Protocol of the Session on November 26, 2003

Es ist nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht jeder deutschen Regierung, klar Nein zu sagen, wenn sie mit Entscheidungen befreundeter Staaten nicht einverstanden sein kann. Der Bundeskanzler hat deshalb letzte Woche in Bo

chum zu Recht gesagt – Sie wollen das nicht mehr gerne wahrhaben, Frau Gräßle; dafür habe ich Verständnis;

(Abg. Dr. Inge Gräßle CDU: Doch, sehr gern, Herr Birzele!)

ich zitiere –:

Unsere Haltung im Irakkrieg hatte nichts mit der Verweigerung von Partnerschaft und Freundschaft zu tun. Sie war Ausdruck des Selbstbewusstseins einer reifen Demokratie.

Diese differenzierte Haltung der Bundesregierung hat Deutschland Respekt und Achtung in der internationalen Staatengemeinschaft eingebracht und unser Land gerade nicht isoliert.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wo stünden wir heute, wenn sich die Bundesregierung entsprechend den Empfehlungen von Merkel und Teufel verhalten hätte?

(Zuruf von der CDU: Oje, oje!)

Die verbesserten Kompetenzabgrenzungen im Verfassungsentwurf werden durch das Klagerecht der nationalen Parlamente bzw. ihrer Kammern beim Europäischen Gerichtshof bei Verletzung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit wirksam kontrolliert werden können. In dem Protokoll über die Anwendung dieser Grundsätze sind enge Zeitvorgaben enthalten: Jedes nationale Parlament oder jede Kammer eines nationalen Parlaments – also bei uns Bundestag und Bundesrat – kann binnen sechs Wochen nach dem Zeitpunkt der Übermittlung eines Gesetzgebungsvorschlags der Kommission in einer begründeten Stellungnahme darlegen, weshalb der Vorschlag nicht mit dem Subsidiaritätsprinzip vereinbar ist.

Diese Stärkung der Rechte der Länder darf jedoch nicht dazu führen, dass allein die Stellung der Landesregierungen im europäischen Gesetzgebungsverfahren gestärkt wird. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass auch die Landesparlamente rechtzeitig ihren Einfluss ausüben können. Deshalb ist es unbedingt erforderlich, durch Einrichtung eines Europaausschusses dafür zu sorgen, dass eine Stellungnahme des Parlaments innerhalb dieses kurzen Zeitraums herbeigeführt werden kann.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kretschmann und Boris Palmer GRÜNE)

Unser bisheriges Verfahren mit der Vorberatung in den Fachausschüssen und der federführenden Beratung im Ständigen Ausschuss ist dafür zu zeitaufwendig. Wir beantragen deshalb die Einrichtung eines Europaausschusses, so wie er im Bundestag und in den anderen Landesparlamenten besteht. Ich hoffe sehr, dass wir heute darüber Einigung erzielen.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kretschmann und Boris Palmer GRÜNE)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Theurer.

Sehr verehrte Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Wenn wir über Europa diskutieren, kommen wir mit Sicherheit an der Diskussion über den Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt nicht vorbei.

(Oh-Rufe von der SPD – Abg. Mack CDU: Bravo!)

Bei der Einführung des Euro und beim Verzicht auf die D-Mark haben wir der Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland gegenüber ein Stabilitätsversprechen abgegeben. Manchmal hat man in der europapolitischen Debatte den Eindruck, als ob Europa daran schuld wäre, dass wir in der Bundesrepublik Deutschland unsere Haushalte in Ordnung bringen müssen,

(Abg. Mack CDU: Sehr gut!)

und dass wir unsere Finanzdefizite nur wegen Europa reduzieren müssen. Das stimmt ja überhaupt nicht. Mit der Vergemeinschaftung der Währung haben wir eine Verpflichtung auch gegenüber denjenigen Ländern, die ihre Haushalte in Ordnung gebracht haben. Wir haben eine Verpflichtung gegenüber der Stabilität der Währung. Wir setzen mit der Abkehr vom Stabilitäts- und Wachstumspakt die Stabilität des Euro aufs Spiel. Wer Hand an diesen Stabilitätspakt legt, wie die Bundesregierung, wie Hans Eichel, der gefährdet die Stabilität des Euro, meine sehr verehrten Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU)

Dies können wir nicht wollen. Nachbarstaaten wie die Niederlande, Österreich und andere mehr haben ihre Haushalte unter Schmerzen in Ordnung gebracht. In einem Prozess, in dem wir uns hier in Baden-Württemberg auch befinden, bei dem wir unter Schmerzen Dinge auf den Prüfstand stellen oder sogar streichen und uns die Proteste aus der Bevölkerung erreichen, haben diese Nachbarländer ihre Haushalte in Ordnung gebracht und damit ihren Beitrag für die gemeinsame Währung geleistet. Wir müssen diesen Beitrag in der Bundesrepublik Deutschland wohlgemerkt zwischen Bund, Ländern und Gemeinden erbringen. Aber in den vergangenen Jahren hat Baden-Württemberg keinen Anteil an der Nichteinhaltung der Defizitgrenze gehabt. Es waren andere Bundesländer und der Bund, die durch zu hohe Verschuldung, gemessen am Bruttoinlandsprodukt, die Grenze überschritten haben.

Die FDP/DVP-Fraktion regt deshalb für die europapolitische Debatte einen fraktionsübergreifenden Konsens für Stabilität und Wachstum und für die Stabilität unserer Währung an. Wir sind der Meinung, dass die in Artikel 115 des Grundgesetzes enthaltene Formulierung des Verschuldungsverbots konkretisiert und präzisiert werden sollte, indem wir die im Stabilitäts- und Wachstumspakt enthaltenen Kriterien in das Grundgesetz mit aufnehmen.

Der zweite Punkt, der auch Niederschlag in dem Europabericht der Landesregierung findet, ist die Diskussion um die europäische Verfassung. Ich denke, an dieser Stelle ist zunächst unserem Ministerpräsidenten zu danken, der als Vertreter der deutschen Länder im Konvent gewirkt und versucht hat, Ziele, die allen Parlamentariern aller Fraktionen des Hauses wichtig sind, in diesen Verfassungsentwurf hineinzubekommen: die Stärkung der Länderrechte, das Sub

sidiaritätsprinzip, Klage- und Einspruchsrecht und einiges andere mehr. Ich möchte an dieser Stelle auch für unsere Fraktion den Dank an unseren Ministerpräsidenten Erwin Teufel aussprechen.

(Beifall bei der FDP/DVP und der CDU)

Ein Europa der 25 kann nicht in denselben Strukturen geführt werden wie ein Europa der 15. Wenn es nicht gelingt, die im Verfassungsentwurf mühsam erarbeiteten Kompromisse umzusetzen, dann wird es schwer werden, in dem erweiterten Europa schnell und vernünftig zu Beschlüssen zu kommen. Deshalb plädieren wir dafür, dass dieser Verfassungsentwurf auch umgesetzt wird. Ein Zurückfallen auf Nizza wäre in der Tat ein Rückschritt.

(Zuruf von der FDP/DVP: Richtig!)

Wir müssen hier Überzeugungsarbeit leisten, auch bei den mittel- und osteuropäischen Nachbarn, bei den kleinen Ländern. Es war mit Sicherheit ein Fehler, dass die Bundesregierung vom Kurs der Vorgängerregierung abgewichen ist, sich praktisch nur mit Frankreich abgestimmt hat und das traditionell gute Verhältnis, das auch die liberalen Außenminister und Bundesregierungen vor der jetzigen Bundesregierung zu den kleinen Ländern in Europa gepflegt haben, aufs Spiel gesetzt hat. Dadurch ist der Eindruck entstanden, dass sich die großen Länder in Europa durchsetzen wollen und die Interessen der Kleinen nicht berücksichtigt werden.

(Abg. Birzele SPD: Aber Herr Kollege, das ist doch ein Ergebnis des Verfassungskonvents, bei dem alle dabei waren!)

Das ist verheerend, denn das Ergebnis des Verfassungskonvents scheint offensichtlich nicht mehrheitsfähig zu sein. Das wird problematisch sein, weil wir im Europa der 25 nicht zu Entscheidungen kommen werden. Da sind wir uns auch einig. Uns geht es darum, wie das Ergebnis des Verfassungskonvents mit den kleinen Ländern hätte durchgesetzt werden können. Da muss noch nachgearbeitet werden.

Meine Damen und Herren, vor dem Hintergrund der verheerenden, schrecklichen und niederträchtigen Terroranschläge in der Türkei fragen sich viele Menschen bei uns, aber natürlich auch in der Türkei, wie das weitergehen soll. Viele Türken in unserem Land, 1,9 Millionen Türken in Deutschland, von denen etwa 600 000 hier geboren sind, blicken mit großer Sorge auf die Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten und im Übergang Kleinasiens zu Europa. Sie fragen sich natürlich auch: Gibt es eine Werte- und Sicherheitsgemeinschaft in Europa, der sie sich anschließen können? Wie kann es die Menschengemeinschaft schaffen, diesen fürchterlichen Terror zurückzudrängen und ihn wirksam zu bekämpfen? Dies ist nicht nur eine Herausforderung an eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik, von der wir weit entfernt sind, sondern es ist auch eine Frage, die hier in Baden-Württemberg eine Rolle spielt, meine Damen und Herren.

Aus den Berichten unserer Ausländerbeauftragten wissen wir, wie zerrissen die Menschen in unserem Lande sind. Ich glaube, es ist auch unsere Aufgabe hier in Baden-Württemberg, einmal darüber nachzudenken und uns zu fragen, welche Heimat Menschen muslimischen Glaubens in Europa

haben können. Sie gehören zweifelsohne zur europäischen Kultur. Es gibt in Europa Länder mit überwiegend muslimischer Bevölkerung. Das gilt für Albanien, und auch in Bosnien-Herzegowina gibt es einen großen muslimischen Bevölkerungsanteil. In unserem Land gibt es eine große Minderheit, die muslimischen Glaubens ist.

Diese Frage ist eine kulturpolitische Herausforderung an Europa, meine Damen und Herren, und wir wollen deshalb dazu beitragen, dass die Grundwerte Freiheit und Menschenwürde, dass Gleichheit und Menschenrechte in den Vordergrund gerückt werden;

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr gut! – Beifall des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

denn man kann diese Diskussion nicht nur außen- und sicherheitspolitisch führen, sondern wir müssen sie in einer Wertediskussion führen, meine Damen und Herren.

Die Fraktion der FDP/DVP hat hier an dieser Stelle – ebenso wie die FDP im Bund – dafür plädiert, den Entwurf der europäischen Verfassung einer Volksabstimmung zu unterwerfen, meine Damen und Herren. Der Antrag der FDPBundestagsfraktion, eine solche Volksabstimmung durchzuführen, ist leider von der rot-grünen Mehrheit abgelehnt worden.

(Lachen des Abg. Birzele SPD)

Sie müssen sich hier schon fragen lassen, meine Damen und Herren, ob Ihre vollmundigen Aussagen, Sie seien für Volksabstimmungen und direkte Demokratie, nicht mehr sind als schöne Sonntagsreden.

(Abg. Pfister FDP/DVP: Das war doch eine Forde- rung der Grünen! – Gegenruf des Abg. Birzele SPD: Sie haben doch in der letzten Legislaturperio- de eine Grundgesetzänderung abgelehnt!)

Denn wenn es darum geht, in einer solch entscheidenden Frage das Volk zu befragen, lehnen Sie das ab. Wir halten das für falsch und sind nach wie vor für eine Volksabstimmung über die künftige europäische Verfassung. Wir werden dann für die Annahme dieser europäischen Verfassung plädieren, meine Damen und Herren.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Lassen Sie mich auf einige Punkte des Europaberichts näher eingehen.

In dem Bericht wird auf die Überlegungen auf europäischer Ebene zum Thema Daseinsvorsorge verwiesen. Wir sind durchaus der Meinung, dass Europa den Rahmen vorgeben muss und dass bestimmte Dinge in Europa einheitlich organisiert werden müssen. Dies sollte sich aber auf wenige Punkte reduzieren. Wir sind nicht der Meinung, dass die Europäische Union alles bis zum Wasserhahn regeln muss. Meine Damen und Herren, wir hoffen, dass gerade in den Bereichen der Daseinsvorsorge, der Bildungspolitik und der Sozialpolitik geeignete Lösungen gefunden werden. Aber auch bei der Frage der Abwasserversorgung und der Wasserversorgung müssen meines Erachtens Lösungen gefunden werden, die eine von anderen Ländern und Regionen abweichende Politik möglich machen.

Die Fraktion der FDP/DVP möchte Straßburg als Sitz des Europäischen Parlaments und einiger europäischer Institutionen erhalten und stärken. Wir fordern die Landesregierung auf, alles zu tun, um diesem Ziel näher zu kommen. Diesem Ziel dient mit Sicherheit der Oberrheinrat. Diesem Ziel dient mit Sicherheit auch der Eurodistrikt, der jetzt vorankommt. Wir als Parlament sollten seine Entwicklung aktiv begleiten, meine Damen und Herren. Diesem Ziel dient auch die Bewerbung der Städte Karlsruhe und Straßburg als europäische Kulturhauptstadt.

Wir sollten aber einmal darüber reden, welche zusätzlichen Maßnahmen Baden-Württemberg – vielleicht auch mit Rheinland-Pfalz und Saarland – unternehmen könnte, damit Straßburg als Sitz des Europäischen Parlaments, als europäische Hauptstadt gestärkt werden kann.

Abschließend möchte ich die Forderung der Fraktion der FDP/DVP erneuern: Wir sind der Meinung, dass die erfolgreiche Zusammenarbeit der „Vier Motoren für Europa“, der vier Regionen dadurch ergänzt werden sollte, dass wir vier Regionen in Mittel- und Osteuropa einbeziehen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr gut!)

Ich möchte die Landesregierung noch einmal auffordern, bitten und ermutigen, das Konzept der „Vier Motoren“ nach Mittel- und Osteuropa zu erweitern im Sinne von „Vier plus vier Motoren“.

Abschließend möchte ich Ihnen, Herr Minister Palmer, und Ihrem Team für die umfangreiche Information im Europabericht danken, aber auch für Ihre Arbeit während des Jahres.