Dennoch ist klar: Das allein wird es nicht sein. Erstens gilt: Subsidiaritätsrügen sind kein grundsätzliches Mittel, um irgendwo Nein zu sagen, sondern müssen effektiv an Stellen eingesetzt werden, die die Interessen eines Landes berühren.
Zweitens: Ich finde, das beste Frühwarnsystem, das wir haben, ist unsere Landesvertretung in Brüssel. Sie muss auch das Arbeitsprogramm der Kommission frühzeitig beeinflussen können und muss in der Lage sein, die Politik unseres Parlaments im Benehmen mit den Landesressorts mit einzubringen.
Deshalb bin ich froh, Herr Minister, dass ganz offenbar ge plant ist, die Landesvertretung zu stärken. Ich bin der Meinung, dass das richtig ist – sicherlich mit der Zielrichtung, dass dies einmal eine Abteilung wird. Ich glaube, dass wir das verstärkt nutzen sollten.
Insgesamt gilt auch, dass die Landesverwaltung europaorientierter werden muss. Eine Gesetzesfolgenabschätzung dessen, was in Europa geplant ist, muss in jedem Ressort möglich sein. Hier ist ein enges Zusammenspiel der Ministerien und der Landesvertretung gefordert. Es ist aber auch wichtig, dass sich unsere Landesministerien wirklich europäisch ausrichten – personell und auch in ihrem Blickwinkel.
Insgesamt gilt, meine Damen und Herren: Unser Land sollte das Vertragswerk zum Anlass nehmen, eine proaktive und nicht nur eine reaktive Europapolitik zu betreiben.
Ich will das am Bereich der Daseinsvorsorge verdeutlichen. Klar ist, dass wir mit dem Vertragswerk von Lissabon eine Verankerung der lokalen Selbstverwaltung haben. Eine Protokollnotiz garantiert das Recht der Regionen und der Kommunen auf die Gestaltung ihrer eigenen Angelegenheiten. Weite Spielräume sind vorhanden.
Betrachten wir, was die Daseinsvorsorge insbesondere in Deutschland ausmacht, dann ist klar, dass der Kommission der Auftrag erteilt werden muss – vom Europäischen Parlament, aber auch vom Rat –, die Besonderheiten der Daseinsvorsorge stärker zu beachten. Insgesamt gilt, dass die interkommunale Zusammenarbeit, wie sie bei uns in Baden-Würt temberg und in Deutschland gewachsen ist, eben kein Anwendungsfall für das europäische Vergaberecht ist. Wir sagen: Die interkommunale Zusammenarbeit ist eine klassische öffentliche Aufgabe. Hier hat uns Europa nicht mit dem Vergaberecht oder dem Beihilferecht hineinzureden, meine Damen und Herren.
Dies gilt z. B. für den Bereich des Wassers, den wir – auch emotional – als besonders dringlich ansehen können. Wir sind der Meinung, dass man Zweckverbände auch durch den Landesgesetzgeber künftig so ausgestalten muss, dass dort ohne Personen des Privatrechts agiert wird, um die Zweckverbände europafest zu machen. Wir sind der Meinung, dass wir durch Gutachten unseren Gemeinderäten rechtzeitig ermöglichen sollten, wenn sie denn Privatisierungen planen, die Auswirkungen überblicken zu können. Wir sind auch der Meinung, dass das Leitbild „Zukunftsfähige Trinkwasserversorgung in Baden-Württemberg“ rechtzeitig darauf eingehen sollte, was Inhouse-Geschäfte oder anderes bedeuten. Hier ist – das sehen wir an dem Beispiel – auch die Landespolitik gefordert, sich europäisch auszurichten, wenn es um die Wahrung unserer Interessen – in diesem Fall um Daseinsvorsorge – geht.
Meine Damen und Herren, Europa ist etwas, was uns angeht. Europa bedarf proaktiver Politik. Ich glaube, das ist etwas, was uns letzten Endes auch im Anspruch hier im Parlament eint. Das ist nicht die Frage. Die Wahrheit liegt im Konkreten.
Es gibt Personen, die sich darum besonders gekümmert haben und das auch glaubwürdig machen. Ich will an dieser Stelle – mit Ihrer Erlaubnis, Herr Landtagspräsident – auch Herrn Palmer als Vorsitzendem des Ausschusses meine Reverenz erweisen. Lieber Herr Palmer, ich glaube, Sie haben den Europaausschuss umsichtig geleitet. Sie haben den Europaausschuss, dessen Gründung, wie Sie es noch einmal gesagt haben, Ihre eigene Herzensangelegenheit war und den Sie – Stichwort: gleiche Augenhöhe – für überfällig gehalten haben, nicht nur geleitet, sondern ihm auch den Weg geebnet. Durch die Erfahrung, die Sie eingebracht haben, waren wir mit dem Europaausschuss in der Lage, uns schnell zu etablieren.
Hilfreich war auch, dass Sie sich nicht auf die Leitung der Sitzung beschränkt haben, sondern dass Sie das, was Sie einmal als „kleine Außenpolitik“ bezeichnet haben, praktiziert haben, sodass wir in der Lage waren, mit Gästen zu reden und uns
über andere Verhältnisse aufklären zu lassen, wenn wir Gäste im Landtag bzw. bei uns im Ausschuss hatten. Herzlichen Dank dafür, dass Sie diese Aufgabe so umsichtig und so souverän wahrgenommen haben. Ich glaube, das kann ich für alle Fraktionen hier im Parlament sagen, für meine in jedem Fall.
Herr Minister Stächele wird, wenn die neue Aufgabe kommt – und sie wird ja kommen –, sicherlich noch die eine oder andere europapolitische Aktion starten. Es ist aber doch so, dass die heutige Debatte, wenn ich es recht sehe, möglicherweise auch Ihre letzte große europapolitische Debatte sein wird. Man soll es aber nie beschreien. Ich mache es deswegen ganz kurz. Wir werden noch Gelegenheit haben, das anzusprechen. Ich danke aber dem Minister schon jetzt dafür, dass er uns Europa wirklich nahegebracht hat, nicht nur trocken in den Gesetzen, sondern auch sinnlich. Er hat jedem Abgeordneten, der ihn etwas gefragt hat, das Gefühl gegeben, dass er ihm eine ganz besondere individuelle Antwort zukommen lässt. Der Minister hat es auch geschafft, wenn wir ihm im Ausschuss besonders allgemeine Fragen gestellt haben, diese mit besonders allgemeinen Antworten zu parieren.
Deswegen, lieber Herr Stächele, an dieser Stelle schon einmal ein Dankeschön. Das ist wirklich ehrlich und von Herzen gemeint.
Er hat ja auch ein bisschen vorgesorgt, indem er kürzlich gesagt hat, jeder Landesminister müsste künftig eine stärkere europapolitische Verantwortung übernehmen. Das war – um es dem Badener einmal auf Schwäbisch zu sagen – schon sehr knitz; denn damit hat er sich den Wiedereintritt in die Szenerie vorbereitet.
Meine Damen und Herren, ich will am Ende dieser Rede für unsere Fraktion sagen: Der Vertrag von Lissabon und seine Bedeutung für Baden-Württemberg lassen sich in einem Satz zusammenfassen: Europa ist und bleibt unsere Sache.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu unserer großen Freude begrüßen alle Fraktionen des Landtags den neuen EU-Grundlagenvertrag als Reform und als großen Schritt nach vorn. Er war nach einer achtjährigen Phase der Stagnation nötig, die auch nicht gerade zur Europabegeisterung beigetragen hat. Wir Grünen unterstützen den Vertrag von Lissabon, weil er für eine transparentere, demokratischere und handlungsfähigere EU steht.
Das ist überfällig, Kolleginnen und Kollegen. Die Europäische Union braucht dringend Reformen, die den Grundrechts
schutz stärken, für effiziente Institutionen und transparente Verfahren sorgen und die demokratische Legitimation der EU erhöhen. Der Vertrag von Lissabon ist zwar weniger ambitioniert als der Verfassungsentwurf, der ja 2005 gescheitert ist, aber er ist ein guter Kompromiss, der die wichtigsten Kernforderungen enthält und die EU aus ihrem langjährigen institutionellen Stillstand herausholt. Damit sind die Weichen für umfangreiche Reformen in der EU gestellt, auch wenn wir an einer lesbareren europäischen Verfassung als großer Vision festhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, was ändert sich denn nun durch den EU-Reformvertrag? Was sind die Fortschritte?
Von 2014 an genügt im Ministerrat die doppelte Mehrheit. Beschlüsse können gefasst werden, wenn 55 % der Staaten zustimmen, die mindestens 65 % der EU-Bevölkerung repräsentieren. Zudem sollen die Institutionen effizienter werden, etwa durch die Wahl eines jeweils zweieinhalb Jahre amtierenden Präsidenten des Europäischen Rates. Außerdem soll die EU-Kommission verschlankt werden; in ihr sind dann nicht mehr alle Länder vertreten. Es wird mehr europäische Außenpolitik möglich sein, auch wenn der EU-Außenminis ter nicht mehr so heißen darf, sondern nun „Hoher Vertreter“ – oder vielleicht auch „Hohe Vertreterin“ – „für die Außen- und Sicherheitspolitik“.
Ein weiterer ganz zentraler Punkt ist, dass die Bürgerinnen und Bürger mehr Rechte erhalten. Denn sie können sich nun erstmals aktiv über die Möglichkeit eines europäischen Bürgerbegehrens in die europäische Politik einschalten. Damit wird ein direktdemokratisches Element in die EU eingeführt. Eine Million EU-Bürgerinnen und -Bürger können zukünftig die Kommission auffordern, zu einem bestimmten Bereich einen Gesetzesvorschlag vorzulegen. Damit rückt Europa tatsächlich näher an die Menschen heran, und das ist ein großer Erfolg.
Auch wertet der Vertrag, Kollege Zimmermann, die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger bei der Wahl zum Europäischen Parlament auf.
Denn das Europaparlament hat künftig in weit mehr Bereichen mitzuentscheiden als bisher. Das bisherige Mitentscheidungsverfahren wird zum ordentlichen Gesetzgebungsverfahren der EU. Das Parlament und der Ministerrat werden dadurch in 95 % der europäischen Gesetzgebung zum gleichberechtigten Gesetzgeber. Damit erhöht sich die demokratische Legitimität der europäischen Gesetzgebung.
Außerdem wird das Parlament mit der Mehrheit seiner Mitglieder den Präsidenten der Kommission wählen. Damit gibt es erstmals eine direkte Legitimationskette von den Bürgerinnen und Bürgern über das Parlament bis zur Kommission.
Auch die Position der nationalen Parlamente wird gestärkt. Sie erhalten mehr Mitsprache bei der EU-Rechtsetzung, und sie erhalten die Möglichkeit zur Subsidiaritätsprüfung. EU
Rechtsakte sollen demnach nur dort entstehen, wo gesetzliche Regelungen auf nationaler, regionaler oder kommunaler Ebene nicht ausreichend wirksam sind. Bei Klagen bezüglich des Subsidiaritätsprinzips bleibt der Weg zum Europäischen Gerichtshof.
Der Bundestag ist derzeit übrigens damit befasst, diese EUVorgabe auf ungewöhnlichem Weg umzusetzen. Demnach muss der Bundestag bereits dann eine Klage beim Europäischen Gerichtshof einreichen, wenn ein Viertel der Abgeordneten dies verlangen. Also kann künftig auch die Opposition Europapolitik beeinflussen. Das finden wir gut.
Nun möchte ich einen weiteren zentralen Punkt ansprechen – Kollege Hofelich hat ihn vorher auch angesprochen –: die kommunale Selbstverwaltung und die Zukunft der Daseinsvorsorge nach dem Reformvertrag. Liebe Kolleginnen und Kollegen, hier besteht nach wie vor großer Handlungsbedarf. Die kommunale Selbstverwaltung und Gestaltungsfreiheit im Bereich der Daseinsvorsorge wird erstmals im EU-Recht als verbindliches Protokoll verankert. Damit kommt man einer Kernforderung der Kommunen nach, die seit Langem eine Verankerung der kommunalen Selbstverwaltung in den europäischen Primärverträgen fordern.
Auch wird die enge Definition der sozialen Dienste in der Dienstleistungsrichtlinie aufgebrochen. Das Protokoll spricht im Zusammenhang mit der Erbringung dieser Dienste nicht mehr von „bedürftigen Nutzern“, sondern von den „Bedürfnissen der Nutzer“, was bedeutet, dass auch Qualität, Sicherheit, Bezahlbarkeit und Gleichbehandlung für die Nutzer eine Rolle spielen sollen.
Ebenfalls werden die Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit präzisiert in dem Sinne, dass es nicht nur auf das Verhältnis der EU zu den Mitgliedsstaaten angewendet wird, sondern auch auf das Verhältnis der EU zu den Kommunen. So weit, so gut.
Die EU-Kommission nimmt nun allerdings in mehreren Mitteilungen eine völlig andere Wertung des Vertrags von Lissabon vor. Dies ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zum einen ist eine Mitteilung ein einseitiger Akt der Kommission. Die europäischen Gesetzgeber Rat und Parlament werden praktisch vor vollendete Tatsachen gestellt. Zum anderen wartet die Kommission nicht einmal die Ratifizierung der Reformverträge ab, die verschiedenen Institutionen wie den nationalen Parlamenten oder dem Ausschuss der Regionen neue Rechte zusprechen.
Deshalb begrüße ich es sehr, dass wir heute hier gemeinsam einen Beschlussteil verabschieden, der die Landesregierung auffordert, sich konsequent dafür einzusetzen, dass Dienstleis tungen der öffentlichen Daseinsvorsorge nicht dem EU-Wettbewerbsrecht unterstellt werden und dass die jetzt im euro päischen Recht verankerte kommunale Selbstverwaltung gegenüber der EU-Kommission verteidigt wird. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist auch dringend notwendig, weil wir damit natürlich auch den Europaskeptikern etwas entgegensetzen können.
Auch die Bundeskanzlerin hat in der letzten Woche in der Europadebatte in Berlin darauf gedrängt, Europa sozial gerechter zu gestalten. Neben den Erkenntnissen von Frau Merkel – die
etwa gelernt hat, dass die Pfalz im Jahr 1832 ein Teil des Königreichs Bayern war – war vor allem die Aussage, Europa demokratischer und sozialer zu gestalten, die Quintessenz der Debatte. Wir müssen es endlich schaffen, den Menschen zu erklären, was ihnen die EU-Reform bringt. Wir müssen das Thema von der abstrakten, technokratischen Ebene in die praktische Ebene transportieren. Dafür eignet sich die kommunale Ebene am besten.
Was uns die europäische Integration bringt, liegt eigentlich auf der Hand: Wir können ohne Grenzkontrollen reisen und mit dem Euro in immer mehr Ländern bezahlen. Wir merken auch an unseren Handyrechnungen, dass wir für Telefonate mit dem Mobiltelefon im Ausland weniger bezahlen. Die EU ist auch der Grund dafür, dass wir in Europa in der längsten Friedensphase, die Deutschland je gekannt hat, leben. Konflikte werden in der EU seit fast 60 Jahren ausschließlich am Verhandlungstisch gelöst. Darüber hinaus kann ein Staatenverbund mehr außenpolitischen Einfluss ausüben als ein einzelner Nationalstaat.
Damit die Parlamente ihre neuen Rechte wahrnehmen können, muss gewährleistet sein, dass sie wesentliche Informationen schnell erhalten und auch verarbeiten können. Daher hat der Bundestag ein Verbindungsbüro in Brüssel eingerichtet, und auch wir, der Landtag, haben eine Europareferentin in der Landesvertretung in Brüssel etabliert, die den heißen Draht zum Landtag halten soll. Auch mit der Einrichtung des Europaausschusses wurde der Wichtigkeit europäischer Themen hier im Landtag entsprochen. Diese Maßnahmen haben schon zu einem Bewusstseinswandel sowohl im Bundestag als auch im Landtag geführt. Die Aufmerksamkeit für europäische Angelegenheiten ist seither deutlich gestiegen.
(Beifall des Abg. Thomas Blenke CDU – Abg. Tho- mas Blenke CDU: Wenn von denen niemand klatscht, muss ich es machen! Einer muss ja für Frau Lösch klatschen!)
Allerdings, liebe Kolleginnen und Kollegen, möchte ich davor warnen, dass wir unsere Mitwirkungsrechte in europapolitischen Fragen dazu gebrauchen, zu Europamäklern zu werden, die Brüssel vielfach Einmischung in Dinge unterstellen, die wir regional möglicherweise besser regeln können oder bereits geregelt haben, wie z. B. bei der Bodenschutzrichtlinie oder den Grünbüchern zu Sport, Stadtverkehr oder Gesundheit. Ich finde, dass das Frühwarnsystem und das Instrument der Subsidiaritätskontrolle innovative Impulse und Initiativen der EU-Kommission nicht vom Tisch fegen dürfen. Vielmehr müssen sie von uns dazu genutzt werden, thematisch jeweils detailliert zu prüfen, wo es Sinn macht, auf europäischer Ebene den Rahmen festzulegen, um in Europa und international nachhaltig und sozial verantwortlich Zukunft zu gestalten.
Wichtige Aufgaben liegen vor uns. Wir brauchen eine stärkere Zusammenarbeit in den Bereichen Klima, Energie, Soziales und Wirtschaft. Hier müssen wir Europa weiterbringen.