Protocol of the Session on June 1, 2005

Klar sein muss: Wenn wir es wirklich ernst meinen mit diesem Anspruch, Baden-Württemberg zum kinder- und familienfreundlichsten Land zu machen, dann muss Schluss sein mit der Stückelei, Schluss sein mit Stückwerk. Dann müssen wir wirklich eine stringente Gesamtkonzeption erarbei

ten. Damit müssen wir heute anfangen und nicht erst morgen oder übermorgen.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grü- nen)

Das Wort erteile ich der Ministerin für Kultus, Jugend und Sport, Frau Dr. Schavan.

(Abg. Schmiedel SPD: Das sind doch zwei Mün- der! Was ist denn da los? – Abg. Capezzuto SPD: Gespaltene Zunge!)

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren! Als ich jetzt zugehört habe, habe ich mich gefragt, wo Sie in den letzten zehn Jahren eigentlich waren, wenn Sie heute den Eindruck erwecken, als seien wir in Baden-Württemberg erstmals dabei, Bildung in frühen Jahren zu entdecken. Deshalb darf ich, bevor ich Ihnen Informationen zu den nächsten Schritten gebe, ein paar Stationen in Erinnerung rufen.

1996 hat eine landesweite Tagung zur Weiterentwicklung des Lernens in frühen Jahren stattgefunden, und zwar ausgehend von der Arbeit der Grundschule. Damals haben uns die Entwicklungspsychologen und die Hirnforscher gesagt: Es muss Schluss damit sein, dass Kinder zu spät eingeschult werden. Wir dürfen nicht nur an das Jahr vor der Schule denken. Wir brauchen ein Gesamtkonzept.

Unmittelbar danach haben wir uns an die Arbeit gemacht. Ich sage Ihnen: In der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre saßen die Kinder da, wo die SPD regiert hat, noch im Sandkasten, und da, wo die CDU regiert hat, durften sie zur Schule gehen. Das war der Unterschied.

(Beifall bei der CDU – Widerspruch bei der SPD – Abg. Marianne Wonnay SPD: Das ist ja vollkom- mener Quatsch! Sie haben eine äußerst selektive Wahrnehmung! – Abg. Zeller SPD: Sie waren zu wenig im Sandkasten! – Abg. Carla Bregenzer SPD: So ein Unsinn! – Unruhe)

Ich war nicht mehr im Sandkasten. – Ich erinnere mich gut an die Überschriften von damals und an die Empörung darüber, dass Kinder nun nicht mehr kurz vor Vollendung des siebten Lebensjahrs eingeschult werden, sondern möglicherweise sogar Kinder eingeschult werden dürfen, die noch keine sechs Jahre alt sind. Tun Sie doch jetzt nicht so, als hätte das irgendjemand von Ihnen Mitte der Neunzigerjahre gut gefunden.

(Abg. Carla Bregenzer SPD: Das wäre ohne Mo- dellversuche auch nie herausgekommen!)

Das waren heftige Debatten, auch hier im Haus.

Dann haben wir ab 1998 in mehreren Etappen die Flexibilisierung des Stichtags durchgeführt, weil wir im Unterschied zum Beispiel zu dem, was die SPD in NordrheinWestfalen vorhatte, immer gesagt haben: Wer so etwas einrichtet, wer sich nicht mehr nur noch auf jahrgangsbezogenes Arbeiten konzentriert, wer individuelle Förderung will,

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Richtig! – Abg. Marian- ne Wonnay SPD: Aber das macht NRW doch! Was bauen Sie denn auf? Genau das macht NRW!)

darf nicht nur eine Praxis theoretisch ändern, sondern muss dafür sorgen, dass die Grundschulen über zusätzliche Lehrerstellen diese Möglichkeiten bekommen.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Deshalb haben wir den Stichtag in drei Etappen verändert. Die letzte Etappe ist 2005 in Kraft getreten. Ich habe vor 14 Tagen in meinem Wahlkreis die Grundschule in Affalterbach besucht. Da ist das jüngste Kind in der ersten Klasse viereinhalb Jahre alt.

(Zuruf des Abg. Dr. Noll FDP/DVP)

Da wird das – wie an vielen Grundschulen in Baden-Württemberg – längst praktiziert.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Eben!)

Wir stellen keine Dogmen auf. Wir sorgen dafür, dass es in den Grundschulen und in den Kindertagesstätten kindgerecht zugeht.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Hillebrand CDU: Sehr gut!)

Wir haben neben dieser Flexibilisierung des Stichtags eine Weiterentwicklung der Grundschulförderklassen vorgenommen mit dem Schwerpunkt der Sprachförderung. Wir haben über die Landesstiftung das Programm zur Sprachförderung aufgelegt, das Sie kennen. Wir haben die Kooperation zwischen Grundschulen und Kindergärten verstärkt. Die Verwaltungsvorschrift sollte übrigens geprüft werden. Sie wird natürlich nicht abgeschafft. Aber das, was da an Erfahrungen gesammelt worden ist, wird in den Orientierungsplan und in eine Weiterentwicklung der Kooperation übergehen.

Übrigens hat auch nie jemand vorgehabt, Schuleingangstests abzuschaffen. Die einzige Frage, die gestellt worden ist, war: Soll der Schuleingangstest weiterhin in den Gesundheitsämtern stattfinden, oder soll er in einer freien Arztpraxis stattfinden?

(Abg. Marianne Wonnay SPD: Wo Sie weniger Kinder erreichen!)

Jetzt muss ich einmal sagen: Wahrscheinlich wird es so bleiben, wie es ist. Aber in der Frage, ob es nun der eine oder aber ein anderer macht, einen qualitativen Unterschied zu sehen,

(Abg. Marianne Wonnay SPD: Ein quantitativer Unterschied! So würden nicht mehr so viele Kinder erreicht! Das ist das Problem!)

finde ich auch leicht übertrieben.

Das heißt, wir haben seit Mitte der Neunzigerjahre viele verschiedene Maßnahmen ergriffen und Entwicklungsmöglichkeiten in Grundschulen und Kindertagesstätten geschaffen, sodass wir jetzt auch auf der Grundlage dieser Erfah

(Ministerin Dr. Annette Schavan)

rungen, dieser Flexibilisierung in vielerlei Hinsicht, das nächste Kapitel aufschlagen werden.

Da sage ich ganz klar: Es wird nicht einen Orientierungsplan und gleichzeitig ein Konzept „Schulreifes Kind“ geben. Es gibt völlige Übereinstimmung zwischen dem Ministerpräsidenten, den zuständigen Ressorts, den kommunalen Landesverbänden und den freien Trägern darin, dass die Akzentuierung des letzten Jahres vor der Schule über zusätzliche Ressourcen, die von der Schule in den Kindergarten verlagert werden – das ist das Neue –, natürlich ein Bestandteil des Orientierungsplans ist. Natürlich aber konzentrieren wir uns nicht nur auf dieses letzte Jahr.

Und, mit Verlaub gesagt: Wer hat denn, bitte schön, Manfred Spitzer entdeckt? Das waren wahrscheinlich auch Sie?

(Lachen bei Abgeordneten der SPD)

Haben Sie auch das erste Institut in Deutschland gegründet, in dem Neurowissenschaftler in Bezug auf pädagogische Fragestellungen arbeiten?

(Abg. Wintruff SPD: Der Schulausschuss war der Erste, der darüber diskutiert hat! – Abg. Ursula Haußmann SPD: Was gut ist, darf man doch auch zitieren, oder nicht? Das ist ja so kleinkariert!)

Herr Wintruff, regen Sie sich nicht auf. Das alles wirkt ein bisschen wie Verzweiflung, wenn ich Sie hier reden höre. Geben Sie doch wenigstens zu, wer in den letzten zehn Jahren hier regiert hat.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP – Abg. Carla Bregenzer SPD: Meine Güte! Das ist vielleicht ein Niveau!)

Es ist völlig klar und es besteht Konsens darüber, dass wir die Drei- bis Sechsjährigen im Blick haben. Und ich sage Ihnen: Wenn Sie an die Situation in Baden-Württemberg im Jahr 2020 denken, dann könnte es sein, dass die großen Phasen der Bildungsbiografie dann von 3 bis 10 Jahren und danach von 10 bis 17 Jahren gehen und dass danach der tertiäre Bereich beginnt. So wird es kommen; Sie werden sich noch wundern. Wenn das in Baden-Württemberg geschafft ist, wird dies auch anderswo umgesetzt.

Letzter Punkt, Frau Wonnay: Ich habe Ihnen ja gesagt, dass der Orientierungsplan hier vorliegt. Ich darf ihn aber wohl noch lesen, bevor er veröffentlicht wird. Ich finde, es ist ein großer Unterschied – darauf habe ich Wert gelegt –, ob eine Landesregierung mit Experten einen Orientierungsplan entwickelt, ihn dann verkündet und erst danach im Land einmal schaut, ob es Unterstützung hierfür gibt, oder ob man einen anderen Weg geht.

Diesen anderen Weg sind wir gegangen, und zwar ganz bewusst: Wir, das Kultus- und das Sozialministerium, haben im März 2004 eine erste umfassende Beratung mit den freien Trägern, den Kirchen und den kommunalen Landesverbänden durchgeführt und uns dabei auf Eckpunkte verständigt. Wir haben dann im Juli 2004 – das ist kein Jahr her; es sind seitdem noch keine zwölf Monate vergangen – eine Vereinbarung über diese Eckpunkte und über das weitere Procedere beschlossen. Wir haben dabei extra, auch im

Hinblick auf deren zeitliche Vorstellungen, die Impulse der Träger unserer Kindertageseinrichtungen – sie sind unmittelbar am Prozess der Erarbeitung des Orientierungsplans beteiligt – aufgenommen. Wenn dieser Orientierungsplan nun zum Beginn des neuen Kindergartenjahres für die Kindergärten, die sofort einsteigen wollen, zur Verfügung steht, dann handelt es sich dabei wirklich um den Konsens aller, die für dieses Projekt wichtig sind.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Da wurde nichts über- gestülpt!)

Denn mit dem neuen Kapitel, das wir da aufschlagen, soll auch ein großer Schub für eine nachhaltige Entwicklung möglich werden. Es geht nicht nur um eine Schlagzeile oder darum, irgendeinem Trend hinterherzulaufen. Deshalb lassen wir uns jetzt überhaupt nicht unter Zeitdruck setzen. Das Ding muss sehr gut sein, und es wird sehr gut sein. Es wird keine Riesenepistel sein, sondern eine sehr präzise Auswertung bisheriger Erfahrungen im Bereich des Lernens vor dem Schuleintritt. Es wird eine sehr präzise Orientierung für Eltern und für Kindertagesstätten sein, und es gibt ein riesengroßes Interesse aufseiten der Kindergärten und der Träger. Seitens des Landes werden annähernd 2,8 Millionen € für die Phase der Implementierung und für die Weiterqualifizierung von Multiplikatoren, auch in unseren Grundschulen, zur Verfügung gestellt. Bei aller Liebe zur Schnelligkeit, die mir eigen ist:

(Abg. Schmiedel SPD: Zehn Jahre!)

Bei uns gehören Schnelligkeit und Gewissenhaftigkeit zusammen. Es wird ein sehr gutes Konzept werden. Damit wird eine nachhaltige Entwicklung in Gang gesetzt. Vor allem ist es ein Konzept, das im Konsens aller Beteiligten zustande kommt. Deshalb freue ich mich schon sehr auf weitere Debatten zum Thema „Vorschulisches Lernen“.

Der Unterschied zwischen uns und anderen besteht darin, dass das, was wir auf den Weg bringen, dann auch tatsächlich funktioniert und sich nicht in Überschriften erschöpft.

Ich danke Ihnen.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Meine Damen und Herren, die Große Anfrage der Fraktion der SPD ist mit dieser Aussprache erledigt.