Protocol of the Session on October 29, 2003

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 52. Sitzung des 13. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße Sie.

Urlaub für heute habe ich Herrn Abg. Junginger und für heute Vormittag Herrn Abg. Reichardt erteilt.

Krank gemeldet sind die Herren Abg. Braun und Kaufmann.

Dienstlich verhindert ist Herr Minister Köberle.

(Unruhe)

Wir treten in die Tagesordnung ein. Ich darf Sie bitten, Ihre Plätze einzunehmen und nach Möglichkeit die Gespräche einzustellen.

Ich rufe Punkt 1 der Tagesordnung auf:

Regierungserklärung – Tatkraft für Baden-Württemberg – Mit Mut zu Veränderungen neue Dynamik entfesseln – und Aussprache

Das Wort zur Regierungserklärung erteile ich Herrn Ministerpräsident Teufel.

(Anhaltende Unruhe)

Ich darf Sie nochmals bitten, die Gespräche einzustellen.

(Abg. Herrmann CDU: Die wichtigen Leute sind da!)

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich möchte Ihnen heute keine detaillierte Rechenschaft darüber ablegen,

(Oh-Rufe von der SPD)

was die Landesregierung in der ersten Hälfte dieser Legislaturperiode geleistet hat und als positive Bilanz vorweisen kann.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Das kann man gar nicht aufzählen!)

Da dies in meiner Regierungserklärung jeden Rahmen sprengen würde, habe ich die Halbzeitbilanz dem Herrn Landtagspräsidenten und allen Fraktionen schriftlich vorgelegt. Ich gebe sie zu Protokoll, und ich lasse sie jedem Abgeordneten in sein Fach legen.

Ich will in meiner Regierungserklärung heute stattdessen eine Bestandsaufnahme vornehmen und mit Blick auf einige

Schwerpunktthemen einen Handlungsrahmen für die Zukunft abstecken.

Wie ist die Lage? Wo steht Deutschland? Wo steht BadenWürttemberg? Was muss für Deutschland getan werden, und was muss für Baden-Württemberg getan werden?

Eine weitere entscheidende Frage: Womit verdienen die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes morgen ihr Geld? Das heißt: Wo entstehen die Arbeitsplätze der Zukunft?

Das sind die zentralen Fragen, die die Menschen beschäftigen. Es sind Fragen, auf die sie Antworten erwarten, Antworten, die zu Taten werden und nicht zu einer immer währenden Diskussion, die zu Verbesserungen führen und nicht, wie so oft, als folgenlose Ankündigungen die täglichen Schlagzeilen beherrschen; Antworten, auf die sich die Bürgerinnen und Bürger auch verlassen können, Antworten, die ihnen wieder Sicherheit geben. Politik muss für die Wirtschaft und für die Bürger wieder verlässlich und berechenbar werden. Nur so entsteht Vertrauen. Vertrauen aber ist die wichtigste Ressource für politische Gestaltung in schwieriger Zeit.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Meine Damen und Herren, Deutschland steckt in einer Rezession und in einer nun schon drei Jahre währenden Phase der wirtschaftlichen Schwäche. Deutschland fällt im internationalen Standortvergleich zurück. Die Arbeitslosigkeit in Deutschland steigt und bewegt sich im September dieses Jahres bei 4,2 Millionen. Noch schlimmer ist die große Zahl der vernichteten Arbeitsplätze. Deutschland macht Schulden wie niemals zuvor: Es gab eine Verdopplung der Schulden in einem halben Jahr seit der Verabschiedung des Bundeshaushalts 2003 bis zum heutigen Tag. Die sozialen Sicherungssysteme brechen zusammen. In einer so schwierigen Lage war die Bundesrepublik Deutschland noch nie.

In dieser Situation gibt die Bundespolitik keine Perspektive über den Tag hinaus, sondern bringt jeden Tag sich ändernde Kürzungen, Reformankündigungen, neue Wortschöpfungen. Es ist ein Flicken, bevor das Angedachte und Verkündigte überhaupt verabschiedet ist.

Die Bundestagsabgeordneten wissen am Montag einer Sitzungswoche noch nicht, worüber sie am Donnerstag und Freitag abstimmen müssen.

(Abg. Pfisterer CDU: Unglaublich!)

(Ministerpräsident Teufel)

So sind auch die Gesetze. So entstehen nämlich keine verlässlichen Gesetze und keine verlässlichen Rahmendaten. So entstehen Unübersichtlichkeit und eine totale Verunsicherung der Bürger. Kaufkraftzurückhaltung der Verbraucher und Investitionszurückhaltung der Wirtschaft sind die Folge.

„Wer arbeitet, ist der Dumme“, titelt der „Spiegel“ und weist diese Behauptung mit zahlreichen Beispielen nach. So kann das nicht mehr länger bleiben.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Die Lösung kann nur heißen:

Leistung muss sich wieder lohnen.

Mehr Eigenverantwortung und weniger Staat.

Mehr Mitverantwortung und Solidarität für die wirklich Bedürftigen.

Mehr Wettbewerb und mehr Eigeninitiative.

Mehr Zukunftsvorsorge durch Politik für Familien, für Bildungschancen, für Wissenschaft und Forschung statt Überschuldung des Staates und eines Lebens über unsere Verhältnisse.

Sozial ist heute vor allem, was Arbeitsplätze schafft.

Bürger und Staat müssen aufhören, sich gegenseitig zu überfordern: die Bürger mit Ansprüchen an immer neue Aufgaben des Staates, der Staat mit Ansprüchen auf immer mehr Geld aus den Taschen der Bürger. Wir müssen umdenken. Wir brauchen einen Mentalitätswandel als Voraussetzung für Veränderungen.

Meine Damen und Herren, das Zauberwort heißt wirklich Subsidiarität, und zwar in der dreifachen Bedeutung des Wortes:

Erstens: Was der Einzelne selbst leisten kann, muss er auch selbst leisten. Die Familie hilft sich gegenseitig. Von außen wird nur Hilfe zur Selbsthilfe gegeben.

Zweitens: Freie Träger haben Vorrang vor dem Staat. Der Staat soll erst dann tätig werden, wenn eine Aufgabe von den Menschen selbst oder von freien Trägern nicht ausreichend erfüllt werden kann.

Und drittens: Subsidiarität heißt, der Staat muss von unten nach oben aufgebaut werden. Er muss seinen Aufbau so organisieren, dass die jeweils unterstmögliche Ebene sich der Erfüllung einer Aufgabe annimmt. Das ursprüngliche Recht liegt bei der Gemeinde, der Stadt und dem Kreis. Sie haben das Selbstverwaltungsrecht. Sie brauchen dann aber auch die erforderlichen Finanzmittel, und sie dürfen vom Bund nicht im Sozialbereich durch immer neue Gesetze ohne Finanzausgleich in Milliardenhöhe zusätzlich belastet werden.

(Beifall des Abg. Dr. Scheffold CDU)

Nur wenn die Gemeinden und Kreise überfordert sind, ist das Land zuständig. Nur was die Länder nicht befriedigend leisten können, ist Sache des Bundes. Nur große Probleme, die über die Kraft des Nationalstaats hinausgehen, sind europäische Aufgaben.

Der Staat muss mehr Freiraum für die Bürger lassen. Der Staat muss Tausende von Regeln beschneiden, damit die Wirtschaft wieder Luft zum Atmen hat. Der Staat muss schlanker werden, effektiver, problemnäher und vor allem bürgernäher. Dafür brauchen wir Reformen auf allen Ebenen, und diese Reformen haben ein Ziel: die Kräfte des Bürgers freisetzen, Innovationen ermöglichen, neue Wachstumsdynamik anstoßen und die Schaffung von Arbeitsplätzen und Ausbildungsplätzen ermöglichen.

In den wichtigsten Fragen geht es aber nicht mehr mit dem Drehen eines Schräubchens. Es muss Durchschlagendes zur langfristigen Stabilität des Gemeinwesens und zur Sicherung der sozialen Systeme geschehen. Die Zeit des Durchwurstelns ist vorbei.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Wir müssen den Menschen Perspektiven geben und Mut und Zuversicht wecken. Wir müssen ihnen die Wahrheit sagen und dürfen ihnen auch bittere Tatsachen nicht verschweigen. Wir müssen fragen: Was bringt das Land voran? Wie steigern wir seine Leistungsfähigkeit? Was nützt dem Bürger? Was nützt der Wirtschaft? Was müssen wir tun, damit wir unseren Spitzenplatz halten können?

Dort, wo politische Maßnahmen des Bundes den Bürgern und der Wirtschaft nützen, werden wir sie im Bundesrat unterstützen. Dort, wo Bundesgesetze dem Bürger und der Wirtschaft schaden, werden wir sie verhindern oder wenigstens Schadensbegrenzung für Baden-Württemberg versuchen.

(Abg. Alfred Haas CDU: Sehr gut! – Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)