Protocol of the Session on December 14, 2011

Ich rufe Punkt 3 der Tagesordnung auf:

Aktuelle Debatte – Den Schwung der Volksabstimmung nützen – eine neue Ära direkter Demokratie für unser Land – beantragt von der Fraktion der SPD

Wiederum gilt: Das Präsidium hat für die Aktuelle Debatte eine Redezeit von 40 Minuten festgelegt. Darauf wird die Re dezeit der Regierung nicht angerechnet. Für die einleitenden Erklärungen der Fraktionen und für die Redner in der zweiten Runde gilt jeweils eine Redezeit von fünf Minuten. Ich bitte die Mitglieder der Landesregierung, sich ebenfalls an den vorgegebenen Redezeitrahmen zu halten.

Zudem verweise ich auf § 60 Abs. 4 der Geschäftsordnung, wonach die Aktuelle Debatte in freier Rede zu führen ist.

Das Wort hat Herr Kollege Stoch für die SPD-Fraktion.

Herr Präsident, meine sehr ver ehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Die SPD-Fraktion hat sich entschieden, für heute nochmals eine Aktuelle Debatte zum Thema Bürgerbeteiligung zu bean tragen, und zwar vor dem Hintergrund der Volksabstimmung, die im Land Baden-Württemberg am 27. November 2011 stattgefunden hat.

Gestatten Sie mir zunächst, dass ich namens der SPD-Land tagsfraktion all denen meinen herzlichen Dank zum Ausdruck bringe, die dafür gesorgt haben, dass diese Volksabstimmung am 27. November 2011 zu einem Thema, das in unserer Ge sellschaft sicherlich umstritten war und ist, ein so großer Er folg wurde. Verglichen mit den Beteiligungen an vorherge henden Volksabstimmungen und mit der Wahlbeteiligung auf Bundesebene, auf Landesebene und auf kommunaler Ebene ist die Beteiligung an dieser Volksabstimmung ein sehr ermu tigendes Signal. Ich bedanke mich bei allen Bürgerinnen und Bürgern, die daran teilgenommen haben, und ich bedanke mich ebenso bei allen, die dazu beigetragen haben, dass sich möglichst viele Menschen an dieser Volksabstimmung be teiligten.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Abg. Karl- Wilhelm Röhm CDU: Und für das Ergebnis können Sie sich auch bedanken!)

Gleichzeitig –

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Wir bedanken uns für das Ergebnis!)

ich denke, da stimmen Sie mir ebenfalls alle zu – ist damit für uns, die SPD-Landtagsfraktion, die wir diese Idee im vergan genen Jahr auf die Agenda gesetzt haben, eine große Hoff nung in Erfüllung gegangen, indem dieses sehr emotional dis kutierte Thema – heute, zweieinhalb Wochen nach der Durch führung der Volksabstimmung, können wir dies sagen – deut lich entemotionalisiert wurde.

Ich bedanke mich auch bei denen, deren Ziel es gewesen war, das Ja zum Ausstieg zu erreichen, dass sie als Demokraten das Ergebnis der Volksabstimmung akzeptiert haben. Ich bin da her sehr zuversichtlich, dass wir dieses Thema auch in Zu kunft in diesem Haus sachlich weiterbehandeln können. Vie len Dank!

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Zuruf von der CDU: Das werden wir sehen!)

Wir wollen heute aber nicht allein über die Volksabstimmung vom 27. November reden, sondern wir wollen über die Frage reden: Was für eine Auswirkung hat diese Volksabstimmung mit ihren ermutigenden Signalen auf die weitere Entwicklung unseres demokratischen Systems in Baden-Württemberg, aber auch über Baden-Württemberg hinaus?

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte etwas voranstellen: In der laufenden Debatte macht sich hin und wie der ein Zungenschlag bemerkbar, der mir nicht gefällt. Wir können zu Recht stolz auf unser repräsentatives demokrati sches System sein, das nach dem Zweiten Weltkrieg gewach sen ist und das uns, wenn wir es im weltweiten Vergleich be trachten, noch immer eine Vorbildfunktion in puncto politi scher Stabilität gibt.

(Vereinzelt Beifall – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Richtig!)

Wir müssen aber auch – ich glaube nicht, dass hier ein Wi derspruch besteht – überprüfen, ob im Hinblick auf diese Sta bilität des parlamentarischen Systems nicht weitere Elemente zur Bereicherung unserer Demokratie möglich sind, die uns helfen können, die Menschen wieder stärker für das zu inter essieren, was in unserem Staat und was in diesem Gemeinwe sen passiert.

Deswegen, meine sehr verehrten Damen und Herren, möchte ich an uns alle, die gewählten Vertreter im Landtag von Baden-Württemberg, den Appell richten, mit dem Thema Volksabstimmung zukünftig offen umzugehen. Wir sollten bei diesem wichtigen Thema ohne Denkverbote in einen inten siven Diskussionsprozess treten, der nicht von Bedingungen gekennzeichnet ist und der auch nicht von Angst geprägt ist, sondern der es uns in unserem Wissen um die Stabilität un seres Systems möglich macht, Elemente der Partizipation, der direkten Demokratie in unsere Verfassung zu bringen.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Wir tun dies nicht ohne Grund. Ich glaube, Sie werden mir in meiner Analyse zustimmen, dass wir in den vergangenen Jahren durchaus eine gewisse Entfremdung des einzelnen Menschen, der Mitglieder unserer Gesellschaft, von dem wahrnehmen können, was als Staat oder als Gemeinwesen definiert wird. Dies kann uns Parlamentariern nicht gefallen. Es kann uns nicht gefallen, wenn der Einzelne nicht mehr das Gefühl hat, er sei Teil eines Gemeinwesens, sondern wenn der Staat als Neutrum, als etwas Abstraktes empfunden wird, zu dem es keine feststellbare Verknüpfung gibt.

(Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Wir von der CDU sind direkt gewählte Volksvertreter!)

Denn der Einzelne muss das Gefühl haben – darauf baut un ser System auf –, dass er Teil dieses Gemeinwesens ist und dass er nicht nur Rechte hat, die er gegenüber diesem abstrak ten Neutrum geltend macht, sondern dass er auch Verpflich tungen hat.

Die Erfahrungen im Umfeld der Volksabstimmung am 27. No vember haben es gezeigt: Manchmal ist es leichter, größere

Akzeptanz für politische Entscheidungen zu finden, wenn wir, die Parlamentarier, das Selbstbewusstsein haben, zu sagen: Der Souverän selbst, das Volk, soll über wichtige Fragen selbst entscheiden können. Das steht für mich nicht im Wi derspruch zu einem starken parlamentarischen System, son dern ist die logische Folge und damit auch ein Ausdruck des Mutes des Parlaments, wenn es darum geht, in die Zukunft zu gehen – und zwar nicht in einem Gegenüber zum Bürger, sondern gemeinsam mit den Bürgern, den Menschen in Ba den-Württemberg.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Deswegen bitte ich alle, die an diesem Prozess mitwirken möchten, dies aktiv zu tun und nicht durch Einflechten von Bedingungen diesen Prozess der offenen Beratung zu be hindern. Daher halte ich es nicht für zielführend, wenn nun beispielsweise vonseiten der CDU-Fraktion vor Kurzem ge sagt wurde: „Wir werden dann in Verhandlungen eintreten, wenn wir sehen, dass sich die Landesregierung bzw. die Regierungskoalition an das Votum des Volkes halten, was die Umsetzung von Stuttgart 21 angeht.“ Sie werden immer ein Argument finden, um zu sagen: „Jetzt warten wir erst einmal ein paar Jahre ab, bis sich dieses oder jenes erwiesen hat.“

(Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Ihr seid auf Be währung! Das ist eine Bewährungschance!)

Wir wollen mit Ihnen gemeinsam hier in diesem Parlament – ich halte die Parlamentarier auch ein Stück weit für die Hüter der Verfassung –, gemeinsam mit allen vier Fraktionen, ein Modell für die Zukunft entwickeln,

(Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Wir auch, aber ihr müsst euch beweisen!)

das es uns möglich macht, auch in Zukunft als selbstbewusste parlamentarische Demokratie den Menschen gegenüberzutre ten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen – Zuruf von der SPD: Richtig!)

Meine sehr geehrten Damen und Herren, in diesem Zusam menhang finde ich es auch nachteilig und negativ, wenn vom Verein „Mehr Demokratie e. V.“, der die Idee einer verstärk ten Bürgerbeteiligung ebenfalls auf seiner Agenda hat, im Nachgang zur Volksabstimmung gesagt wurde: „Diese Volks abstimmung war von vornherein unfair.“ Wir haben eine gel tende Verfassung.

(Abg. Dr. Dietrich Birk CDU: Genau! – Abg. Karl- Wilhelm Röhm CDU: So ist es! – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Das muss man manchen Men schen immer wieder sagen!)

Wir sollten, wenn wir politische Entscheidungen treffen, den Menschen immer klarmachen, dass diese auf der Basis von Recht und Verfassung getroffen werden.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Ja!)

Deswegen halte ich auch den Zungenschlag, der sich beim Verein „Mehr Demokratie e. V.“ eingeschlichen hat, für ver fehlt. Ich glaube, wir reden die Erfahrungen und das Ergeb

nis der Volksabstimmung klein, wenn wir sagen, diese sei von vornherein unfair gewesen.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der CDU)

Deswegen mein abschließender Appell an alle vier Fraktionen in diesem Haus: Lassen Sie uns dieses ermutigende Signal aus der Volkabstimmung als Auftrag verstehen, dass wir uns nicht in ferner Zukunft, sondern bereits mit Beginn des kommen den Jahres gemeinsam in einer Kommission mit der Frage be schäftigen: Wie kann Bürgerbeteiligung, wie kann Beteiligung des Volkes an demokratischen Prozessen in Baden-Württem berg in Zukunft aussehen?

Dass die Kommunen dies längst verstanden haben und dieses Instrument auch sehr erfolgreich praktizieren – ich zeige als Beleg dafür nur einmal das Sonderheft des Gemeindetags zum Thema „Bürgerbeteiligung auf kommunaler Ebene“ –,

(Der Redner hält ein Exemplar der Zeitschrift „Die Gemeinde“ hoch. – Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU: Das ist gut!)

halte ich für sehr ermutigend. Lassen Sie mich ein Beispiel anführen: Die Gemeinde Dischingen, aus der Kollege Hitzler kommt, hat am Tag der Volksabstimmung gleichzeitig eine Bürgerbefragung zu der Frage durchgeführt, ob die Bürger von Dischingen für den Bau von Windkraftanlagen auf der Gemarkung Dischingen sind. Dabei gab es eine hervorragen de Beteiligung, die nach meiner Information über 60 % lag, und eine große Mehrheit der Bürger haben gesagt: Wir wol len das.

Wir müssen lernen, die Menschen frühzeitig in Entscheidun gen einzubinden, um die Akzeptanz für demokratische Ent scheidungen zu erhöhen. Das muss in unser aller Interesse lie gen. Deshalb freue ich mich auf die hoffentlich zielführende Diskussion mit Ihnen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen)

Für die CDU-Fraktion spricht nun Herr Kollege Dr. Scheffold.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Im Jahr 2010 hat eine Studie der Bertelsmann Stiftung ein durchaus bedenkenswertes Ergebnis erbracht: 70 % der Deutschen haben kein Vertrauen mehr in die Politik und in die Wirtschaft.

Vor diesem Hintergrund, Herr Kollege Stoch, ist es natürlich naheliegend, zu sagen: Wir brauchen mehr politische Betei ligung; wir brauchen Selbstbestimmung der Einzelnen; dies ist der Weg aus dieser Vertrauenskrise.

In Baden-Württemberg mag dies allemal zutreffen. Ich darf Sie persönlich, Herr Präsident, mit Ihrer Genehmigung zitie ren:

Dass Baden-Württemberg überhaupt entstehen und sich dann zu einem der leistungsstärksten deutschen Bundes länder entwickeln konnte, haben wir der Volksabstim mung vor 60 Jahren zu verdanken.

Das ist die eine Seite, meine sehr verehrten Damen und Her ren: Eine Volksabstimmung stand am Beginn unseres Bundes lands. Aber auf der anderen Seite stehen natürlich auch die Fakten.