Protocol of the Session on June 4, 2014

Herr Gröhe wird natürlich zu diesem neuen Pflegestärkungs gesetz gefragt, und er verlautbart in sämtlichen Broschüren: „Pflegetätigkeit muss von unnötiger Bürokratie entlastet wer den, und Pflege braucht Zeit.“ Das ist in der Tat völlig rich tig. Aber was sagt er denn anschließend? Was sagt er denn zu dem bestehenden Fachkräftemangel, und was sagt er denn zu der unglaublichen Arbeitsverdichtung der Pflegekräfte z. B. in der Akutversorgung? Da bleibt er wirklich sämtliche Ant worten schuldig.

Beide Vorredner haben die Unterschriftenliste angesprochen, die hier vor zwei Wochen von den Sozialstationen Baden-Würt tembergs im Rahmen der Kampagne „Die häusliche Pflege hat Wert!“ übergeben worden ist.

(Zuruf des Abg. Helmut Walter Rüeck CDU)

Die Pflegekräfte sind doch längst mit ihrer Geduld am Ende. Die haben doch keine Lust mehr, sich ständig damit vertrös ten zu lassen, dass natürlich bei jeder politischen Rede pro klamiert wird: „Pflege hat ihren Wert, selbstverständlich, lie be Pflegekräfte“, aber letztendlich nicht die Konsequenz ge zogen wird, die Situation der Pflegekräfte deutlich zu verbes

sern. Dieser Schritt wird nach wie vor nicht getan, und das ist ein Skandal.

(Beifall bei den Grünen)

Wir brauchen eine viel bessere Bezahlung und bessere Ar beitsbedingungen im Pflegesektor. Wir brauchen vor allem in der häuslichen Krankenpflege – das ist uns eigentlich allen überfraktionell hier im Land Baden-Württemberg sehr klar – eine deutliche strukturelle Veränderung, damit die häusliche Krankenpflege diese notwendige, unverzichtbare Arbeit im Gesundheitswesen, in der Gesundheitsversorgung – vor allem in der Fläche – leisten kann. Dazu braucht es deutlich mehr als die Maßnahmen, die jetzt vorgeschlagen worden sind.

(Beifall bei den Grünen)

Die Pflegekräfte brauchen Signale, dass ihre Arbeit nicht nur wertgeschätzt wird, sondern dass die Politik auch bereit ist, zu handeln. Das heißt, wir müssen die Arbeitsbedingungen deutlich verändern. Das geht zum einen mit der Verringerung des Pflegeschlüssels. Aber das ist wirklich nur ein sehr gerin ger Schritt, denn es besteht ein Fachkräftemangel. Wir müs sen die Arbeitsbedingungen insgesamt deutlich verändern, wenn wir überhaupt Anreize schaffen wollen, dass junge Men schen auch tatsächlich den Pflegeberuf erlernen.

Das Zweite ist, dass es nicht gelungen ist, die Initiative um zusetzen, die auch Grüne und SPD vor der Wahl gestartet ha ben, um in dem Bereich der Akutversorgung die Mindestper sonalbemessung zu verankern. Auch das ist nicht geschehen.

(Abg. Helmut Walter Rüeck CDU: Hat die SPD über haupt etwas durchgesetzt?)

Die Entwicklung, dass Krankenhäuser ihre Defizite teilweise kompensieren, indem Personal abgebaut wird, muss gestoppt werden, damit die Arbeitsverdichtung, die für die Pflege in den Krankenhäusern unerträglich ist, verringert wird. Genau das passiert nicht. Auch das wäre ein sehr wichtiges, ein un verzichtbares Signal an den Pflegesektor gewesen:

(Beifall bei den Grünen)

Wir nehmen die Pflegekräfte ernst, wir nehmen auch ihre Sor gen ernst, und wir sind auch bereit, tatsächlich insgesamt et was zu tun.

Zu einem weiteren Punkt, der mir sehr wichtig ist: Es gibt die Empfehlung des Wissenschaftsrats. Wir sprechen immer da von, dass wir den Pflegeberuf attraktiver machen müssen. Das heißt auch, dass wir dafür sorgen müssen, dass z. B. die Pfle ge eine andere Bedeutung bekommt, dass auch das Berufsfeld der Pflege sich erweitert. Die Akademisierung der Pflege ist ein großes Thema. Es gibt auf Bundesebene die Modellklau sel, die bis 2017 gilt. Dazu wird überhaupt nichts gesagt. Die Länder, die diese Modellversuche längst gestartet haben, brau chen deutliche Signale von der Bundesebene: Was passiert denn mit dieser Modellklausel? Wird diese verlängert? Kön nen diese Studienplätze weiterhin angeboten werden? Kön nen andere Länder dazu animiert werden, diese Studiengän ge ebenfalls einzurichten? Das wäre enorm wichtig, um auch in diesem Bereich Initiativen zu starten, die wirklich innova tiv sind.

(Beifall bei den Grünen)

Und ein Letztes: Es gelingt nach wie vor nicht – meine bei den Vorredner haben das ja auch deutlich zugeben müssen –, den Pflegebedürftigkeitsbegriff endlich so zu definieren, dass er auch den Anforderungen der pflegebedürftigen Menschen entspricht.

(Beifall bei den Grünen)

Da wird jetzt wieder von Modellversuchen gesprochen. Es hat in den letzten zehn Jahren hunderttausend Modellversuche ge geben. Das ist doch alles längst passiert. Es gibt Definitionen, auf die sich alle Fachleute längst geeinigt haben. Aber dieser Schritt, das in politisches Handeln umzusetzen, wird nicht ge tan. Das wird wieder auf die lange Bank geschoben, und es wird wieder bis 2017 hinausgezögert.

Das Fazit ist für mich: Der Berg kreißte und gebar eine Maus. Der wirklich innovative Schritt ist nicht getan. Um wirklich innovativ zu sein, um den großen, mutigen Schritt zu machen, braucht es Grüne.

(Beifall bei den Grünen)

Für die Fraktion der FDP/DVP spricht der Kollege Haußmann.

Sehr geehrter Herr Prä sident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine sehr geehrten Damen und Herren! Ein herzliches Willkommen richtet sich insbesondere an die junge Generation, die hoffentlich eine solch euphorische Schaffenskraft entwickeln wird, dass sie unserer Generation eine gute Pflege finanzieren kann. Denn ich glaube, das ist das Wichtigste, worauf es in Zukunft hin auslaufen wird.

Man konnte sich schon ein wenig die Augen reiben, als man das Thema dieser Aktuellen Debatte, die von der SPD bean tragt wurde, gelesen hat. Ich sage das nicht, weil das Thema Pflege kein wichtiges Thema wäre. Ich glaube, es ist über al le Fraktionen durch den gemeinsamen Antrag zur Einsetzung der Enquetekommission „Pflege“ deutlich geworden, dass dies ein wichtiges Thema ist; auch im Landtag von Baden-Würt temberg haben wir das Thema mehrfach, auch von unserer Seite aus, in Anträgen behandelt. Wenn aber die SPD-Frakti on sozusagen diesen ersten Schritt des CDU-Bundesgesund heitsministers zum Anlass nimmt, ein Bundesthema zum Ge genstand einer Aktuellen Debatte hier zu machen, ist das schon bemerkenswert.

Ich erinnere mich noch an die vor Kurzem lebhaft geführte Aktuelle Debatte über die Entscheidung der Besetzung der Stellen der Polizeipräsidenten. Da hat doch Ihr Innenminister Gall viele Themenvorschläge für Debatten, die man stattdes sen hätte führen können, gemacht.

(Heiterkeit der Abg. Friedlinde Gurr-Hirsch CDU)

Ich schlage Ihnen einfach vor, das Protokoll hierüber noch ein mal herauszuziehen. Wenn Sie das tun, haben Sie mit Sicher heit vier, fünf Themenvorschläge, die Sie in Zukunft für Ak tuelle Debatten verwenden können.

(Beifall bei Abgeordneten der FDP/DVP und der CDU)

Aber offensichtlich gibt es Zeiten, in denen die Happy-HourStimmung im Bund bei Weitem die Leistungen im Land über trifft.

In der Apostelgeschichte wird auch von einem Pfingstwunder gesprochen, aber dieses erste Pflegestärkungsgesetz ist sicher lich nicht das große Pfingstwunder, sondern eher ein einfacher Wurf. Man erhöht jetzt den Beitragssatz um 0,3 Prozentpunk te und verteilt das Zusatzaufkommen – Kollegin Mielich hat es angesprochen – auf alle Leistungsbereiche. Es gibt Berei che, die sicherlich richtig und sinnvoll sind – das wollen wir gar nicht abstreiten –, aber ein großer Wurf wäre gewesen, man hätte einmal das Thema Entbürokratisierung in Angriff genommen. Fehlanzeige!

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Ein großer Wurf wäre die Neudefinition des Pflegebedürftig keitsbegriffs gewesen. Dabei will ich gar nicht bestreiten, dass das ein schwieriger Punkt ist. Ich kann dem Bundesgesund heitsminister Gröhe nur empfehlen, das sofort anzugehen, um es in dieser Legislaturperiode überhaupt noch umsetzen zu können.

(Abg. Bärbl Mielich GRÜNE: Das will er ja gar nicht!)

Denn wenn man das nicht schnell angeht, dann ist es ausge schlossen, das überhaupt noch in dieser Legislaturperiode um zusetzen. Fehlanzeige!

Kollege Hinderer hat den „Pflege-Bahr“ kritisiert. Ich will da rauf gern noch einmal eingehen. Diese private Vorsorge im Bereich der Pflege – genannt „Pflege-Bahr“ – ist auch ein ers ter kleiner Schritt, der, glaube ich, Signalwirkung hat und zum Ausdruck bringt, dass die Pflege nicht auf Dauer über ein Um lagesystem finanzierbar sein wird. Deswegen ist es wichtig, die Menschen zu motivieren und sie durch staatliche Unter stützung zu veranlassen, auch selbst vorzusorgen, weil das Umlagesystem – hierbei schaue ich jetzt die junge Generati on an – nicht zukunftsfähig sein wird. Diesen Schritt haben Sie in dem Pflegestärkungsgesetz völlig ausgeblendet.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Ich will das anhand eines Beispiels einmal verdeutlichen. Die ser Vorsorgefonds, der jetzt geschaffen wird, wird ein Volu men von 1,2 Milliarden € erbringen und soll dann ab 2035 die Kosten für die Pflege refinanzieren. Diesen 1,2 Milliarden € stehen über 70 Millionen Menschen gegenüber. Die private Pflegeversicherung hat etwa neun Millionen Versicherte. Nach ihrer gesetzlichen Auflage sorgt sie jedes Jahr im Umfang von 1,5 Milliarden € für neun Millionen Menschen vor, und der Vorsorgefonds baut 1,2 Milliarden € für 70 Millionen Men schen auf.

(Zuruf des Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP)

Da frage ich mich: Wie wollen Sie in dieser Form die Zukunft der Pflege sichern? Das ist Schaufensterpolitik, nichts ande res.

(Beifall bei der FDP/DVP – Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Genau so ist es!)

Es wurde angesprochen, dass vor Kurzem die ambulanten Pflegedienste 60 000 Unterschriften übergeben haben. Ich glaube, dass es auch für das Land Baden-Württemberg ein

ganz wichtiger Punkt sein wird, dass man auch fragt: Was tut die Landesregierung, damit die Situation der häuslichen Pfle ge, die Situation der ambulanten Pflege in Zukunft gesichert ist?

Herr Hinderer, Sie haben auch das Wohn-, Teilhabe- und Pfle gegesetz angesprochen. Ich darf nur daran erinnern, dass die Evangelische Heimstiftung, die in Baden-Württemberg sicher lich eine der Trägerinnen mit den meisten Erfahrungen rund um die Pflege ist, in ihrer Stellungnahme zur zweiten Lesung des Gesetzentwurfs nochmals darauf hingewiesen hat, dass die Situation stationärer Pflegeheime durch den Bürokratie aufbau, der in dem Gesetz vorgesehen ist, deutlich verschärft wird und dass überhaupt keine Lösungsansätze dafür da sind, um überhaupt nur ansatzweise die bei der steigenden Zahl der Pflegebedürftigen erforderlichen zusätzlichen Pflegekräfte zu generieren. Also: Nicht die Opposition ist es, die hier immer kritisiert, sondern es sind wirklich Menschen, die sich beruf lich mit der Pflege beschäftigen. Das sollten wir hier in Ba den-Württemberg ernst nehmen.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Dann ist noch Folgendes interessant. Wenn man am 30. Mai die „Stuttgarter Zeitung“ gelesen hat, dann hat man dort in der linken Spalte einen Artikel gefunden, in dem stand: „Ruland verlässt die SPD“.

(Abg. Wolfgang Drexler SPD: Wer?)

Ruland. Franz Ruland, Herr Kollege Drexler, war 13 Jahre lang Chef der Deutschen Rentenversicherung. Ich glaube al so, das ist durchaus jemand, der sich im Bereich der Sozial versicherung auskennt. Er hat einen Brief an Parteichef Ga briel geschrieben. Ich darf zitieren:

Ich kann und will einer Partei nicht länger angehören, die gegen den Rat aller Sachverständigen mit Ihrer Ren tenpolitik in verantwortungsloser Weise eine Klientelpo litik betreibt.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Hört, hört!)

Das ist doch bemerkenswert, nicht? Franz Ruland, 13 Jahre Chef der Deutschen Rentenversicherung, zeigt sehr deutlich die Problematik dieser Politik der Widersprüche auf.

Ich darf noch ein Zitat aus der Stellungnahme zu dem Antrag der Fraktion der FDP/DVP, Drucksache 15/5129, hinzufügen. Darin hatten wir das Thema „Vorfälligkeitsentschädigung in der Sozialversicherung“ angesprochen, und die Sozialminis terin antwortete: