Protocol of the Session on November 23, 2011

Meine Damen und Herren! Ich eröff ne die 19. Sitzung des 15. Landtags von Baden-Württemberg und darf Sie bitten, Ihre Plätze einzunehmen.

Urlaub für heute habe ich nicht erteilt.

Krankgemeldet ist Herr Abg. Lusche.

Aus dienstlichen Gründen hat sich Frau Ministerin Altpeter entschuldigt.

Dienstlich verhindert sind Frau Staatsrätin Erler und Herr Mi nister Friedrich.

Meine Damen und Herren, im E i n g a n g befindet sich das Schreiben des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Okto ber 2011, Az.: 1 BvF 4/11 – Normenkontrollverfahren gegen die Zustimmungsgesetze und -beschlüsse der Länder zum ZDF-Staatsvertrag. Ich schlage vor, das Schreiben des Bun desverfassungsgerichts an den Ständigen Ausschuss zu über weisen. – Es erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so be schlossen.

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Meine Damen und Herren, ich rufe Punkt 1 der Tagesord nung auf:

a) Aktuelle Debatte – Demokratische Offensive gegen

rechtsextremistische Gewalt – auch in Baden-Württem berg – beantragt von der Fraktion GRÜNE

b) Antrag der Fraktion der CDU, der Fraktion GRÜNE,

der Fraktion der SPD und der Fraktion der FDP/DVP – Resolution des Landtags von Baden-Württemberg ge gen rechtsextremistische Gewalt – Drucksache 15/903

(Unruhe)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren, ich bitte Sie um Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.

Wir alle stehen erschüttert unter dem Einfluss einer erschre ckenden Serie von Morden und Anschlägen einer kriminellen neonazistischen Bande. Der erste Tagesordnungspunkt der heutigen Sitzung ist deshalb den dringend notwendigen poli tischen Konsequenzen gewidmet, die daraus zu ziehen sind. Ich bin dankbar, dass uns dazu eine gemeinsame Resolution der Fraktionen vorliegt. Es gibt Momente und Situationen, die Entschlossenheit und Geschlossenheit verlangen.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Es gibt Momente des gebotenen Innehaltens. Dies, liebe Kol leginnen und Kollegen, ist ein solcher Moment. Wir sollten uns daher von unseren Plätzen erheben, innehalten und unser menschliches Mitgefühl bekunden. Die Hinterbliebenen müs sen wissen, dass wir alle an ihrer Seite stehen und alles tun werden, damit der Staat seiner Schutzfunktion wirklich ge recht wird.

(Die Anwesenden erheben sich von ihren Plätzen.)

Ich danke Ihnen.

(Die Anwesenden nehmen ihre Plätze wieder ein.)

Meine Damen und Herren, das Präsidium hat für die Aktuel le Debatte eine Gesamtredezeit von 40 Minuten festgelegt. Darauf wird die Redezeit der Regierung nicht angerechnet. Für die einleitenden Erklärungen der Fraktionen und für die Redner in der zweiten Runde gilt jeweils eine Redezeit von fünf Minuten. Ich bitte die Mitglieder der Landesregierung, sich ebenfalls an den vorgegebenen Redezeitrahmen zu hal ten.

Die Fraktionen sind gestern übereingekommen, angesichts des wichtigen Themas der Aktuellen Debatte den gemeinsamen Antrag Drucksache 15/903 – Resolution des Landtags von Ba den-Württemberg gegen rechtsextremistische Gewalt – ein zubringen und zusammen mit der von der Fraktion GRÜNE beantragten Aktuellen Debatte als Tagesordnungspunkt 1 b zu beraten. Die Tagesordnung wurde bereits entsprechend er gänzt. Die vom Präsidium festgelegte Redezeit schließt auch die Beratung des Antrags Drucksache 15/903 mit ein. – Sie sind damit einverstanden.

Bevor wir in die Aktuelle Debatte eintreten, darf ich auf § 60 Abs. 4 der Geschäftsordnung verweisen, wonach im Rahmen der Aktuellen Debatte die Aussprache in freier Rede zu füh ren ist.

Das Wort erhält Herr Abg. Sckerl.

Herr Präsident, sehr ge ehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Herr Präsident, wir bedanken uns für Ihre einführenden Wor te. Wir sind heute bestürzt darüber, dass nach der Schreckens herrschaft des NS-Regimes rechtsextremistische Mordbanden durch unser Land ziehen und ungehindert Menschen töten können. Es ist beschämend, dass unser Staat diesen Menschen keinen Schutz gewähren konnte. Wir alle wissen, dass viele Fragen aufgeworfen sind und dass in den nächsten Wochen viele Fragen beantwortet werden müssen: von den Sicherheits behörden, von den Landesregierungen, aber auch von uns in

der Politik insgesamt. Diese Ereignisse sind ein tiefer Ein schnitt in unsere noch immer junge demokratische Geschich te und bedürfen der angemessenen Aufarbeitung, aber dann auch entschlossener Reaktionen.

Unsere Gedanken sind heute bei den Opfern dieser Mordta ten und ihren Hinterbliebenen, bei denen, die vor Jahren in unser Land eingewandert sind, hier eine wirtschaftliche Zu kunft und auch Schutz gesucht haben, aber auch bei den An gehörigen von Michèle Kiesewetter sowie bei Martin Arnold und seinen Angehörigen.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich sagen: Die Ver dächtigungen gegen die Opfer, die einst zu uns gekommen sind, dergestalt, sie wären unter Umständen deshalb Opfer ge worden, weil sie selbst Straftäter waren, verwickelt in orga nisierte Kriminalität oder Schutzgelderpressung, sind beschä mend. Wir möchten uns dafür heute bei den Betroffenen ent schuldigen. Diese Menschen – das wissen wir jetzt – wurden ermordet, weil sie genau dem Feindbild entsprachen, das Rechtsextremisten von Menschen nicht deutscher Herkunft haben.

Es gibt viele gesellschaftliche Gruppen in unserem Land, die diesem Feindbild entsprechen und die deshalb unseres beson deren Schutzes bedürfen. Ich denke an Menschen mit Behin derungen, ich denke an Menschen, die in gleichgeschlechtli chen Beziehungen leben, an Schwule und Lesben, und an vie le andere, die in den vergangenen Jahren Opfer von Nachstel lungen oder von Gewalt waren.

Diese Verbrechen, meine Damen und Herren, sind Anschläge auf unsere Grundwerte, auf Freiheit und Demokratie, auf das von uns gewollte und praktizierte friedliche Zusammenleben aller Kulturen. Sie fordern uns extrem heraus, und unsere So lidarität muss in diesen Tagen insbesondere den Betroffenen gehören.

Aber wir brauchen auch die restlose Aufklärung dieser Ver brechen und all ihrer Hintergründe. Wir müssen wissen, wa rum sich ein neonazistisches Terrornetzwerk über viele Jahre hin aufbauen, entwickeln und ungehindert eine Blutspur durch unser Land ziehen konnte. Was ist da passiert, dass Sicher heitsbehörden und Verfassungsschutzämter nicht funktioniert haben?

Wir haben diese drängenden Fragen natürlich auch in BadenWürttemberg. Denn wir müssen wissen – auch die Angehöri gen haben ein Recht darauf, dies zu erfahren –, warum Michèle Kiesewetter von diesen Neonazis ermordet worden ist und wa rum es den Anschlag auf Martin Arnold gab. Die Spekulatio nen schießen derzeit ins Kraut. Die These vom Zufallsmord scheint täglich weiter zu zerbröseln. Ich weiß, dass in diesen Tagen ein hoher Druck auf den Sicherheitsbehörden liegt, und wir hoffen, dass Antworten gefunden werden.

Meine Damen und Herren, für uns ist angesichts dieses The mas der heutige Tag ausdrücklich kein Tag des üblichen par teipolitischen Scharmützels. Es ist ein Tag des Innehaltens; es ist ein Tag der grundsätzlichen Überlegungen. Es ist auch kein Tag der vorschnellen Lösungen. Es ist bedauerlich, dass wir in der Politik immer diesen schnellen Reflex haben: Es pas siert etwas, es ist noch nicht einmal aufgeklärt, aber wir ken nen schon sofort die Lösung. Es heißt dann: Wir brauchen zen trale Verfassungsschutzbehörden, wir brauchen eine zentrale Datei, wir brauchen Vorratsdatenspeicherung, wir brauchen

dieses und jenes, und dann wird alles wieder gut. Diese Si cherheit ist trügerisch, und wir merken, dass all diese schnel len Antworten zu kurz greifen.

Unser Problem – davon bin ich überzeugt – stellt sich anders dar. Wir müssen ernsthaft über Lösungen diskutieren. Dazu gehört auch das Thema NPD-Verbot, das neu beleuchtet wer den muss. Aber wir haben in den letzten Jahrzehnten ein zen trales Problem, nämlich das, dass die rechtsextremistische Be drohung in unserem Land offensichtlich bagatellisiert wurde. Dies, meine Damen und Herren, muss jetzt ein Ende haben. Hier ist ein grundlegendes Umdenken notwendig, und die Si cherheitsbehörden müssen sich natürlich – das gilt aber auch für uns in der Politik – in diesem Zusammenhang die Fragen gefallen lassen: Wurden Gefahren nicht rechtzeitig erkannt? Wurde das Problem des Rechtsextremismus auch hier in Ba den-Württemberg kleingeredet? Wurde es versäumt, rechtzei tig die Weichen gegebenenfalls anders zu stellen?

Wir meinen, die Bekämpfung des Rechtsextremismus und des Rechtsterrorismus ist eine gemeinsame gesellschaftliche Auf gabe aller demokratischen Kräfte. Lassen Sie uns uns dieser Aufgabe gemeinsam stellen. Wir brauchen eine neue, gemein same Offensive für die Demokratie.

In diesem Zusammenhang begrüßen wir die vorgelegte ge meinsame Resolution sehr und bedanken uns bei der CDUFraktion für die Initiative.

Vielen Dank.

(Beifall bei den Grünen und der SPD)

Für die CDU-Fraktion spricht Herr Abg. Winfried Mack.

Herr Präsident, liebe Kollegin nen und Kollegen! Fassungslos und entsetzt, mit großer Ab scheu, stehen wir vor den Untaten einer rechtsextremistischen Mörderbande, die ihre blutige Spur, getrieben von blankem Hass, durch ganz Deutschland gelegt hat.

In Ehrfurcht und Scham verneigen wir uns vor den Ermorde ten. Unsere aufrichtige Anteilnahme gehört den Angehörigen, die jetzt die lange Zeit der Ungewissheit hinter sich haben.

Auch nach Baden-Württemberg führt die blutige Spur der Ter roristen. Am 25. April 2007 wurde Michèle Kiesewetter er schossen. Ihr Kollege wurde lebensgefährlich verletzt.

Wir haben über die genauen Hintergründe dieses feigen Mor des noch keine genauen und gesicherten Erkenntnisse, aber die rechtsterroristischen Gewalttaten, die uns jetzt bekannt ge worden sind, stellen auf jeden Fall eine neue Qualität des Schreckens dar.

Die Ermordeten sind Opfer einer menschenverachtenden Ideo logie, einer Ideologie der Ungleichheit in Form des rechtsex tremistischen Nationalismus, des Sozialdarwinismus, der Volksgemeinschaft im Sinne einer rassistisch-nationalisti schen Konzeption, des Autoritarismus und des Revisionismus.

Extremisten jedweder Ausrichtung – ob rechts, ob links, ob religiös verblendet – müssen wir uns als Demokraten mit al ler Macht entgegenstellen. Unser Staatswesen muss alles tun, um diesem Treiben Einhalt zu gebieten.

(Beifall bei allen Fraktionen)

Unser Staat ist nicht erfolglos bei der Bekämpfung extremis tischer Gewalt. Die Straftaten mit rechtsextremistischem po litischen Hintergrund waren im vergangenen Jahr in BadenWürttemberg rückläufig. Die Zahl der Gewalttaten ist auf dem niedrigsten Stand seit 1996. Auch das Personenpotenzial der Rechtsextremisten geht seit Jahren kontinuierlich zurück. Aber besorgniserregend ist der Anstieg der Zahl der gewalt bereiten Rechtsextremisten, den unser Verfassungsschutz seit einiger Zeit aufzeichnet und wahrnimmt.

Besonders beunruhigend ist das Phänomen der autonomen Nationalisten. Dabei handelt es sich um Rechtsextremisten, die linksextremistische Autonome kopieren: in der Kleidung – sie tragen schwarze Kapuzen, Pullis, Palästinensertücher –, in den Aktionsformen und in der Gewaltbereitschaft.

Hier entsteht eine militante Subkultur, die eine große Anzie hungskraft auf Jugendliche entfalten kann. Zugleich zeigt das Phänomen der autonomen Nationalisten: Wir dürfen bei der Bekämpfung der Extremismen auf keinem Auge blind sein.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der SPD)