Aus diesem Grund bitte ich Sie, unserem Änderungsantrag zuzustimmen. In diesem Antrag bedauern wir aus heutiger Sicht die frühere Sichtweise in Gesellschaft und Staat, begrü ßen die wissenschaftliche Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung und verurteilen gleichzeitig die auch heute noch existierende Verfolgung und Diskriminierung in vielen Län dern der Welt.
Lassen Sie mich abschließend mit einer grundsätzlichen ver fassungspolitischen Überlegung erläutern, weshalb wir einen eigenen Antrag gestellt haben.
Wenn in einer rechtsstaatlichen parlamentarischen Demokra tie Gesetze bestehen oder nicht geändert werden, die formell und materiell verfassungsgemäß geschaffen wurden oder wei tergelten, dann können unseres Erachtens spätere Parlamente gegenüber früheren Parlamenten keine Schuldvorwürfe erhe ben. Recht unterliegt dem gesellschaftlichen Wandel – und übrigens auch umgekehrt: Recht kann auch einen Auffas sungswandel bewirken.
Die Vorstellung, dass ein späterer Gesetzgeber sich moralisch über seine Vorgänger erheben kann, relativiert jede Gesetzge bung. Es wird in zehn, 20 oder 30 Jahren ebenfalls Gesetzge bungsakte geben, die unsere heutigen Entscheidungen korri gieren. Es wäre aber falsch, dann uns gegenüber Vorwürfe zu erheben, weil wir unseren Überzeugungen entsprechend ge handelt haben.
Daraus dürfen Sie auch gern ableiten, dass wir uns bei jedem Vorstoß vergleichbarer Art gleichermaßen ablehnend verhal ten würden.
Unsere Position ist also nicht von unserer Einstellung zu For mulierungen des früheren § 175 bestimmt – die Korrektur er folgte, wie ich bereits gesagt habe, auch mit unserer Beteili gung schon vor 45 Jahren –, sondern von einem grundsätzlich anderen Verfassungs- und Parlamentsverständnis. Genau aus diesem Grund lehnen wir Ihren Antrag ab.
Herr Präsident, verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! 50 000 Männer wurden im Nationalsozialismus wegen homosexueller Hand lungen verurteilt.
Über 10 000 Männer wurden aufgrund des § 175 des Strafge setzbuchs in Konzentrationslager eingewiesen; die Mehrheit überlebte das nicht. Wir sind uns alle einig, dass diese Verur teilungen falsch, grausam und menschenverachtend waren.
Doch auch nach dem Ende des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik Deutschland wurden bis 1969 allein in Ba den-Württemberg über 5 000 Urteile wegen homosexueller Handlungen gefällt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hof fe sehr, dass wir uns auch hier einig sind: Auch diese Verur teilungen waren falsch, sie waren menschenverachtend.
Dass § 175 in seiner Fassung aus der nationalsozialistischen Zeit – das ist der Unterschied zu Ihnen, zu der CDU; es geht um die Verschärfung des Paragrafen von 1935; es geht nicht um eine Relativierung;
dieser Paragraf bestand 120 Jahre; es geht um die Fassung, die von 1935 bis 1969 Geltung hatte – unverändert fortbe stand, ist beschämend, verehrte Kolleginnen und Kollegen.
Homosexuelle Männer wurden dadurch ihrer Freiheit, der Möglichkeit ihrer individuellen Lebensgestaltung und ihrer Menschenwürde beraubt. Eine ganze Generation von Män nern musste sich, nur weil sie Männer liebte, ständig verste cken, konnte sich nicht in der Öffentlichkeit, sondern nur in Hinterzimmern treffen, musste andauernd Razzien in einschlä gigen Gaststätten fürchten und lebte in einer ständigen Angst vor Verfolgung. Dass dies in der Bundesrepublik, dass dies in
Baden-Württemberg – darum geht es heute – auf einer recht lichen Grundlage geschah, die in ihrer Form von den Natio nalsozialisten 1935 geschaffen wurde, hat viele gebrochen.
Ich begrüße, dass der Bundesrat 2012 mit seiner Entschlie ßung ein wichtiges Zeichen auf Bundesebene gesetzt hat, um homosexuelle Männer zu rehabilitieren und sein Bedauern über diese Urteile auszusprechen. Doch über 5 000 verurteil te Männer in Baden-Württemberg sind Grund genug, dass auch wir, der Landtag von Baden-Württemberg, uns zu unse rer Geschichte bekennen, unsere Solidarität mit den Verurteil ten bekunden und sie unterstützen.
Die Männer, die von § 175 betroffen waren und darunter zu leiden hatten, haben bisher vergeblich auf Anerkennung und Rehabilitation gewartet. Wir haben heute die Aufgabe, unser Bedauern dafür kundzutun, dass der § 175 in der verschärften Form bis 1969 in Kraft blieb,
uns als Landtag für die strafrechtliche Verfolgung Homose xueller zu entschuldigen und unsere Unterstützung aller Ini tiativen auszusprechen, die für eine historische Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer sor gen.
Wir müssen alles dafür tun, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Ehre der Opfer wiederherzustellen und ihnen bei der Be wältigung dieser traumatischen Erlebnisse zur Seite zu ste hen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ein solcher Anlass und eine solche Aussprache sollten eigentlich keine Frage der Fraktionszugehörigkeit sein. Ich bedaure daher sehr, dass es nicht zu einem gemeinsamen Antrag aller Landtagsfraktionen gekommen ist, so, wie es 2012 in Hessen gelang.
Wir hätten uns gefreut, wenn hier und heute ein kraftvolles, weil einmütiges Signal an die Opfer von damals ausgegangen wäre, das lautet: „Ihr seid keine Verbrecher. Es war Unrecht, was euch angetan wurde. Für dieses Unrecht entschuldigen wir uns.“
An die CDU gewandt, möchte ich gern Ihren Parteikollegen aus Hessen zitieren. Er hat bei der Landtagsdebatte damals gesagt:
Die direkte Entschuldigung eines Gesetzgebers ist die un mittelbarste Form, wie er sein Bedauern gegenüber den
Opfern gesetzlichen Unrechts ausdrücken kann. Dass der Landtag dies heute beschließen möchte, ist daher das bes te Zeichen, das er setzen kann.
Sehr geehrter Herr Prä sident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit dem heutigen Be schlussantrag setzen wir vonseiten des Landtags ein wichti ges Zeichen zu einer gesellschaftlichen Realität und zum Um gang mit unserer eigenen Geschichte. Die gesellschaftliche Realität hat sich in den vergangenen Jahren verändert und ge öffnet. Der Staat hat seinen Anteil daran, dass das Thema Ho mosexualität heute kein Skandal mehr ist.
Es gibt gute Beispiele von Institutionen, die dazu beigetragen haben. Ich erwähne hier die Bundesstiftung Magnus Hirsch feld, die von der CDU/CSU-FDP-Bundesregierung ins Leben gerufen wurde und die einen wichtigen Bestandteil bei der Er forschung und historischen Aufbereitung darstellt. Die Lan desregierung gibt sich in dieser Richtung Mühe, aber die Schwierigkeiten um die finanzielle Absicherung des „Hotels Silber“ oder die ungeschickte Diskussion über dieses Thema im neuen Bildungsplan zeigen, dass eine gute Absicht nicht alles ist.
Wichtig für uns, die liberale Landtagsfraktion, ist, dass es die Aufgabe der Gesellschaft bleibt, Toleranz im Alltag umzuset zen.
Dabei geht es um die Akzeptanz unterschiedlicher Lebensent würfe. Die Frage der sexuellen Orientierung steht in diesem Zusammenhang. Gesellschaftliche Ausgrenzungen haben auch immer etwas mit Ängsten und Vorurteilen zu tun. Wohlstand und Bildung schaffen die beste Grundlage, diese abzubauen. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass eine offene Gesell schaft weltweit noch nicht überall Realität ist. In über 50 Län dern wird Homosexualität heute noch strafrechtlich verfolgt. Den Blick sollten wir nicht nur auf unsere Vergangenheit, son dern auch auf die Gegenwart jenseits unserer Grenzen rich ten.
Die Geschichte des § 175 in Deutschland zeigt die Wechsel wirkung von Staat und Gesellschaft. Die strafrechtliche Ver folgung von männlicher Homosexualität ist ein Bestandteil unserer Geschichte. Die menschenverachtende Haltung, die die Nationalsozialisten dabei an den Tag legten, ist sicherlich die dunkelste Phase in der Geschichte dieses Paragrafen. Die strafrechtliche Verfolgung fand jedoch auch davor statt und wurde in der Nachkriegszeit fortgeführt. Ich rufe ausdrück lich dazu auf, die Strafverfolgung der Nationalsozialisten nicht mit der in der Nachkriegszeit gleichzusetzen.
Mit der Ende der Sechzigerjahre erfolgten Abschaffung des § 175 in der Bundesrepublik setzte der Staat ein wichtiges Si gnal vor dem Hintergrund der geänderten Sexualmoral und entschärfte diesen Teil des Strafgesetzes, der als sogenannter Erpressungsparagraf berüchtigt war.