Protocol of the Session on June 18, 2009

Unsere Kinder haben nicht selten leidvolle Erfahrungen gemacht in allgemeinen Schulen mit großen Klassen, nicht entsprechend ausgebildeten Lehrkräften, fehlenden sächlichen und räumlichen Ausstattungsnotwendigkeiten. Sie waren häufig Diskriminierungen ausgesetzt. Einige unserer Kinder benötigen zusätzlich gebärdensprachliche Kommunikation.

Das heißt doch im Klartext: Nicht die Sonderschulen sind das Problem, sondern die fehlende Integrationsfähigkeit der allgemeinen Schulen und des allgemeinen Bildungswesens.

(Beifall bei den Grünen)

Deshalb begehrt unser Gesetzentwurf: Die allgemeinen Schulen müssen verändert werden. Sie müssen integrationsfähig ausgestaltet werden. Nicht das Kind muss integrationsfähig sein – wie das heute der Fall ist; es wird danach geschaut, ob das Kind zur Schule passt –, sondern die öffentliche Schule, die allgemeinbildende Schule muss integrationsfähig gemacht werden. Eltern müssen sich darauf verlassen können, dass ihr Kind eine optimale – auch sonderpädagogische – Förderung erhält, wenn sie sich entscheiden, das Kind an einer Regelschule einzuschulen.

(Beifall bei den Grünen)

Nur dann macht das Elternwahlrecht überhaupt einen Sinn.

(Abg. Bärbl Mielich GRÜNE: Genau!)

Ein Elternwahlrecht anzubieten, bei dem den Kindern dann die Förderung an der allgemeinen Schule vorenthalten wird, führt nur dazu, dass Eltern, wie wir gehört haben, leidvolle Erfahrungen machen und sich dann anders entscheiden.

Die Eltern müssen auch weiterhin ein Wahlrecht für folgende Sonderschulen haben – ich sage das ganz bewusst, weil uns unterstellt wurde, wir wollten alle Sonderschulen abschaffen –: Wir wollen, dass alle Sonderschultypen in Kompetenz- und Beratungszentren für sonderpädagogische Förderung und Bildung umgewandelt werden. An den sonderpädagogischen Förder- und Beratungszentren für geistige Entwicklung, körperliche Entwicklung, für Hören und Sehen sollen auch weiterhin Förderschulen angegliedert werden, bedarfsorientiert auch Internatsschulen, sodass die Eltern für diese vier Förder

schwerpunkte in der Tat eine Entscheidung treffen können. Aber wenn sie sich für eine allgemeine Schule entscheiden, dann müssen dort die individuellen Förderbedürfnisse erfüllt werden, die in einer individuellen Diagnose für das Kind erhoben werden.

(Beifall bei den Grünen)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich sage aber genauso deutlich: Die Sonderschulen, die wir in Baden-Württemberg haben, in denen der soziale Faktor massiv zu Buche schlägt – ich nenne hier insbesondere die Förderschule für Lernbehinderte –, haben in einem inklusiven Bildungssystem keine Zukunft mehr.

(Beifall bei den Grünen)

Aufgrund ihrer sozialen Zugehörigkeit landen Kinder, weil sie unzureichend gefördert wurden – ich nenne an erster Stelle die Kinder mit Migrationshintergrund –, in der Förderschule für Lernbehinderte, obwohl sie lediglich nicht ausreichend gefördert wurden und mit entsprechender zusätzlicher individueller Förderung sehr gut an den allgemeinen Schulen ihren Schulabschluss machen könnten.

Ich sage noch einmal ganz deutlich zu den Förderschulen für Lernbehinderte: Ich bin 1997 zum ersten Mal in eine Förderschule für Lernbehinderte gegangen, um mich darüber zu informieren, weil ich das Sonderschulwesen überhaupt nicht kannte. Der Rektor dieser Sonderschule hat mir als Erstes gesagt: „Frau Rastätter, heute bekommen wir die Kinder unserer ehemaligen Schüler.“ Das heißt, die Zugehörigkeit zu den Förderschulen für Lernbehinderte wird „vererbt“. Wir wollen, dass diese Kinder endlich Chancen bekommen. Sie sollen gemeinsam mit anderen Kindern lernen und aufwachsen. Sie brauchen andere Vorbilder, sie brauchen das Lernen mit- und voneinander. Wenn Kinder sonderpädagogische Förderung im Bereich der Sprachentwicklung brauchen, dann sollen die hierfür zuständigen Lehrkräfte der Förderschulen alle in die allgemeinen Schulen integriert werden. Sie alle müssen in die allgemeinen Schulen hinein.

(Beifall bei den Grünen)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, für die Umsetzung unseres Gesetzentwurfs sind folgende Rahmenbedingungen an den allgemeinen Schulen notwendig:

Zunächst das Rucksackprinzip. Das Kind muss seine Förderung in die allgemeinen Schulen hineinbekommen. Für den Bereich Förderschulen müssen alle Sonderpädagogen in die allgemeinen Schulen integriert werden. Wenn diese Sonderpädagogen an den allgemeinen Schulen integriert sind, dann profitieren davon auch die Kinder, die heute dort sind und nicht ausreichend gefördert werden, die sogenannten Grenzfallkinder, in erheblichem Umfang.

(Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Wollen das alle El- tern, Frau Rastätter?)

Ich habe kein einziges Protestschreiben von Eltern von Förderkindern bekommen, in dem es heißt: Wir wollen aber, dass unsere Kinder in eine Förderschule für Lernbehinderte kommen.

(Abg. Volker Schebesta CDU: Die haben alle wir be- kommen! – Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU: Die an- deren schreiben uns, Frau Rastätter, das ist klar!)

Im Gegenteil bekomme ich ständig Schreiben und Aussagen von Rektoren der Förderschulen für Lernbehinderte: Unsere Kinder können mit unserer Hilfe an den allgemeinen Schulen gut gefördert werden.

(Zuruf von der CDU: Aber doch nicht alle!)

Für die Sinnesgeschädigten und für geistig und körperlich Behinderte bleiben die Sonderschulen – das habe ich eben ausführlich dargestellt –, sodass wir in dem Bereich, in dem die sozialen Faktoren zu Buche schlagen, sagen: Diese Kinder können in einem inklusiven Bildungssystem integriert werden.

Ich möchte abschließend noch sagen: Wir werden die inklusive Schule natürlich nicht von heute auf morgen erreichen. Unsere Ziele werden natürlich Veränderungen im allgemeinen Schulwesen erforderlich machen. Wir brauchen, um ein inklusives Schulsystem vollständig umzusetzen, auch eine Überwindung der Trennung, die ein hierarchisch gegliedertes Schulsystem mit sich bringt. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass die Lebenshilfe gerade ein neues Positionspapier verabschiedet und verschickt hat, in dem sie eine Schule für alle fordert, weil man dort weiß, dass nur in einer Schule, die die Kinder individuell mit allen Hilfen, die Kinder brauchen, fördert, die Kinder von den Schwächsten bis zu den Hochbegabten bestens gefördert und sozial integriert werden und in eine solidarische Gemeinschaft hineinwachsen können, in der kein Kind zurückbleibt, in der jedes Kind seine Potenziale und Stärken entwickeln kann und in der niemand mehr ausgegrenzt wird.

(Abg. Winfried Scheuermann CDU: Das Himmel- reich auf Erden!)

Wir haben in Baden-Württemberg Ansätze dafür. Wir haben schon heute gut funktionierende Integrationsklassen. Das ist die gute Botschaft. Wir knüpfen daran an und entwickeln das fort. Wir brauchen mutige Entscheidungen.

Unser Gesetzentwurf soll zur weiteren Diskussion beitragen. Ich freue mich auf die weiteren kritischen und konstruktiven Auseinandersetzungen im Interesse aller Kinder, insbesondere der Kinder mit Behinderungen in Baden-Württemberg.

Vielen Dank.

(Beifall bei den Grünen)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Hoffmann.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Rastätter, ganz persönlich, ein für alle Mal: Das Thema „Neudefinition unserer Schulen für Kinder mit Behinderungen“ steht in der Koalitionsvereinbarung dieser Landesregierung aus dem Jahr 2006. Die UNKonvention ist aus dem Jahr 2008. Selbst Leute, die sich möglicherweise ideologisch mit diesem Thema beschäftigen, müssen feststellen, dass der Wille der beiden Parteien, die hier die Regierung tragen, im Jahr 2006 zu einer Veränderung des

Schulsystems zu kommen, bereits zwei Jahre, bevor es überhaupt eine UN-Konvention gab, bestand.

(Beifall bei der CDU)

Vielleicht können wir uns das in Zukunft sparen. Ich kopiere es Ihnen gern noch einmal, wenn Sie es brauchen.

Zweitens: Ich bin begeistert. Sie haben die Kurve gekriegt, liebe Frau Rastätter, und Sie wissen, was ich damit meine.

(Lachen der Abg. Renate Rastätter GRÜNE)

Noch vor sechs Wochen wollten auch die Grünen die Sonderschulen abschaffen.

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Überhaupt nicht! – Zuruf des Abg. Karl-Wilhelm Röhm CDU)

Herr Zeller will es noch heute. Jetzt will Frau Rastätter nicht mehr die Sonderschulen abschaffen, sondern die Schulen für Lernbehinderte, also auch die E-Schulen.

(Abg. Bärbl Mielich GRÜNE: Sie haben den inklu- siven Gedanken nicht verstanden!)

Wir suchen ja Gemeinsamkeiten, Frau Rastätter. Wir suchen durchaus Gemeinsamkeiten. Sie haben in Ihrer Rede sehr viele Formulierungen gewählt, die genau das beinhalten, was Helmut Rau in seiner letzten Landtagsrede und auch Georg Wacker, der nachher sprechen wird, dazu gesagt haben. Wir tun genau das, was Sie jetzt in Ihrem Gesetzentwurf vorschlagen, nämlich aus unseren Sonderschulen Bildungs- und Kompetenzzentren zu machen. Also haben Sie abgeschrieben und die Kurve gekriegt, weil Sie gemerkt haben, dass es bei den anderen Einrichtungen mit der Auflösung nicht so leicht ist.

Trotzdem, liebe Frau Rastätter, hat Ihr Gesetzentwurf noch die eine oder andere Schwierigkeit. Wir sind nicht einig bei den Schulen für Lernbehinderte. Ich sage Ihnen auch, warum. In der letzten Plenardebatte hat Helmut Rau angekündigt, dass er ein Expertengremium einsetzen will. Sie haben gestern oder heute mitgeteilt bekommen, wer in diesem Expertengremium tätig ist. Jetzt kann man ja so vermessen sein, zu meinen, dass man, wenn man im Landtag sitzt, die Sache am besten beurteilen könne. Wir meinen, dass es der Politik genau aus diesem Grund, weil es Kinder mit Behinderungen sind, sehr gut ansteht, wenn sie sich Expertenrat einholt. Sie werden gesehen haben, dass der Vorstand der Lebenshilfe Mitglied dieses Expertengremiums ist. Glauben Sie ernsthaft, wir diskutieren heute über Ihren Gesetzentwurf und übergehen die Arbeit des Expertengremiums, das noch nicht getagt hat?

Liebe Frau Rastätter, ich glaube, Ihr Gesetzentwurf dient ein bisschen dem Thema: „Wir waren die Ersten, egal, was drinsteht; Hauptsache, wir haben als Erste die Plenardebatte vom Zaun gebrochen.“ Das ist aber sehr ungründlich. Liebe Frau Rastätter, ich kenne Sie anders. Ich habe Sie bei diesem Thema schon als sehr ernsthafte Politikerin erlebt, und ich wundere mich.

Beim letzten Mal waren wir uns doch in der Debatte einig, dass das Thema „Kinder mit Behinderungen“ nicht nur ein Bildungsthema ist, sondern dass es da die Jugendhilfe und die Eingliederungshilfe gibt und dass es vor Ort Integrationspläne gibt, an denen sich die Landratsämter und die Schulämter

beteiligen müssen. Es geht nicht nur um die paar Stunden Unterricht. Ein behindertes Kind ist 24 Stunden am Tag behindert. Wenn ich eine gescheite Schule will, dann muss ich für Assistenz sorgen, muss ich für Unterrichtsassistenz, aber auch für Familienbetreuung und für außerunterrichtliche Assistenz sorgen,

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Das steht alles im Gesetzentwurf!)

und ich muss klären, wie die behinderten Kinder, die nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren können, vom Ort A zum Ort B kommen können. Dazu braucht es nicht nur Landespolitik, sondern dazu braucht es auch die Kreispolitik.

Wir haben also nicht nur den kleinen Fokus auf das Thema Bildungspolitik. Sie haben sich in Ihrem Gesetzentwurf auf das Thema Bildungspolitik reduziert. Sie haben sich rein auf den kleinen Teil des Unterrichts im Tagesablauf eines behinderten Kindes reduziert. Das ist schlicht zu wenig. Deswegen sind in den Expertenrat auch Leute berufen worden, die den anderen Teil mit abdecken können. Das halten wir für sehr, sehr wichtig.

Die CDU-Fraktion hält es für existenziell, bei diesem Thema keinen Versuch auf dem Rücken der Kinder zu starten und irgendetwas umzuorganisieren. Wir wollen, wenn wir das Thema in die Hand nehmen, vielmehr einen Gesamtansatz, bei dem wir wissen, dass die behinderten Kinder hinterher besser beschult sind als zuvor.

(Beifall bei der CDU und der Abg. Dr. Birgit Arnold FDP/DVP)