Wir als SPD-Fraktion stellen uns ein Wahlrecht mit folgenden Elementen vor: Bei der Größe der Wahlkreise sollte allenfalls eine Abweichung von 10 bis 15 % zulässig sein. Darüber besteht in der Tendenz auch Einigkeit in diesem Haus. Wir können uns ein Wahlsystem vorstellen, das eine Erst- und eine Zweitstimme vorsieht, um auch dem persönlichen Profil eines Kandidaten in der Wahlentscheidung durch die Erst- und Zweitstimme mehr Geltung zu verschaffen. Wir können uns vorstellen, dass eine gerechtere Auszählung möglich wird. Wir wollen dringend eine Wahlrechtsänderung aus einem Guss und nicht in zwei Stufen verteilt auf mehrere Jahre. Das habe ich bereits gesagt.
Die Einsprecher haben diese Gesichtspunkte vorgetragen. Der Staatsgerichtshof wird darüber zu entscheiden haben. Nach unserer Auffassung gehen die Argumente, die in diesem Einspruch vorgetragen worden sind, in die richtige Richtung. Sie weisen auch uns, glaube ich, den Weg, wohin wir mit der Änderung des Wahlrechts gehen müssen. Deswegen stehen wir diesen Argumenten aufgeschlossen gegenüber und unterstützen die Einsprecher in ihrem Bestreben. Wir werden deshalb der Beschlussempfehlung nicht zustimmen, um ein Signal zu setzen, dass wir als Parlament aufgefordert sind, diesen Argumenten zu folgen und das Wahlrecht entsprechend fortzuentwickeln.
Ich bitte deshalb, Herr Präsident, über den Beschlussvorschlag unter dem Buchstaben i dieses Tagesordnungspunkts getrennt abstimmen zu lassen, damit wir gegen diese Beschlussvorlage votieren können.
Frau Präsidentin, verehrte Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte mich zunächst für meine Fraktion den Worten des Dankes anschließen. Verehrter Herr Kollege Herrmann, ich finde, es war eine konstruktive Arbeit im Wahlprüfungsausschuss: zügig, aber
mit der gebotenen Gründlichkeit. Wir können heute, denke ich, ein gutes, überzeugendes Ergebnis vorlegen, unabhängig von den Fragen, die dahinterstehen und die selbstverständlich im Rahmen dieser Legislaturperiode geklärt werden müssen.
Meine Botschaft aus der Tätigkeit im Wahlprüfungsausschuss ist eindeutig die: Der Landtag – wir – sollte in eigener Souveränität ohne weiteres schuldhaftes Verzögern, wie es so schön heißt, aber dennoch gründlich eine grundlegende Reform des Landtagswahlrechts auf den Weg bringen. Das ist die eindeutige Botschaft der Diskussionen in den letzten Wochen im Ausschuss. Meine Damen und Herren, das sollten wir uns tatsächlich zu Herzen nehmen.
Wir sollten nicht – wie schon einmal – wieder auf den Staatsgerichtshof warten, der uns dann vielleicht zu Korrekturen zwingt. Das ist für ein frei gewähltes Parlament immer eine missliche Situation. Ich denke, wir haben die Souveränität, das zu vermeiden. Ich behaupte, die Wahrscheinlichkeit, dass der Staatsgerichtshof uns bewegen oder zwingen könnte, ist um einiges höher als bei der letzten Rechtsprechung im Jahr 1990. Herr Kollege Herrmann, wir sind uns sicher einig, mit der 33 1/3-%-Regel bezüglich der Abweichung werden wir keinen Staat mehr machen können. Das wird in Zukunft keinen Bestand mehr haben.
Wir haben eine neue Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wir haben ein geändertes Bundestagswahlrecht. Da gelten andere Grenzen – Grenzen, die zu deutlich größerer Wahlgerechtigkeit und Erfolgsgerechtigkeit der Stimmen der Wählerinnen und Wähler führen. Daran werden wir uns orientieren müssen.
In der Koalitionsvereinbarung ist eine Wahlrechtsreform angekündigt. Ich hätte – das sage ich ganz offen – heute ein bisschen mehr von Ihnen erwartet als nur einen Bericht über die Arbeit des Ausschusses. Ich hätte gern ein paar Aussagen dazu gehört, was wir denn nun im Laufe der nächsten Wochen und Monate seitens der Koalition zu erwarten haben und welche Elemente diese Wahlrechtsreform tatsächlich umfassen soll. Vielleicht kommt das ja noch im weiteren Verlauf der Aussprache. Das war doch ein bisschen wenig.
Wie gesagt: Ich halte die Wahrscheinlichkeit für deutlich höher als noch vor 16 Jahren, dass der Staatsgerichtshof feststellt: Ihr müsst unter verschiedenen wichtigen demokratischen Gesichtspunkten dringend euer Wahlrecht reformieren. Die Abweichung in der Größe der Wahlkreise ist dabei nur ein Argument von vielen.
Wir erwarten dabei auch, dass der Landtag und die Fraktionen, wie es versprochen ist, von Anfang an in den zuständigen Ausschüssen an den Gesprächen beteiligt werden, dass wir auf gleicher Augenhöhe verhandeln und dass hier nicht eines Tages als Überraschungscoup ein fertiger Koalitionsgesetzentwurf vorliegt. Auch das ist eine klare Forderung und Erwartungshaltung.
Also bitte so schnell wie möglich und so gründlich wie nötig! Wir haben dazu 2001 und in den folgenden Jahren Vorschläge gemacht. Ich will gern darauf verzichten, unsere Elemente der Wahlrechtsreform heute noch einmal in epischer Breite vorzustellen, aber sie sind dem Hause ja bekannt.
Ich will mich auf die Fragen konzentrieren, mit denen wir uns im Wahlprüfungsausschuss aus verfassungspolitischer Sicht beschäftigt haben. Sie sind erheblich. Da schließe ich mich dem Kollegen Stickelberger gern an; da haben wir eine ähnliche Auffassung, sowohl politisch als auch verfassungsrechtlich.
Der Wahlprüfungsausschuss war gut beraten, diese Anhörung durchzuführen und sich nicht nur auf seine formale Zuständigkeit zu beschränken.
Meine Damen und Herren, man musste auch kein Prophet sein, um vorauszusehen, dass das letzte Änderungsgesetz aus dem Jahr 2004 – gerade war die Rede davon – letztendlich kein einziges Problem lösen wird. Es war in der Tat ein Minireförmchen mit extremer Schieflage; so will ich das einmal ausdrücken. Es war interessengeleitet hinsichtlich von Wiederwahlchancen in einzelnen Wahlkreisen. Das legendäre Zitat, Frau Kollegin Berroth, wird Ihnen noch eine gewisse Zeit lang anhaften.
(Abg. Heiderose Berroth FDP/DVP: Das war so nicht gemeint! Aber wer es falsch verstehen will, versteht es falsch!)
Ich denke, bei der Wahlrechtsreform muss es um etwas völlig anderes gehen. Herr Kollege Haas hat das als Alterspräsident in unserer ersten Sitzung sehr richtig festgestellt. Ich darf das mit Erlaubnis der Frau Präsidentin und des Kollegen noch einmal zitieren, denn ich empfand das als ein wirklich wichtiges und zukunftstiftendes Zitat:
Das Wahlrecht hat einerseits gegenüber dem Kandidaten gerecht zu sein, aber es hat insbesondere die gleiche Gewichtung der Wählerstimmen zu gewährleisten. Wenn die Zahl der Wahlberechtigten in manchen Wahlkreisen von dem Durchschnitt der Zahl der Wahlberechtigten in allen Wahlkreisen um über 20 % nach unten bzw. nach oben abweicht, dann bedeutet dies, dass das Gewicht der Stimmen des Wählers um nahezu 50 % differiert.
Wahlgerechtigkeit muss in einem modernen Wahlrecht also heißen, meine Damen und Herren: Erfolgswertgleichheit der Stimmen der Wahlberechtigten einerseits, Chancengleichheit der Kandidatinnen und Kandidaten andererseits.
Das setzt nun einmal elementar voraus, dass die Wahlkreise, gemessen an der Zahl der Wahlberechtigten, möglichst geringe Abweichungen von der durchschnittlichen Wahlkreisgröße aufweisen. Von diesem Zustand sind wir trotz Korrekturen an zehn oder elf Wahlkreisen vor der letzten Landtagswahl noch ein großes Stück weit entfernt. Der Unterschied zwischen dem kleinsten und dem größten Wahl
kreis in Baden-Württemberg beträgt immer noch 55 000 Wahlberechtigte. 30 % der Wahlkreise weisen immer noch eine Abweichung vom Durchschnitt von mehr als 15 % nach oben oder nach unten auf. Da steckt also die Musik drin; da liegt der Reformbedarf.
Obwohl es bei der Bundestagswahl ein Zweitstimmenwahlrecht gibt und es also auf die Größe der Wahlkreise entscheidend weniger ankommt, haben wir dort eine erheblich größere Wahlkreisgerechtigkeit als bei der Landtagswahl. Ich finde, es muss uns Auftrag sein, diesen Unterschied endlich zu überwinden.
Wir teilen deshalb die Rechtsauffassung der Einspruchsführer aus Heilbronn und anderen Orten. Es geht ein Stück weit auch um die Wahlkreisergebnisse in Stuttgart. Es ist tatsächlich so – ich formuliere es bewusst zurückhaltend –: Unser Wahlrecht ist an diesem Punkt verfassungsrechtlich mindestens bedenklich, weil es diesem überragenden Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit nicht mehr in der gebotenen Weise Rechnung trägt. Es ist müßig, jetzt darüber zu spekulieren, ob der Rubikon bereits überschritten ist oder ob wir erst kurz davor sind. Der Staatsgerichtshof wird das, was die Wahl 2006 betrifft, feststellen.
Wir sollten das zum Anlass nehmen, uns nach vorne zu orientieren und ab der Landtagswahl 2011 tatsächlich eine verfassungsgemäße Bestimmung des Wahlrechts vorzunehmen und ein modernes Wahlrecht zu schaffen, bei dem die Bürgerinnen und Bürger endlich einmal wieder das Gefühl haben: Mit meiner Stimme erreiche ich auch das von mir verfolgte Ziel. Das ist, denke ich, auch eine Aufgabe, die vor uns liegt.
(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD – Abg. Winfried Scheuermann CDU: Bei uns ist das Ziel erreicht! – Gegenruf der Abg. Brigitte Lösch GRÜNE)
Das, was Sie, Herr Kollege Herrmann, in der Koalitionsvereinbarung mittlerweile festgelegt haben – wir wissen ja noch gar nicht, ob es kommen wird –, nämlich das Wechseln bei der Zweitauszählung von den absoluten Stimmenzahlen zu den Prozentzahlen, ist nun wirklich nicht der Weisheit letzter Schluss. Es macht die Wahlkreisgröße immer noch zum bedeutenden Faktor, und es macht vielleicht – wir haben ja alle ein Problem mit der sinkenden Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen und auch bei anderen Wahlen – auch die Zusammensetzung eines Landtags von der Wahlbeteiligung in einzelnen Wahlkreisen abhängig. Das sind für uns zwei starke Argumente, bei denen ich meine, dass die Koalitionsfraktionen ihre Vereinbarung noch einmal überprüfen sollten.
Ein Korridor zwischen 10 und 15 %, wie ihn auch Herr Kollege Stickelberger benannt hat, ist tolerabel. Das ist das Ziel, auf das wir uns gemeinsam verständigen müssen. Es gibt aber noch eine Reihe anderer Punkte, die auch schon angesprochen wurden und auf die ich deshalb nur ganz kurz eingehen möchte:
Das System der Ermittlung der Überhang- und Ausgleichsmandate führt zu Verzerrungen. Das ist eigentlich unbestritten und muss auch unbestritten sein.
Wir haben ein falsches Verhältnis von Direktmandaten, Wahlkreismandaten, zu Zweitmandaten. Auch das müssen wir anpassen.
Und das alte Stichwort – die CDU wird es sich so lange anhören müssen, bis sie das geändert hat –, das Bevorzugen der stärksten Partei durch das d’hondtsche Höchstzahlverfahren, ist nun einmal ein Ärgernis, nicht nur für die anderen Fraktionen, und es ist zudem undemokratisch. Nach unserer Überzeugung ist es auch nicht mehr verfassungsgemäß und gehört daher auf den Müllhaufen der Geschichte, meine Damen und Herren.
(Beifall bei den Grünen – Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Jawohl! – Abg. Klaus Herrmann CDU: Führen wir die Mehrheitswahl ein, dann haben wir alle die Probleme nicht, Herr Kollege! – Zuruf des Abg. Winfried Scheuermann CDU)
Mit einem Stimmenanteil von 40 % können Sie den Landtag und die Landespolitik dominieren. Erklären Sie mir einmal, was daran noch demokratisch sein soll, meine Damen und Herren!
Der erste Schritt, der gemacht worden ist, nämlich die Einführung des Verfahrens nach Sainte-Laguë/Schepers, ist ein Fortschritt. Es wird in diesem Punkt den Erfolgswert der Stimmen ausdrücklich verbessern. Das werden wir sehen. Wenn wir dieses Verfahren jetzt schon gehabt hätten – und Sie hatten Gründe dafür, es für die Landtagswahl 2006 noch nicht einzuführen, sondern erst für die Landtagswahl 2011 –, dann hätte es bereits jetzt auf die Zusammensetzung dieses Landtags Auswirkungen gehabt. Auch das gilt es an dieser Stelle festzuhalten.
Wir haben also Grund zu einer umfassenden Reform. Wir sind auch dafür, dass die Reform in einem Guss und nicht in zwei Trippelschritten erfolgt. Denn dann wäre tatsächlich keine Wahlkreiskontinuität gewährleistet. Das ist doch immer ein Anliegen, das Sie haben: Historisch gewachsene Bindungen sollen gepflegt werden, Wahlkreise sollen nicht immer wieder auseinandergerissen werden. Mit dem, was Sie vereinbart haben, wird aber genau das passieren.
Deswegen muss auch noch einmal darübergegangen werden. Das ist, wie gesagt, ein großer Reformauftrag des Landtags in dieser Legislaturperiode. Wir sind dazu bereit. Wir sind zu Gesprächen zu jeder Tages- und Nachtzeit bereit.
Zurück zum Auftrag des Wahlprüfungsausschusses: Aus formalen Gründen ist es so – da bitte ich die Kolleginnen und Kollegen von der SPD um Verständnis –, dass auch der Einspruch der Einspruchsführer unter dem Buchstaben i vom Wahlprüfungsausschuss und auch heute vom Landtag nicht befürwortet werden kann. Es ist nicht Aufgabe des Landtags und war nicht Aufgabe des Ausschusses, die Verfassungs- und Rechtmäßigkeit des Wahlgesetzes auf den Prüfstand zu stellen.
In allen Punkten, die noch übrig geblieben sind, wird unsere Fraktion den Beschlussempfehlungen des Wahlprüfungsausschusses folgen.