Kollege Müller, Sie haben sehr anschaulich die Verhältnisse dargelegt, wie es nach dem zehnten Schuljahr aussieht.
Wie beurteilen Sie die Tatsache, dass auch die sogenannten Diagnose- und Vergleichsarbeiten nach Klasse 10 bereits im Vorgriff abgeschafft wurden?
Das geht in dieselbe Richtung. Ich spreche von einem Qualitäts-, Leistungs- und Niveauverfall. Da sind sie erstaunlich konsequent. Das ist der falsche Weg.
(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Jawohl! – Abg. Georg Wacker CDU: Sehr gut!)
Frau Präsidentin, liebe Kolle ginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Die Haupt- und Werkrealschulen im Land haben in den vergangenen Jah ren einen massiven Schülerrückgang erfahren. Viele kleine
Gemeinden mussten daher ihre Schulen schließen. Weiteren Gemeinden droht dieses Schicksal. Wir alle wissen so gut wie die Bürgermeister und Gemeinderäte vor Ort, was es bedeu tet, wenn eine Schule geschlossen werden muss: einen großen Schaden für die Standortgemeinde mit Folgen für deren At traktivität für Familien.
und rückwärtsgewandte Bildungspolitik gemacht, die allein dem verbissenen Festhalten am gegliederten Schulsystem ver pflichtet war.
Doch die Entwicklung in der Gesellschaft und in der Schul landschaft, die sogenannte Abstimmung mit den Füßen, kann man nicht aufhalten. Das hat Ihre Bundespartei bereits er kannt, sehr geehrte Damen und Herren von der CDU.
Diesen Prozess konnte auch die damalige überstürzte Einfüh rung einer nur scheinbar neuen Schulart, der neuen Werkreal schule, nicht aufhalten.
Die Konzeption für diese neue Werkrealschule wies von Be ginn an erhebliche Mängel auf. Daher ist es wichtig, dass wir heute endlich die Möglichkeit haben – wir werden sie nutzen –, diese Fehler aktiv anzugehen und zu beheben.
Wir, die Grünen, haben uns immer für wohnortnahe Schul standorte ausgesprochen. Daher ist es uns auch ein besonde res Anliegen, das Werkrealschulkonzept so zu verbessern, dass die künstliche Konkurrenz zwischen Hauptschulen und Werk realschulen aufgebrochen wird.
Mit dem heute vorliegenden Gesetzentwurf bringen wir die notwendigen Verbesserungen auf den Weg, um vielen Schu len im ländlichen Raum eine neue Perspektive zu geben.
Wir werden nicht ausschließen können, dass auch künftig Schulen schließen müssen. Dafür läuft dieser Prozess schon zu lange. Hier zeigt uns die demografische und die gesell schaftliche Entwicklung ganz klar Grenzen auf. Aber wir wer den diese Entwicklung aktiv in der Bildungspolitik angehen und den Schulen im Land zeitgemäße Lösungen mitgeben. Wir geben den Schulen die Möglichkeit, sich an den Entwick lungen in der Schullandschaft zu beteiligen. Der heute vorlie gende Gesetzentwurf zur Werkrealschule ist ein Baustein ei ner sanften, aber umfassenden Reformpolitik.
Was die vorherige Landesregierung in den letzten Jahrzehn ten massiv verschlafen hat, nämlich die Öffnung der Bildungs landschaft und ein deutliches Mehr an Innovation, kann nicht dauerhaft auf dem Rücken von unseren gut funktionierenden Schulen im Land ausgetragen werden.
Im Gegensatz zum Status quo geben wir durch die hier zu be schließende Reform der Werkrealschule, die – nur zur Erin nerung – von CDU und FDP/DVP unter massiver und berech tigter Kritik eingeführt worden ist, den Schülerinnen und Schülern an der Werkrealschule eine echte Perspektive.
Das im Entwurf vorliegende Gesetz ermöglicht mehr wohn ortnahe Schulstandorte, mehr Bildungsabschlüsse und mehr individuelle Förderung. Nicht die Struktur zu erhalten ist das Ziel, sondern ein breites Bildungsangebot vor Ort im Interes se der Schülerinnen und Schüler.
Die Verbesserungen an der Werkrealschule sind ein Baustein im Gesamtkonzept auf dem Weg einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Bildungspolitik, den Grün-Rot hier geht.
Gerade kleine Schulen haben oftmals besonders gute und in novative Modelle, können aber bisher keinen mittleren Bil dungsabschluss anbieten. Wir wollen auch diesen Schulen ei ne Perspektive geben,
eine Perspektive zur Weiterentwicklung ihrer innovativen pä dagogischen Konzepte. Deshalb ist es richtig, dass sich künf tig auch einzügige Schulen zu einer Werkrealschule entwi ckeln können. Diese Maßnahme ist ein Zwischenschritt. Denn die Schulen brauchen Zeit – Zeit, um in weiteren Horizonten zu denken und sich als Standort tragfähig aufzustellen. Denn eines ist klar: Die Haupt- und Werkrealschulen werden sich weiterentwickeln müssen,
Eine größere Bandbreite an Abschlüssen wird der Weg sein, um Schülerinnen und Schüler am Ort zu behalten. Hierfür brauchen die Kommunen Zeit.
Des Weiteren ist uns die berufliche Orientierung wichtig. Das berufspraktische und lebensnahe Lernen sollte ein Kennzei chen des Bildungswegs Werkrealschule sein. Aber auch hier gilt es, verkorkste Regelungen zu korrigieren. Die verpflich tende Kooperation zwischen den Werkrealschulen und den be ruflichen Schulen in Klasse 10 heben wir daher auf. Denn die ses Vorhaben war von unseren Vorgängern absolut nicht durch dacht und hätte eine hohe Belastung für die Schülerinnen und Schüler bedeutet: weite Wege, hohe Kosten und aufgrund des hohen zeitlichen Aufwands eine spürbare Schwächung der Kernkompetenzen in Deutsch und Mathematik. Deshalb ist es richtig, die Kooperationspflicht aufzuheben, die Möglichkeit der Kooperation als zusätzliches Angebot aber prinzipiell of fenzulassen.
Ebenso wichtig erscheint es mir, den Schülerinnen und Schü lern vor Ort die Möglichkeit zu geben, Ausbildungs- und Handwerksbetriebe kennenzulernen, zu sehen, was Betriebe erwarten, aber auch, wie wo gearbeitet wird. Die Betriebe pro fitieren insofern, als sie sich als Ausbildungsbetriebe zeigen.
Über derartige Kooperationen zwischen Schulen und Betrie ben erhalten Schüler die Möglichkeit, konkret in die Arbeit von Ausbildungsbetrieben Einblick zu erhalten und Berufs praxis zu erfahren. Die Ausbildungsbetriebe wiederum kom men mit ihren potenziellen zukünftigen Auszubildenden in Kontakt.
Dies ist unserer Auffassung nach eine sehr gute Alternative, um berufliche Orientierung in der Werkrealschule zu ermög lichen.
Eben, deswegen bauen wir das weiter aus. – Ein weiteres wichtiges Anliegen ist der Wegfall der Notenhürde am Ende der neunten Klasse. Denn wer sich für die Werkrealschule und damit auch für die Möglichkeit entscheidet, den Werkreal schulabschluss zu erwerben, dem soll dieser Weg auch wirk lich offenstehen, und zwar bis zur zehnten Klasse.
Der Weg soll nicht mit Hürden versehen sein, die man an an deren Schularten innerhalb eines Bildungsgangs so nicht vor finden würde.
Wir sehen, wie unterschiedlich und individuell sich Kinder und Jugendliche auf ihrem Bildungsweg entwickeln und dass sich Potenziale zu unterschiedlichen Zeitpunkten zeigen.
Der Notenschnitt allein sagt nichts darüber aus, ob das Poten zial für den Abschluss am Ende vorhanden ist oder nicht. Da her ist es ein fairer und gerechter Schritt, die Notenhürde nach der neunten Klasse abzuschaffen, künstliche selektierende In strumente aus der Werkrealschule zu entfernen und somit je dem Schüler die Möglichkeit zu geben, die zehnte Klasse zu besuchen.
Ein weiteres wichtiges Instrument, das den Jugendlichen er möglicht, den für sie richtigen Weg zu wählen, ist, dass die Informationen über die Möglichkeiten und Chancen an den beruflichen Schulen an die Schüler weitergegeben und ver mittelt werden. Denn wir wissen, dass sich dort das Leistungs potenzial eines Schülers oftmals positiv weiterentwickelt und die Arbeit an den beruflichen Schulen einen wichtigen Bei trag für das offene Schulsystem darstellt. Deshalb wollen wir eine klare Beratung für die Schüler in Klasse 9, damit diese auf einer gesicherten Grundlage über ihren Bildungsweg ent scheiden können.
Meine Damen und Herren, wir alle wissen, dass die Akzep tanz der Haupt- und der Werkrealschulen im Land in den ver gangenen Jahren stark abgenommen hat und das gegliederte Schulwesen nachweislich die soziale Selektion bestärkt. Mit den Regelungen, die der vorliegende Gesetzentwurf enthält, werden wir dies nicht von heute auf morgen beheben können. Aber wir wollen heute erreichen, dass Haupt- und Werkreal schulen eine Chance erhalten, sich innerhalb der veränderten Rahmenbedingungen weiterzuentwickeln.
Wir alle wissen auch, dass die Einführung der Werkrealschu le mit einem Sturmlauf an Kritik der Verbände, Lehrer und Eltern verbunden war. Heute ist aber nicht die Zeit zurückzu blicken, sondern wir blicken nach vorn. Darum werden wir die Werkrealschulen mit ihrem vorhandenen Potenzial wei terentwickeln und unterstützen.