Protocol of the Session on May 5, 2004

und dass diese Haltung von allen Regierungen – auch der Bundesrepublik Deutschland – bis heute so vertreten wurde?

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Abg. Drexler SPD: Auch von Helmut Kohl! – Zurufe von der CDU)

Herr Kollege Birzele, ist Ihnen bekannt, dass der EU-Kommissar Verheugen – in Klammern: SPD – seit 1998 einen Beitritt der Türkei äußerst kritisch bewertet und ihn ablehnt?

(Zurufe von der CDU: Aha! – Beifall bei der CDU – Abg. Drexler SPD: Das stimmt doch gar nicht!)

Es gibt ein Interview der „Welt“ mit ihm zu diesem Thema. Das kann ich Ihnen gern zur Verfügung stellen.

(Abg. Drexler SPD: Kritisch, aber er lehnt es nicht ab, Frau Gräßle!)

Wir müssen den Menschen sagen, dass die Europäische Union eine andere Berufung hat, als Schwellenländer in ihre Gemeinschaft zu integrieren. Und ich glaube, dass wir alle einen großen Fehler machen, wenn wir das ursprüngliche Ziel der Europäischen Union zurückdrängen, nämlich den gemeinsamen Wirtschaftsraum herzustellen, den Binnenmarkt herzustellen, um für die weltweite Auseinandersetzung mit dem amerikanischen und dem japanischen Wirtschaftsraum gerüstet zu sein. Wir dürfen diese ursprüngliche Intention Europas nicht weiter zurückdrängen, um weiter auf einen Erweiterungskurs zu setzen. Die Osterweiterung ist gut und wichtig für den Frieden in Europa, sie ist wichtig gerade auch für Baden-Württemberg, sie ist wichtig, weil sie Chancen eröffnet. Aber ich glaube, dass wir, was die Zukunft Europas betrifft, von weiteren Erwei

terungen eindeutig absehen sollten. Wir müssen in dieser Frage eine klare Botschaft an die Bevölkerung richten. Wir sind inzwischen in einer dramatischen Situation. Ich bin jeden Tag bei den Menschen draußen.

(Abg. Drexler SPD: Wir auch! Jesses Gott!)

Ich weiß, was die Menschen denken und wie groß der Ansehensverlust Europas inzwischen geworden ist.

(Beifall bei der CDU – Abg. Kretschmann GRÜ- NE: Man kann ihnen die Ängste nehmen oder diese verstärken! – Zuruf von der SPD: Sie schüren die Ängste!)

Ich kann die Bundesregierung nur auffordern, sich als Lokomotive an die Spitze der Bewegung zu setzen,

(Abg. Drexler SPD: Welche Bewegung?)

um ein einigeres Europa herbeizuführen, als es bis jetzt ist. Nur so werden wir alle

(Abg. Fischer SPD: Sie widersprechen sich in je- dem zweiten Satz, Frau Kollegin Gräßle!)

den Erfolg haben, den wir mit Europa brauchen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der CDU)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Rust.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Frau Gräßle, Sie haben so gut angefangen mit den Chancen, die wir in Europa sehen müssen. Herr Palmer hat kürzlich in einem Interview über die deutsche Mentalität, immer zuerst die Risiken und das Schlechte zu sehen, gesprochen. Er hat darauf hingewiesen, wir sollten doch die Chancen einer Erweiterung sehen. Sie haben das anfangs gemacht und sind dann leider wieder in die übliche etwas kleinkarierte Haltung zurückgeschwenkt,

(Abg. Fleischer CDU: Realistisch!)

die Bundesregierung als Ursache alles Schlechten zu sehen. Bei Ihnen ist immer die Bundesregierung schuld. Das sehe ich nicht so.

(Beifall bei der SPD und den Grünen)

Wir müssen heute die Chancen sehen. Am letzten Freitag hat sich der Bundestag mit diesem Thema beschäftigt, und ich glaube, dass wir uns als Parlament einer der wichtigsten Regionen in Europa auch mit diesem Thema beschäftigen sollten, und zwar vielleicht noch etwas ausführlicher, als wir das heute tun.

Die Große Anfrage der CDU gibt uns heute Gelegenheit zur Diskussion, wenngleich wir bei den vielen, vielen wichtigen Einzelfragen die historische Dimension dieser Erweiterung nicht verkennen dürfen. Bei allen berechtigten Diskussionen über die Ökonomie, über Fragen des Steuerrechts oder der Arbeitnehmerfreizügigkeit dürfen wir eines nicht vergessen: Mit dieser Wiedervereinigung – „Wiedervereinigung“ trifft es eigentlich besser als „Erweiterung“ – haben

wir die einzigartige Chance, für 450 Millionen Menschen einen Raum des dauerhaften Friedens und der Freiheit zu schaffen, wie er noch nie in Europa existiert hat.

(Beifall bei der SPD und den Grünen sowie des Abg. Theurer FDP/DVP)

Aber, meine Damen und Herren, wir dürfen auch nicht leugnen, dass die Wiedervereinigung Europas auch so manche Ängste bei den Menschen weckt,

(Abg. Fleischer CDU: Jawohl! Sehr richtig! Wie Frau Gräßle gesagt hat!)

und wir Politiker müssen auf allen Ebenen diese Ängste ernst nehmen. Wenn es nämlich nicht gelingt, Europa als ein Europa der Menschen zu schaffen, wenn Europa bei den Menschen nur mit Ängsten in Bezug auf Sicherheit und den Arbeitsplatz oder mit Bürokratie in Verbindung gebracht wird, dann ist das Projekt Europa zum Scheitern verurteilt. Darum müssen wir uns, liebe Kolleginnen und Kollegen, über alle Parteigrenzen hinweg darauf konzentrieren, die vielen, vielen Vorteile, die Europa auch für Baden-Württemberg bringt, herauszuarbeiten und den Menschen näher zu bringen.

Wir dürfen dabei die Ängste nicht wegschieben, sondern müssen darauf eingehen. Ich möchte das in Anlehnung an die Große Anfrage in zwei Punkten kurz tun. Ich werde dann auch noch den Punkt Türkei ansprechen.

Zum ersten Punkt: Was die Verlagerung von Firmen in die osteuropäischen Länder angeht, sind die Fakten tatsächlich weniger besorgniserregend, als es von manchen Verbandsvertretern suggeriert wird. Fakt ist, dass die ökonomische Integration der Beitrittsländer in weiten Teilen bereits abgeschlossen ist. Dieser Prozess hat seinen Höhepunkt in den Neunzigerjahren gehabt und klingt langsam ab. Es gibt also keine direkte Verbindung zwischen dem Datum des faktischen Beitritts am 1. Mai 2004 und den Verlagerungsentscheidungen, die bereits stattgefunden haben und noch stattfinden werden. 95 % des Außenhandels unterlag bereits vor dem 1. Mai 2004 keinerlei Beschränkungen. Deshalb hängt das auch nicht direkt mit diesem Beitritt zusammen.

Man muss auch eines sagen: Deutschland steht bezüglich des Außenhandels mit fast allen Beitrittsländern auf Platz 1, und Baden-Württemberg nimmt innerhalb Deutschlands auch da eine herausragende Rolle ein. Das schafft Arbeitsplätze in Deutschland, und es schafft Arbeitsplätze in Baden-Württemberg. Experten gehen davon aus, dass schon heute etwa 1 Million Arbeitsplätze in Deutschland vom Osthandel abhängen.

Dabei werden wir uns selbstverständlich dem Wettbewerb mit den Beitrittsländern, was die Standortfaktoren angeht, stellen müssen. Wir müssen uns dabei aber auf unsere eigenen Stärken konzentrieren: auf eine hervorragende Infrastruktur, auf hoch qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, auf hoch qualitative Produkte, auf Rechtssicherheit und vor allem auf sozialen Frieden.

Einen Wettbewerb um die geringsten Löhne, die geringsten Sozialabgaben und die niedrigsten Steuersätze werden wir nie gewinnen können. Diesen Wettbewerb sollten wir gar nicht erst aufnehmen.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Abg. Hauk CDU: Das heißt aber in der Konsequenz, nichts zu tun! – Gegenruf des Abg. Drexler SPD: Stimmt doch gar nicht!)

Wir müssen uns auf unsere eigenen Stärken konzentrieren und versuchen, diese noch viel mehr auszubauen.

Der zweite Punkt, auf den ich eingehen will, betrifft die Angst vor angeblich unverkraftbarer Zuwanderung von Arbeitskräften. In diesem Punkt bin ich der Bundesregierung sehr dankbar dafür, dass sie dieses Problem erkannt und durch eine vernünftige Regelung diese durchaus berechtigten Befürchtungen entkräftet hat. Sie hat die Sorge der Menschen erkannt und hat in Verhandlungen eine Übergangsfrist von sieben Jahren, also bis 2011, erreicht, in der wir auf der Basis bestehender Verträge den Zugang von Arbeitskräften regeln können. In ihrer Antwort auf die Frage 18 der Großen Anfrage hat die Landesregierung auch geschrieben, dass wir weiterhin bestimmte Arbeitskräfte brauchen.

Nun zu den Beitrittsverhandlungen mit der Türkei: Fakt ist, dass die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit Unterstützung der damaligen Bundesregierung schon 1963 mit der Türkei ein Assoziierungsabkommen mit der Option einer späteren Mitgliedschaft

(Abg. Fischer SPD: So ist es!)

geschlossen hat. Fakt ist, dass 1996 die Europäische Gemeinschaft – wieder mit Unterstützung der deutschen Bundesregierung – eine Zollunion mit der Türkei geschlossen hat.

(Abg. Fischer SPD: Wer war das? – Abg. Hauk CDU: Das ist ja in Ordnung! – Abg. Fleischer CDU: Aber das war kein völliger Beitritt! Das ist doch Blödsinn!)

Fakt ist auch, dass 1997 der Europäische Rat in Luxemburg, wieder mit Unterstützung der Bundesregierung, beschlossen hat, eine Strategie zu entwickeln, die es der Türkei ermöglicht, der EU beizutreten. Das müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. Und damals hieß der Bundeskanzler nicht Gerhard Schröder.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Abg. Fi- scher SPD: So ist es!)

Meine Damen und Herren, ich möchte abschließend sagen: Es liegt in der Natur der Sache, dass bei den Menschen das Unbekannte Unsicherheit, Skepsis und manchmal auch Ängste hervorruft. Unsere Aufgabe als verantwortliche Politiker muss es daher sein, den Menschen in Baden-Württemberg Europa näher zu bringen, auf einer sachlichen Ebene Ängste und Bedenken auszuräumen oder zu zeigen, wie wir mit den Problemen umgehen können,

(Abg. Hauk CDU: Wie viele SPDler aus Baden- Württemberg sind denn überhaupt auf der Wahllis- te zum Europäischen Parlament?)

und dadurch mit den Menschen ein Europa für die Menschen zu schaffen. Die junge Generation in unserer Gesell

schaft – als jüngstes Mitglied dieses Hauses darf ich sagen: meine Generation – wird uns ewig dafür dankbar sein.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und den Grünen – Abg. Flei- scher CDU: Das glauben auch nur Sie!)

Meine Damen und Herren, unter unseren Gästen auf der Zuhörertribüne gilt mein besonderer Gruß den Vertretern der Konsularischen Korps aus den EUBeitrittsländern Estland und Slowakei, Herrn Honorarkonsul Helmut Aurenz, dem Vertreter der Republik Estland, und Herrn Honorarkonsul Christoph Goeser, der das Konsulat der Slowakischen Republik in Stuttgart leitet.