Protocol of the Session on November 13, 2014

Wir haben Erstaunliches erreicht. Mit enormer finanzieller und personeller Unterstützung aus den alten Bundesländern ist in Ostdeutschland ein nationales Aufbauwerk entstanden. In der DDR hieß das mal NAW und bestand am Ende nur noch aus unbezahlter Arbeit für den Bezug einer Plattenbauwoh nung. „Ruinen schaffen ohne Waffen“, lautete die sarkastische Beschreibung des Städteverfalls.

(Heiterkeit)

Mit dem Aufbau Ost sind zum Glück ganze Stadtquartiere dem Tod von der Schippe gesprungen.

Obwohl es noch immer Defizite und Probleme gibt und etli che es nicht wahrhaben wollen, hat sich längst ein zweites Wirtschaftswunder angebahnt, hat sich die Erkenntnis verbrei tet, dass es in Deutschland auch weitere Regionen gibt, die vieles können außer Hochdeutsch.

(Heiterkeit)

Vielleicht erklärt sich die ostdeutsche Skepsis mit der Eigen art, den Erfolg oder Gelungenes mit dem Spruch „Da kanns te nich meckern“ zu kommentieren – ein übrigens weit ver breitetes Phänomen. Eine kürzlich erfolgte internationale Um frage hat ausgewiesen, dass Deutschland mittlerweile das be liebteste Land der Welt ist. Aber wir suchen immer noch das Haar in der deutschen Suppe. Und wenn wir keines finden, schütteln wir so lange den Kopf, bis eines hineinfällt.

(Heiterkeit und Beifall)

Vielleicht liegt es aber auch an der diffusen Zielbeschreibung von der Vollendung der inneren Einheit; denn das klingt wie Novalis’ Suche nach der blauen Blume der Romantik. Die Ein heit existiert doch. Die viel zitierte Mauer in den Köpfen ist oft nur das Brett davor. Anstatt ständig unsere Einheit zu su chen und zu beschwören, sollten wir lieber unsere Freiheit in Vielfalt feiern. Oder salopp gesagt: Dort, wo früher nur Schrippen im Angebot waren, sind heute auch Wecken gefragt

(Heiterkeit und Beifall)

und tun wir gut daran, unsere kulturelle Vielfalt nicht im klein karierten Ost-West-Streit zu versemmeln.

(Heiterkeit und Beifall)

Ich kann nicht bestätigen, dass wir Ostdeutschen vom Para dies träumten und in Nordrhein-Westfalen aufwachten.

(Heiterkeit und vereinzelt Beifall)

Das wäre im Übrigen keine schlechte Gegend gewesen, um auf den Boden der Tatsachen zu kommen. Heute erinnert der Zustand der Infrastruktur dort mancherorts eher an die DDR, hat der Verlegenheitsbegriff der neuen Länder einen anschau lichen Sinn bekommen, und der Soli sollte – falls wir ihn be halten – künftig nach regionaler Bedürftigkeit vergeben wer den.

(Vereinzelt Beifall)

Aus der Geschichte zu lernen heißt heute, den Mut und die Kraft aufzubringen, da, wo Diktatur, Unterdrückung und Will kür herrschen, den Beherrschten zu helfen, Mauern einzurei

ßen, damit Menschen in Frieden und Freiheit leben können, und in Europa dafür zu sorgen, dass bis hin zur Ostukraine keine neue Mauern entstehen.

Uns droht kein kalter Krieg – eher ein Kältekrieg, wenn man Putins Strategie „Was ist die NATO-Osterweiterung gegen die Westausdehnung von Gazprom?“ begreift. Deswegen brau chen wir dringend eine europäische Energiepolitik, die uns aus Abhängigkeitszwängen befreit und auf alternative Ener gien und rationelle Energieanwendung setzt.

Wir haben schmerzhafte Erfahrungen mit Flucht und Vertrei bung, haben Millionen Vertriebene aufgenommen, haben Zei ten erlebt, in denen Schleuser und Schlepper noch Fluchthel fer hießen. Angesichts der abscheulichen Brutalität, mit der Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden, ist es eine Sa che der Barmherzigkeit und Nächstenliebe, noch mehr Flücht linge in Deutschland aufzunehmen

(Beifall)

und zudem für eine bessere und angemessene Verteilung in der EU und künftigen Beitrittsländern zu sorgen.

Aber was ist das für eine heldenhafte Tat, pseudohumanitäre Begründung und makabre Geschichtsverdrehung, wenn man die Kreuze von Mauertoten entwendet, um sie an den Außen grenzen der EU aufzustellen? Bei allem Verständnis für Pro test zum Umgang mit Flüchtlingen: Die Grenzpolizei der EU hat keinen Schieß-, sondern einen Hilfsbefehl.

(Beifall)

Kants Traum vom ewigen Frieden hat sich mit dem Mauer fall – trotz aller Hoffnungen, tatsächlicher Möglichkeiten und Vereinbarungen – nicht erfüllt; im Gegenteil. Die Generation des „Nach-Mauer-Falls“ stößt heute auf neue Probleme und Herausforderungen. Die Welt scheint mit unfassbarem Terror, neuen Kriegen und Seuchen aus den Fugen zu geraten.

Bald feiern wir 25 Jahre deutsche Einheit. In dieser Zeit ha ben wir uns stärker und schneller in Richtung europäische Zu kunft bewegt, als wir das im Alltag spüren. Jetzt muss sich der Zusammenhalt der Nation im europäischen Kontext bewäh ren, geht es um größere Verantwortung in der Welt. Darum müssen wir die großen Erzählungen wachhalten und einen tragfähigen Gesellschaftsentwurf entwickeln. Denn unsere deutsch-deutsche Erfahrung, dass die Teilung durch Teilen überwunden werden konnte, hat eine europäische, eine glo bale Dimension bekommen.

Ich danke Ihnen.

(Anhaltender Beifall – Die Anwesenden erheben sich von Ihren Plätzen. – Ministerpräsident Winfried Kretschmann umarmt den Redner.)

(Mahela Reichstatt spielt das Intro zum Lied „Frei heit“ von Marius Müller-Westernhagen, arr. Christi an Steinhäuser.)

(Beifall)

Meine Damen und Herren, das Pro tokoll hätte es nicht mehr vorgesehen, aber ich möchte nicht zum gemütlichen Teil überleiten, ohne Ihnen, verehrter Herr

Schulz, namens der Damen und Herren, der Mitglieder des Landtags von Baden-Württemberg für diese bewegende Re de von ganzem Herzen zu danken.

(Beifall)

Es war ein folgerichtiger Entschluss, gerade Sie zu dieser Fei erstunde heute einzuladen. Sie haben in Ehrlichkeit und Of fenheit aus Ihrer Betroffenheit die Entwicklung schnörkellos angesprochen und uns als politisch Verantwortlichen viel an Verantwortung mit auf den Weg gegeben. Dafür sage ich herz lichen Dank.

(Beifall)

Herzlichen Dank Ihnen und Ihrer Gattin für den Besuch.

Meine Damen und Herren, es besteht jetzt die Gelegenheit, ganz persönlich mit Herrn Schulz ins Gespräch zu kommen. Dazu darf ich Sie herzlich einladen. Ich freue mich und dan ke Ihnen, dass Sie gekommen sind.

Herzlichen Dank.

(Beifall)

(Unterbrechung der Sitzung: 10:54 Uhr)

(Wiederaufnahme der Sitzung: 12:01 Uhr)

Meine Damen und Her ren! Die unterbrochene 112. Sitzung des 15. Landtags von Ba den-Württemberg wird fortgesetzt.

Urlaub für heute habe ich Herrn Abg. Karl-Wolfgang Jägel und Herrn Abg. Peter Schneider erteilt.

Krankgemeldet sind Herr Abg. Wilhelm Halder und Herr Abg. Alexander Schoch.

Aus dienstlichen Gründen entschuldigt haben sich Frau Staats rätin Gisela Erler und ab 12:30 Uhr Frau Ministerin Katrin Altpeter.

Wir treten in die Tagesordnung ein.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Aktuelle Debatte – Die Grünen und ihr moralischer An spruch – gilt der nur für andere? – beantragt von der Fraktion der FDP/DVP

Meine Damen und Herren, das Präsidium hat für die Aktuel le Debatte eine Gesamtredezeit von 40 Minuten festgelegt. Darauf wird die Redezeit der Regierung nicht angerechnet. Für die einleitenden Erklärungen der Fraktionen und für die Rednerinnen und Redner in der zweiten Runde gilt jeweils ei ne Redezeit von fünf Minuten. Ich darf die Mitglieder der Landesregierung bitten, sich ebenfalls an den vorgegebenen Redezeitrahmen zu halten.

Schließlich darf ich auf § 60 Absatz 4 der Geschäftsordnung verweisen, wonach im Rahmen der Aktuellen Debatte die Aussprache in freier Rede zu führen ist.

Für die FDP/DVP-Fraktion erteile ich Herrn Abg. Dr. Goll das Wort.

Frau Präsidentin, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kolle gen! Wir haben in diesem Raum eine bewegende Feierstunde erlebt.