Protocol of the Session on December 21, 2011

Herr Präsident, liebe Kol leginnen und Kollegen! Die grün-rote Landesregierung ist an getreten mit dem Ziel, mehr Bildungschancen zu schaffen.

(Abg. Jörg Fritz GRÜNE: Richtig!)

Also müsste der Gesetzentwurf zur Werkrealschule auch ein Mehr an Chancen bewirken. Doch je öfter ich den Gesetzent wurf durchgesehen und darüber mit Fachleuten diskutiert ha be, desto drängender hat sich mir die Frage gestellt: Wie kann ein Gesetzentwurf nur so viele Bildungschancen zunichtema chen? Wieso, fragt man sich, wird der Markenkern der Werk realschule, ihr berufspraktisches Profil, so stark beschnitten, wenn es doch jungen Menschen die Chance gibt, wertvolle Einblicke in die berufliche Praxis und erste berufsbezogene Kenntnisse zu erhalten?

Vorgesehen war eine Kooperation mit den Berufsfachschulen in der Klasse 10, die die Schüler an zwei Tagen in der Woche hätten besuchen sollen. Hiermit hätten sich doch große Chan cen für junge Menschen ergeben, sich beruflich zu orientieren und vielleicht schon einen beruflichen Weg einzuschlagen.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Sehr rich tig!)

Diese Chancen sollten Ihnen ebenso viel wert sein wie der CDU-FDP/DVP-Vorgängerregierung. Stattdessen werden la pidar organisatorische Gründe für die ansonsten unverständ liche Aufgabe der Kooperation angegeben. Der Hauptperso nalrat für Lehrkräfte an beruflichen Schulen bemerkt hierzu:

Eine qualitativ hochwertige und allseits anerkannte Vor bereitung auf das spätere Berufsleben garantieren die be ruflichen Schulen in Baden-Württemberg. Deren Lehr kräfte können den Schülerinnen und Schülern durch ihre eigene berufliche Vita, aber auch durch die gut ausgestat teten Theorieräume in Kombination mit Werkstätten, La boren, Küchen, Übungsfirmen und Computerräumen ei ne optimale Lehr- und Lernsituation bieten.

Der HPR BS bedauert deshalb, dass diese Chance einer frühzeitigen beruflichen Integration den Jugendlichen in der Werkrealschule zukünftig verwehrt bleibt.

Hier wird noch einmal deutlich: Die Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen bieten ihre Arbeitskraft und ihre Kom petenz an, um jungen Menschen diese Chance zu eröffnen, doch die grün-rote Landesregierung weist dieses Angebot oh ne Not zurück. Wir Liberalen hätten uns sogar vorstellen kön nen, diese Kooperation für alle vor Ort befindlichen berufli chen Schulen zu öffnen. Dies würde die Angebotspalette der beruflichen Orientierungsmöglichkeiten für die Werkrealschu le erheblich erweitern. Dieser Vorschlag stammt übrigens aus Kreisen des Handwerks. Vielleicht sollte die Landesregierung bisweilen auch denjenigen ein Ohr leihen, die nachher die Ar beitgeber der jungen Menschen sein sollen.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Sehr richtig!)

Auch der Landkreistag sieht das grün-rote Handeln ähnlich kritisch. Grundsätzlich ist gegen die Möglichkeit nichts ein zuwenden, den Hauptschulabschluss auch nach zehn Jahren zu machen. Es gibt sie ja schon jetzt. Problematisch ist nur, dass Sie diese Möglichkeit nun als regulären Weg zum Haupt schulabschluss vorsehen. Das setzt meines Erachtens falsche Anreize für diejenigen, die in der Lage wären, schon in der neunten Klasse den Hauptschulabschluss zu machen.

Ich meine, die Landesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass junge Menschen frühzeitig eine Berufsperspektive für sich entwickeln und möglichst ohne Warteschleifen in Aus bildung und Beruf übergehen.

Der vorliegende Gesetzentwurf sieht 486 Deputate für den Hauptschulabschluss am Ende von Klasse 10 vor. Die Unter richtsversorgung und die Kapazitäten an den beruflichen Schu len zu verbessern wäre hier nach unserer Auffassung wichti ger gewesen.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Richtig!)

Denn die Chancen für junge Menschen stehen und fallen nicht zuletzt auch mit ausreichenden Kapazitäten an den beruflichen Schulen.

Anders, als Sie es sich vielleicht erhofft haben, gehen auch die Kommunen Ihren scheinbaren Vergünstigungen nicht auf den Leim. Denn dass nun einzügige Hauptschulen Werkreal schulen werden können, ist nur scheinbar eine Vergünstigung. Sie haben nämlich etwas Entscheidendes missverstanden: Die vorgegebene Mindestgröße mit zwei Zügen ist doch nicht aus der Luft gegriffen, sondern steht in engem Zusammenhang mit dem qualitativ hochwertigen Angebot der Werkrealschu le vor allem im Bereich der drei Wahlpflichtfächer.

Damit die Werkrealschule auch für kleinere Schulstandorte eine Weiterentwicklungsperspektive darstellt, können sich Standorte zusammenschließen und gemeinsam eine Werkre alschule bilden. Hierzu bemerkt der Gemeindetag – Zitat –:

Auf der Grundlage der bisherigen Vorschriften ist es in vielen Städten und Gemeinden gelungen, tragfähige Schulstandorte zu schaffen. Diese sollten u. E. vom Land nicht ohne zwingende Notwendigkeiten zur Disposition gestellt werden.

Als ersten Schritt weg vom dreigliedrigen Schulsystem hat der Ministerpräsident die Gemeinschaftsschule bezeichnet. Auf diesem Weg ist Ihnen die Werkrealschule im Weg, zumal wenn sie gut funktioniert. Sie berauben sie deshalb ihres Mar kenkerns und versuchen, ihren Qualitätsanforderungen zu Lei be zu rücken. Deshalb ist der Gesetzentwurf eine bittere An gelegenheit vor allem für die Schülerinnen und Schüler, die auf die entsprechenden Berufsperspektiven angewiesen sind. Bitter ist aber auch, dass die kommunalen Landesverbände Ihren Gesetzentwurf allesamt ablehnen. Immerhin sind die Kommunen diejenigen, die als Schulträger mit den Vorgaben des Landes das Schulangebot vor Ort organisieren müssen.

Dass Sie nicht nur das Vertrauen dieser zentralen Verantwor tungsträger in Ihre Bildungspolitik in so kurzer Zeit verspie len konnten, ist schon bemerkenswert. Nehmen Sie sich die

Meinungen der Fachleute und der Verantwortungsträger zu Herzen, und korrigieren Sie Ihren Kurs, der nicht mehr, son dern weniger Bildungschancen mit sich bringen wird.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Für die Landesregie rung erteile ich der Ministerin für Kultus, Jugend und Sport, Frau Warminski-Leitheußer, das Wort.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Da men und Herren!

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Kurz, knapp und inhaltsfrei!)

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf erhalten die Werkreal schulen Rechtssicherheit, was ihre Entwicklung angeht, und wir verhindern drohende Fehlentwicklungen aus unserer Sicht bzw. nehmen Fehlentwicklungen zurück.

Natürlich sieht die Regelung vor, dass sich Werkrealschulen auch zu Gemeinschaftsschulen weiterentwickeln können. Das ist doch überhaupt keine Frage. Das ist aber eben nicht ver pflichtend, sondern wir ermöglichen mit dem Konzept der Ge meinschaftsschule eine Weiterentwicklung. Das ist genau das Gegenteil dessen,

(Zuruf des Abg. Dr. Timm Kern FDP/DVP)

was Sie, Frau Kurtz, gerade gesagt haben.

Es ist zweifellos so, dass wir alle gemeinsam in der Verant wortung stehen, Sorge für ein funktionierendes Schulsystem in Baden-Württemberg zu tragen – so weit d’accord. Wir müs sen uns die Herausforderungen, die wir zu bewältigen haben, genau anschauen. Dazu gehört u. a. der demografische Wan del, und dazu gehört auch das Erfordernis, Schülerinnen und Schüler noch besser individuell zu fördern.

Bei allem Respekt: Da ist doch die Werkrealschule in der bis herigen Konzeption nicht die richtige Antwort gewesen.

(Zurufe von der CDU, u. a.: Doch! – Abg. Dr. Fried rich Bullinger FDP/DVP: Sie verstehen das über haupt nicht!)

Das wollen Sie doch nicht allen Ernstes vortragen. Die Werk realschule war der Versuch – obwohl man es besser weiß –, das dreigliedrige Schulsystem noch ein paar Jahre über die Zeit zu retten.

Was tun wir jetzt? Das wurde gerade verschiedentlich ange sprochen. Wir wollen den Werkrealschulen die Möglichkeit geben, wirklich gut zu arbeiten. Deshalb befreien wir die Werkrealschulen von der verpflichtenden Kooperation mit den Berufsfachschulen. Das macht ganz viel Sinn; denn berufli che Orientierung bemisst sich doch nicht nur daran, ob die Werkrealschulen mit den Berufsfachschulen zusammenarbei ten.

Berufliche Orientierung, die auch wirklich nachhaltig wirkt, muss im Lehrplan ab der Klasse 5 verbindlich verankert sein. Denn es geht doch um viel mehr, als sich nur in der Praxis ei nen Betrieb anzuschauen. Es geht darum, dass die jungen Menschen gleich zu Beginn der weiterführenden Schullauf bahn in ihren Kompetenzen gefördert werden und ein indivi duelles Gefühl dafür entsteht: Was kann ich, was kann ich nicht, und woran habe ich ein besonders großes Interesse? Das ist berufliche Orientierung, und genau deshalb werden wir die Lehrpläne auch überarbeiten.

Zum gemeinsamen Unterricht in Klasse 10: Meine sehr ver ehrten Damen und Herren, Frau Abg. Boser hat es gerade schon angesprochen: Die Zusammensetzung der Schülerschaft verändert sich in der Klasse 10 doch nicht.

(Zuruf der Abg. Sabine Kurtz CDU)

Ich sage gleich etwas dazu. – Natürlich ist es eine Heraus forderung, mit dieser Heterogenität klarzukommen. Das gilt übrigens für alle Schulen. Denn alle Klassen werden immer heterogener. Deshalb brauchen wir mehr Kapazitäten für in dividuelle Förderung.

Zu der Veränderung der Konzeption: Wir haben uns entschlos sen, unter Beibehaltung der Klassenführung eine individuel le Förderung im Klassenverband zu ermöglichen. Dazu braucht man weniger Deputate. Das hat einfach etwas damit zu tun, dass wir uns sehr genau überlegen, an welcher Stelle wir Kapazitäten einsetzen, um gemessen am angestrebten Bil dungserfolg das Maximale zu erreichen.

Wir sind der Auffassung, dass man auch bei gemeinsamer Klassenführung eine entsprechende Förderung abbilden kann. Natürlich braucht man dafür eine ausreichende Fortbildung. Ich glaube, auch da sind wir uns einig. Wir haben für die nächsten beiden Jahre 207 000 € dafür eingestellt. Denn noch viel wichtiger, als immer weitere Lehrerkapazitäten in das Schulsystem hineinzugeben, ist es, den Lehrerinnen und Leh rern das erforderliche Handwerkszeug an die Hand zu geben, damit sie ihre Arbeit auch leisten können. Deshalb ist Lehrer fortbildung so wichtig.

Was das Thema „Wahlfreiheit für die Schulbezirke“ angeht, wiederhole ich das, was ich bereits im Schulausschuss zuge sagt habe: Selbstverständlich werden wir dafür sorgen, dass, wenn man von der Hauptschule zur Werkrealschule wechseln möchte, dies auch möglich ist. Wir rechnen damit – deshalb erfolgt die gesetzliche Veränderung –, dass es in Kürze fak tisch keine Hauptschule mehr geben wird, die sich nicht „Werkrealschule“ nennt, weil wir die Möglichkeit eröffnen, entweder selbst eine zehnte Klasse einzurichten oder eine Ko operation mit einer Werkrealschule, die eine zehnte Klasse führt, einzugehen. Deshalb wird der Wechsel in der Praxis nur ein Randproblem sein. Wir werden im Vollzug dafür sorgen, dass selbstverständlich ein Wechsel möglich ist; denn wir wol len die jungen Menschen in ihrer Entwicklung nicht behin dern.

Lassen Sie mich an dieser Stelle noch einmal zusammenfas send sagen, worum es uns geht: Wir wollen, indem wir dro hende Fehlentwicklungen unterbinden, den Werkrealschulen die Möglichkeit geben, sich weiterzuentwickeln, und zwar ge messen an ihrem individuellen Potenzial. Wir sind gerade

nicht eine Landesregierung, die von oben herab ein Konzept über das ganze Land legt und dieses dann zwangsweise um setzt. Vielmehr geben wir den Schulen, den Schülerinnen und Schülern und den Kommunen vor Ort die Möglichkeit, die Bildungslandschaft gemeinsam zu entwickeln.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Vielen Dank, Frau Mi nisterin. – Mir liegen keine weiteren Wortmeldungen vor.

Wir kommen in der Zweiten Beratung zur A b s t i m m u n g über den Gesetzentwurf der Landesregierung, Drucksache 15/941. Abstimmungsgrundlage ist die Beschluss empfehlung des Ausschusses für Kultus, Jugend und Sport, Drucksache 15/1017. Der Ausschuss schlägt vor, dem Gesetz entwurf unter Einfügung einer Fundstellenangabe im Einlei tungssatz von Artikel 1 zuzustimmen.

(Unruhe)

Ich rufe auf

Artikel 1