, dass Baden-Württemberg, Deutschland und die deutschsprachigen Länder mit der dualen Ausbildung etwas Gutes vorzuweisen haben. Das ist etwas, was wir auch exportieren können. Wenn wir es exportieren können, dann sind wir auch für junge Leute aus ganz Europa attraktiv, die hier sein wollen. Das schließt sich gegenseitig nicht aus.

Meine Damen und Herren, es kommt darauf an, dass wir et was tun. Ich habe versucht, einige Felder aufzuzeigen, auf de nen schon etwas geschieht und auf denen künftig etwas ge schehen wird. Danke für den Anlass, liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU. Ich glaube, gemeinsam sind wir auf einem richtigen Weg. Lassen Sie uns darauf bleiben und die Ansätze verstärken.

Danke schön.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen)

Für die FDP/DVP-Frak tion erteile ich Herrn Kollegen Grimm das Wort.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Er weiß, wovon er spricht!)

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Unser Land ist global Weltspitze. Das verdanken wir dem Wettbewerb und der Innovation.

(Abg. Andreas Schwarz GRÜNE: Und dieser Lan desregierung! – Gegenruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Der als Letzter!)

Erst unser Wohlstand ermöglicht Sozialwerken ein Auffang netz für die Schwächeren. Spitze sind wir auch durch unser Bildungssystem, und ich denke, darum werden wir auf der ganzen Welt beneidet.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der CDU)

Aber leider sind zurzeit Bemühungen in Gang – ich denke, da übertreibe ich nicht –, jedem Schüler das Abitur mitzugeben. Die Zahl der Studierenden soll enorm erhöht werden, weil an geblich nicht durch fehlende Begabung, sondern mangels Chancengleichheit zu wenige Akademiker produziert werden. Ich frage mich: Brauchen wir Taxifahrer mit Doktorgrad?

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Wenn er Ju rist ist, ja!)

Nach neuesten wissenschaftlichen Untersuchungen – viel leicht wird Sie, meine Damen und Herren von der Regierungs koalition, das überraschen – gibt es kaum Beweise dafür, dass mehr Bildung zu größerem nationalen Wohlstand führt. Ein Großteil des Wissens, das durch die Bildung vermittelt wird, ist für eine Produktivitätssteigerung nicht relevant. Dass Bil dung eventuell nicht schadet, steht auf einem anderen Blatt.

(Zuruf von der SPD: Aha!)

Das Bildungsniveau einzelner Menschen ist für unseren Wohl stand nicht entscheidend. Entscheidend ist vielmehr, ob es dem Land gelingt, diese Menschen in eine Wirtschaft mit ho her Produktivität einzugliedern.

(Glocke der Präsidentin)