Aber auch das gehört zur Wahrheit: Bis in den Sommer ist die Bundesregierung, der Bundesinnenminister, mit der Maßga be nach Brüssel in die Räte gefahren, in diesem Themenbe reich möglichst wenig Kompetenzen an die Europäische Uni on abzugeben.
Wir wissen, dass diese Politik auf Dauer nicht funktionieren kann, sondern dass wir auch hier die Kompetenzen der EU verstärken und ihr auch die erforderlichen Ressourcen und die Möglichkeiten geben müssen. Umgekehrt muss die EU euro päische Beschlüsse auch in den Mitgliedsstaaten umsetzen, wenn wir sie gemeinsam getroffen haben.
Deswegen ist es durchaus ein Beweis für die Handlungsfähig keit der Europäischen Union, dass – zwar nur mit Mehrheit und nicht einstimmig – ein gemeinsamer Beschluss gefasst wurde und dass die Europäische Migrationsagenda auch in Schritten umgesetzt wird – zum Teil gegen die Stimmen eini ger Länder, die sich gleichwohl diesen Beschlüssen beugen müssen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Europäische Mi grationsagenda besteht aus mehreren Vorschlägen. Einer ist der schon mehrfach angesprochene zunächst freiwillige Ver teilmechanismus. Ein weiterer Schritt ist, einen ständigen Ver teilmechanismus in der Europäischen Union zu erreichen. Da zu müssen alle europäischen Mitgliedsstaaten ihre Aufnahme bereitschaft für Flüchtlinge verbessern. Alle europäischen Mitgliedsstaaten müssen das tun, damit ein Verteilmechanis mus tatsächlich irgendwann wirken kann. Die schon genann ten Zahlen bezüglich des freiwilligen Verteilmechanismus stimmen wahrlich skeptisch, was wir da erreichen können.
Nichtsdestotrotz hängt der Beschluss, zu einem ständigen Ver teilmechanismus zu kommen, momentan noch im Europäischen Rat fest. Im Augenblick ist es wohl auch schwierig, da für eine Mehrheit zu finden. Gleichwohl ist es notwendig, dies durchzusetzen.
Deswegen begrüße ich auch, dass wir inzwischen auf der eu ropäischen Ebene eine Betriebsamkeit entwickelt haben. Es hat lange genug gedauert, bis europäische Gipfel, Räte und Sonderräte einberufen wurden. Ich freue mich, dass es jetzt auch in Europa so weit angekommen ist, damit nicht das Ge fühl entsteht: Wenn es um den Euro geht, kann man nächte lang durchverhandeln und größten Druck ausüben, und wenn
es um Menschen geht, halten wir uns alle fein säuberlich zu rück. Das ist kein Arbeitsmodus, der der Europäischen Union gut zu Gesicht stünde.
(Beifall bei den Grünen und der SPD sowie Abgeord neten der CDU und der FDP/DVP – Abg. Dr. Fried rich Bullinger FDP/DVP: Richtig!)
Das Dublin-System ist kollabiert. Dazu hat übrigens Deutsch land mit einen Beitrag geleistet. Das darf man nicht ver schweigen.
Wie gut es funktioniert hat, darüber kann man diskutieren. Fakt ist, dass es nicht mehr funktioniert und wir schnell eine Anschlusslösung brauchen. Wenn wir Lösungen finden, müs sen wir diese in Verwaltungshandeln umsetzen. Denn an vie len Stellen haben wir, was die Flüchtlingskrise angeht, weder ein Erkenntnis- noch ein Gesetzes- bzw. Beschlussdefizit, son dern wir haben nach wie vor in vielen Bereichen ein Umset zungsdefizit.
Deswegen nützt es uns herzlich wenig, wenn wir eine Woche, nachdem wir im Bundesrat ein neues Gesetz verabschiedet haben, vier Tage, nachdem ein neues Asylverfahrensbeschleu nigungsgesetz in Kraft getreten ist, gleich die nächsten Säue durchs Dorf treiben und die nächsten gesetzlichen Verände rungen herbeireden. Politischer und gesetzgeberischer Aktio nismus, der nicht zu einer ordnungsgemäßen Umsetzung durch Verwaltungshandeln führt, beschädigt das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staa tes nur noch weiter.
Deswegen geht es jetzt darum, die Regeln, die wir gefunden haben, gut und vernünftig umzusetzen und nicht permanent neue Regeln zu fordern.
Noch ein Wort zu den Transitzonen: Den ursprünglichen Vor schlag, Transitzonen an den Grenzen einzurichten, um Flücht linge in Haft zu nehmen, lehnen wir ab. Wenn es darum geht, dort erweiterte Erstaufnahmekapazitäten zu schaffen, Verfah ren wie die Registrierung durchzuführen und, wenn möglich, durch verbesserte Aufnahmezentren Entscheidungen zu tref fen, können sie von mir aus Transitzonen heißen. Damit habe ich kein Problem. Denn damit sind wir bei dem, was wir fak tisch bei uns in Heidelberg hinbekommen haben – BadenWürttemberg hat dies als erstes Bundesland hinbekommen –, nämlich ein solches Zentrum zu errichten, in dem wir in ent sprechender Geschwindigkeit handeln können. Aber zu glau ben, wir könnten Grenzzäune oder Grenzgefängnisse errich ten – mitten in Europa, an europäischen Binnengrenzen –, wird unsere Unterstützung nicht finden. Ich hoffe auch nicht, dass die Bundesregierung solcherlei beschließt.
Herr Minister, als Strafvoll zugsbeauftragter höre ich natürlich aus Ihrem Mund sehr un gern, dass Sie hier von Gefängnissen reden, wenn sich jemand registrieren lassen soll und in den sogenannten Transitzonen hinsichtlich seiner Identität erfasst werden muss.
Aber unabhängig davon frage ich Sie: Wie erklären Sie sich eine Mitteilung – vermutlich vom Justizministerium –, aktu ell seien in Baden-Württemberg ca. 7 800 Verfahren an den vier Verwaltungsgerichten anhängig, weil die Betroffenen die Entscheidungen über die Ablehnung ihres Asylbegehrens mit Rechtsmitteln angreifen, und wie erklären Sie sich, dass ge sagt wird: „Wir rechnen bis zum Jahresende mit 12 000 Ver fahren.“? Das widerspricht doch all den Vorhaben, von denen Sie meinen, dass sie zu einer Regelung führen. – Ich rede nicht von den 20 000, die hier geduldet sind und eigentlich zurück geführt werden müssten.
Am Schluss haben Sie doch von den 20 000 gesprochen und danach gefragt. Ich kann Ihnen auch noch etwas zu den Verwaltungsgerichten sagen. Wenn die Zahl der entschiedenen Verfahren beim BAMF Gott sei Dank zunimmt, muss es in einem Rechtsstaat jedem, der ge gen eine Entscheidung klagen will, möglich sein, den Rechts weg zu beschreiten. Dass wir die Verwaltungsgerichtskapazi täten ausbauen müssen und auch bereits ausbauen – Herr Wolf hat ja einige Fehlbehauptungen in die Welt gesetzt, was die Stellen angeht – und sozusagen die Rechtspflege stattfinden muss, das ist völlig unstrittig.
Zur Frage der Rückführung möchte ich Ihnen sagen: Wir ver gleichen dort aus meiner Sicht immer wieder Äpfel mit Bir nen. Wir vergleichen nämlich eine große Zahl von Altfällen – in denen es individuelle Abschiebehindernisse gibt, in denen es beginnende Integration gibt; wir haben gemeinsam mit dem Bund ein Bleiberecht geschaffen, um diesen Menschen zum Teil einen dauerhaften Aufenthalt zu ermöglichen – mit de nen, die jetzt sozusagen in der großen Welle zu uns gekom men sind. Da wissen wir, dass die Verfahrensdauer beim BAMF nach wie vor so ist, dass noch nicht einmal alle Asyl bewerber ihre Anträge abgegeben haben. In dieser Situation nützt uns das Instrument „Sichere Herkunftsstaaten“ nichts, wenn wir seitens der Bundesbehörden nicht einmal alle An träge erfasst haben.
Deswegen: Die Zahl der Verfahren wird zunehmen. Wir – Land, Bund und Europäische Union – werden alle Kapazitä ten gemeinsam ausbauen müssen, um die Vielzahl der Verfah ren entscheiden zu können. Aber Sie wissen auch – das ist ja ständige Arbeit des Petitionsausschusses, der Härtefallkom mission usw. –, dass es eine Vielzahl – ich würde es, obwohl
es juristisch unsauber gesprochen ist, so ausdrücken – von Alt fällen gibt, also von bestehenden Verfahren, bei denen Aus länderinnen und Ausländer ausreisepflichtig sind, deren Ab schiebung aber individuelle und auch rechtstechnisch über prüfte Abschiebehindernisse entgegenstehen.
Meine Damen und Herren, Sie wissen übrigens auch, dass die Zahl der Abschiebungen deutlich zugenommen hat und auch weiter zunehmen wird, auch dadurch, dass wir – just vorletz ten Freitag im Bundesrat beschlossen – auch den Aufenthalt der Menschen ohne Bleibeperspektive in den Erstaufnahme einrichtungen so verlängern wollen, dass eine unmittelbare Rückführung stattfinden kann.
Aber noch einmal: Das Gesetz ist gerade einmal drei Tage in Kraft. Jetzt sollten wir dieses Gesetz, das, was dort vorgese hen ist, die Verfahren, auch umsetzen. Noch ist das, was im Gesetz steht, die gemeinsame politische Vorstellung von dem, wie wir die Verfahren hinbekommen wollen. Jetzt müssen Bund, Länder, Kommunen und übrigens auch Europa an ei nem Strang ziehen, um das ordnungsgemäß umzusetzen, und sollten nicht permanent Debatten über andere Maßnahmen führen.
Meine Damen und Herren, ich möchte noch zwei Punkte zur Europäischen Migrationsagenda erwähnen, weil ich glaube, dass es wichtig ist, sie in ihrer ganzen Bandbreite zu beleuch ten. Ein Thema, das auch dazugehört, ist, dass auch die Flucht ursachen mit in den Blick genommen werden müssen, und zwar über den europäischen Tellerrand hinaus. Kommissions präsident Juncker hat gestern in Straßburg im Parlament sehr richtig gesagt: Wir haben große Zusagen der Mitgliedsstaa ten, wie wir für die Unterstützung der Flüchtlinge insbeson dere in der Nachbarschaft Syriens und für die Türkei Mittel mobilisieren wollen, um den Flüchtlingen dort vor Ort eine bessere Situation, eine bessere Versorgung, Unterstützung und eine Unterbringung zu gewährleisten, damit sie auch im kom menden Winter dort vor Ort bleiben werden.
Bis heute haben viele noch nicht – auch die Bundesrepublik noch nicht – alle Zusagen eingehalten, was diese Unterstüt zungsleistungen angeht. Es ist wirklich beschämend für uns, wenn das Welternährungsprogramm die Nahrungsmittelrati onen in den Flüchtlingscamps halbieren muss und man gleich zeitig die Bilder von vielen Menschen sieht, die hier ankom men. Wenn man das alles sieht, braucht man sich nicht zu wundern, wenn viele Menschen das Risiko einer Flucht ein gehen, wenn die Unterstützung vor Ort nicht greift und nicht funktioniert. Auch das gehört zur Europäischen Migrationsagenda.
Letzter Punkt: Wenn wir uns darüber einig sind, dass wir die Außengrenzen der Europäischen Union besser schützen wol len, gehört denklogisch immer dazu, auch die legalen Migra tionswege in die Europäische Union und auch nach Deutsch land zu stärken. Das sind zwei Seiten ein und derselben Me daille. Auch dies steht übrigens in der Migrationsagenda drin.
Deswegen ist es eine gute Entscheidung gewesen, dass wir bei dem Asylkompromiss entschieden haben: Wenn wir schneller rückführen und wenn wir zusätzliche sichere Her kunftsstaaten ausweisen, dann verbinden wir das auch mit zu sätzlichen Arbeits- und Ausbildungsvisa für die Region des Westbalkans, damit die Menschen, die fälschlicherweise über das Asylrecht versuchen, zu uns zu gelangen, eine andere Per spektive erhalten, weil wir nach wie vor in vielen Bereichen auch ausgebildete Fachkräfte brauchen. Wir arbeiten über die Donauraumstrategie und andere Instrumente mit diesen Län dern zusammen, um Ausbildung und eine legale Zuwande rung in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Deutschland – übrigens auch Baden-Württemberg – ist seit Anbeginn ein Einwanderungsland. Wir haben uns das lange Zeit nicht eingestanden. Wir brauchen endlich auch ein Ein wanderungsgesetz, ein Einwanderungsrecht, das diesen Na men auch verdient, um legale Wege zu ermöglichen.
Deswegen bin ich froh, dass die Migrationsagenda genau die sen Punkt mit enthält. Wir werden eine Neufassung der soge nannten Blue-Card-Richtlinie erhalten. Wir werden auch un sere Regeln, was z. B. das Thema Mangelberufsliste angeht, überarbeiten müssen, weil in vielen Ländern dieser Welt eben kein dualer Abschluss in dieser Form möglich ist, aber sehr wohl qualifizierte Abschlüsse erworben werden, sodass wir auch Menschen zu uns holen können und sie hier weiterqua lifizieren können. Das Berufsanerkennungsgesetz haben wir schon beschlossen. Dann können wir tatsächlich eine gelin gende Zuwanderung und auch Integration der Flüchtlinge und Migranten gewährleisten. Denn das ist das Nächste, was auf uns zukommt.
Meine Damen und Herren, der große Handlungsdruck ermög licht jetzt europäische Lösungen für eine europäische Heraus forderung. Wir sollten diese Möglichkeit nutzen und nicht na tionale Alleingänge auf Kosten europäischer Gemeinsamkei ten weiter vorantreiben.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses für Europa und Internationales, Drucksache 15/7562. Der Ausschuss schlägt Ihnen vor, von der Mitteilung Kenntnis zu nehmen. – Sie stimmen zu.
Zweite Beratung des Gesetzentwurfs der Landesregierung – Gesetz zur Änderung des Landesgemeindeverkehrsfi nanzierungsgesetzes – Drucksache 15/7416
Meine Damen und Herren, das Präsidium hat für die Allge meine Aussprache eine Redezeit von fünf Minuten je Frakti on festgelegt, wobei gestaffelte Redezeiten gelten.