Protocol of the Session on November 4, 2009

Er hat gesagt, er bleibe – bis es so weit ist – noch tatkräftig im Amt.

(Abg. Martin Rivoir SPD: Bis dahin kann er noch viel Schaden anrichten!)

Abschied feiern wir erst dann, wenn es so weit ist. Heute machen wir angesichts des Abtritts der Regierung Oettinger eine Bestandsaufnahme: Wie steht die Regierung da? Das ist das heutige Thema.

(Zuruf: Genau!)

Das sollten Sie nicht verdrehen. Heute geht es nicht um die Europäische Kommission, sondern um das, was im Land passiert, und um die Frage, wo wir stehen.

Wenn sich ein Ministerpräsident so Knall auf Fall eineinhalb Jahre vor der Landtagswahl in der größten Herausforderung, vor der das Land haushaltspolitisch und wirtschaftspolitisch je gestanden hat, über Nacht verabschiedet, dann ist das schon ein Anlass, um eine Bestandsaufnahme zu machen. Diese fällt für die Regierung nicht schmeichelhaft aus.

Jeder hat natürlich seine Zitate. Jeder kann irgendetwas zitieren. Deshalb ist der objektivste Maßstab die Beurteilung durch die Bevölkerung. Mich würde schon interessieren – wenn Sie hier noch einmal sprechen –, wie Sie es verstehen, dass so wenige Menschen in Baden-Württemberg den Abtritt der Regierung Oettinger bedauern.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Kretschmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Jeder, der ein neues Amt antritt, hat die Chance, dieses Amt entsprechend den Erwartungen, die man daran stellt, auszufüllen. Ich habe hier weder gegenüber dem Kollegen Oettinger, was die EU-Kommission betrifft, noch gegenüber dem Kollegen Mappus, was den Posten des Ministerpräsidenten betrifft, den schlechten Propheten ge spielt. Ich habe aber auch keinerlei Gründe, Herr Ministerpräsident Oettinger, Ihnen Vorschusslorbeeren zu erteilen.

(Abg. Dr. Friedrich Bullinger FDP/DVP: Na, na, na!)

Ich habe hier sehr präzis dargelegt, warum ich dafür keinen Grund sehe. Ich habe gesagt, dass Sie nicht die Weitsicht hatten, um zu erkennen, dass wir, wenn wir unsere Kernindustrien Fahrzeugbau und Maschinenbau nicht ökologisch modernisieren, auf den Weltmärkten der Zukunft nicht konkurrenzfähig sind, dass wir das Klima damit schädigen und dass dies keine Perspektive für die Zukunft ist.

(Beifall bei den Grünen – Abg. Dr. Stefan Scheffold CDU: In welchen zeitlichen Dimensionen reden Sie denn?)

Das müssen Sie sich einfach sagen lassen. Sie lagen da völlig falsch.

Heute versucht die Automobilindustrie, darauf zu reagieren – was wir schon vor 20 Jahren thematisiert haben, was wir immer stärker in die Debatte gebracht haben –, dass man mit diesen Produkten nicht nur die Umwelt schädigt, sondern auch auf den Weltmärkten nicht mehr konkurrenzfähig ist. Diese Prophezeiungen sind eingetroffen. Diese Unternehmen sind deswegen in schwerem Fahrwasser, weil sie nicht rechtzeitig uns gefolgt sind, sondern Ihnen gefolgt sind.

(Beifall bei den Grünen – Lachen des Abg. Hagen Kluck FDP/DVP)

Das können Sie heute durch nichts wegdebattieren. Dies sagen heute übrigens nicht nur die Grünen – ich habe es Ihnen vorgelesen –, sondern dies sagen heute auch führende Industrievertreter. Es wäre noch besser gewesen, sie wären ein bisschen früher so schlau geworden. Es kommt offensichtlich schon darauf an, auf wen man hört und auf wen nicht.

Ich habe keinen Grund, Ihnen Vorschusslorbeeren zu erteilen, weil jeder weiß, dass die Industriepolitik in Zukunft grün sein wird. Dann hat sie eine Chance. Wenn nicht, dann hat sie keine. Ich habe bisher nicht erkennen können, dass das ein zentraler Punkt auf Ihrer politischen Agenda gewesen wäre.

(Beifall bei den Grünen)

Aber jeder kann sich ändern, jeder hat die Chance, und wir werden dann sehen, was Sie in dem Amt hinbringen werden und was nicht. Das werden wir später beurteilen – so, wie wir heute kritisch zu beurteilen haben, was Ihre Bilanz als Minis terpräsident ist.

Ich habe es noch einmal auf den Kernpunkt, der vor uns steht, zugespitzt: auf den Haushalt. Ich erinnere daran, dass in der mittelfristigen Finanzplanung schon vor der Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise eine Deckungslücke von 4 Milliarden € war. Sie haben nichts dazu getan, diese Deckungslücke mit strukturellen Einsparvorschlägen anzugehen.

Wenn ich das hier angesprochen habe – ich habe es hier in jeder Sitzung angesprochen –, hat der Finanzminister gesagt: „Wir fahren auf Sicht.“ Ich frage mich nur: Wohin gucken Sie, Herr Finanzminister, wenn Sie auf Sicht fahren?

(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der Grünen und der SPD)

Schauen Sie dem Problem wirklich ins Auge?

Jetzt fangen Sie damit an und formulieren eine verhaltene Kritik an den Steuersenkungsplänen der schwarz-grünen Berliner Koalition.

(Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Aha! Möchtegern! Möchtegern! – Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Freud lässt grüßen! – Unruhe)

Die Frage ist: Werden Sie, Herr Finanzminister, vom jetzigen und vom neuen Ministerpräsidenten im Regen stehen gelassen? Spitzen Sie wieder nur den Mund und pfeifen nicht, oder hat dies Substanz? Darauf hätten wir jetzt eigentlich doch einmal eine Antwort erwarten können. Da geht es um eine zentrale Weichenstellung für das Land.

Herr Kollege Rülke, das kann man mit so vordergründiger Polemik – dass man sagt, das interessiere die Zahlen nicht – nicht abtun. Zahlen – so hat Franz Josef Strauß richtig gesagt – kann man nämlich nicht anschreien, nur Generäle und natürlich auch die Opposition. Aber das nützt nichts. Das nützt überhaupt nichts.

(Beifall bei den Grünen)

Ich habe vorhin gesagt, in welcher dramatischen Haushaltslage wir schon ohne diese Steuersenkungen sind. Schon dafür haben Sie gar kein Konzept. Wenn jetzt die durch die Steuersenkungen verursachten Steuerausfälle dazukommen, bedeutet das im Jahr 2010 für Land und Kommunen 1,15 Milliarden € weniger und im Jahr 2011 sogar 2,4 Milliarden € weniger.

(Abg. Hagen Kluck FDP/DVP: Wie war das mit den Zahlen? – Abg. Stefan Mappus CDU: Wer hat das ausgerechnet?)

Rechnen können Sie ja vielleicht selbst.

(Abg. Stefan Mappus CDU: Eben!)

Wenn Sie es nicht können, haben Sie sicherlich Mitarbeiter, die das beherrschen.

(Heiterkeit bei den Grünen und Abgeordneten der SPD)

Das sind Steuerausfälle, die durch die Steuersenkungen entstehen, die von Schwarz,

(Abg. Stefan Mappus CDU: Grün!)

von Schwarz-Rot schon für 2010, was die Absetzbarkeit von Vorsorgeaufwendungen bei der Kranken- und der Pflegeversicherung betrifft, beschlossen worden waren,

(Abg. Stefan Mappus CDU: Das war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts!)

und dann kommen jetzt noch die Steuersenkungen von Schwarz-Gelb dazu. – Das sage ich ja.

(Abg. Stefan Mappus CDU: Das war das Bundesver- fassungsgericht!)

Es ist schon schwierig genug, das zu packen, und Sie wollen jetzt noch weitere Steuersenkungen draufpacken.

Jetzt sagt die FDP, das alles habe Selbstfinanzierungseffekte. Ich frage einmal: Wer unterstützt das denn?

(Abg. Ingo Rust SPD: Niemand!)

Wer unterstützt denn diese These, welcher Wissenschaftler stützt sie, und wo wird sie empirisch gestützt? Sie wird weder wissenschaftlich noch empirisch gestützt. Wir haben vielmehr genügend Beispiele dafür, dass das einfach nicht stimmt; und selbst dann, wenn es Selbstfinanzierungseffekte gibt, liegen sie weit unter der Größenordnung der Steuerausfälle. Das ist doch überhaupt keine Frage.

(Abg. Dr. Hans-Ulrich Rülke FDP/DVP: Woher wis- sen Sie das?)

Weil uns das die Wissenschaft sagt, weil uns das die Erfahrungen sagen und weil wir bei Rot-Grün mit dem größten Steuersenkungsprogramm in der Geschichte, das wir da durchgeführt haben, diese Erfahrungen selbst gemacht haben.

(Abg. Stefan Mappus CDU: Sie haben den Spitzen- steuersatz um zehn Prozentpunkte gesenkt!)

Diese Effekte sind nicht eingetreten.

(Beifall bei den Grünen – Zuruf des Abg. Dr. Hans- Peter Wetzel FDP/DVP)

Ich nehme an, Sie bleiben noch eine ganze Zeit im Amt, Herr Oettinger. Deshalb wollen wir wissen: Wie ist der Kurs? Gehen Sie mit den anderen Ministerpräsidenten konform, die ganz offen sagen, das gehe nicht, das sei verantwortungslos, hier würden Beschlüsse auf Kosten Dritter gefasst?