Protocol of the Session on July 16, 2003

(Abg. Brigitte Lösch GRÜNE: Ach!)

und sind nicht im luftleeren Raum, sondern der erste Schutz, der Kindern zukommt, ist eigentlich der Schutz durch ihre Eltern und durch ihre Familie.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Drexler SPD: Das glaube ich gleich, dass Kinder nicht vom Himmel fallen!)

Das alles sind keine Nebensächlichkeiten, und zu einem objektiven Bild gehört auch dies. In der Summe sollten Sie bitte berücksichtigen, dass die 115 Konventsmitglieder aus 28 Ländern kamen und in den jeweiligen Ländern ganz und gar unterschiedlichen Gruppierungen angehörten, dass ganz wenige eine Grunderfahrung mit Föderalismus und mit einer subsidiären Staatsordnung und Verfassungsordnung hatten, sondern dass man da fast allein war.

Ich habe versucht, nicht nur konkrete Anträge zu stellen und im Plenum zu sprechen, sondern ich habe auch versucht, viele Einzelgespräche zu führen. Ich habe mit jedem Präsidiumsmitglied – elf an der Zahl – wenigstens drei Vieraugengespräche geführt. Ich habe Konventsmitglieder, unbeschadet ihrer Parteizugehörigkeit, an jedem ersten Abend in unsere Landesvertretung eingeladen, und zwar Kollegen, von denen ich angenommen habe, dass sie halbwegs ein Verständnis für Föderalismus haben.

Wenn man dies berücksichtigt und ferner berücksichtigt, dass keiner seine optimalen Vorstellungen überall durchgesetzt hat, sondern dass Kompromisse nötig waren, allerdings keine Kompromisse auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, glaube ich, sondern Kompromisse, die Europa voranbringen, dann muss man sagen: Das Ergebnis ist beachtlich. Deswegen empfehle ich den deutschen Parlamenten die Zustimmung.

(Ministerpräsident Teufel)

Wie geht es weiter? Der Konvent ist nicht der Verfassungsgeber, sondern der Verfassungsgeber ist die Regierungskonferenz der Staats- und Regierungschefs. Ihnen bzw. dem Ratsvorsitz wird noch in dieser Woche das Konventsergebnis übergeben. Sie haben in Thessaloniki eine Regierungskonferenz eröffnet und werden sich als Erstes die Frage stellen müssen, ob sie das Paket aufschnüren wollen. Ich bin mit der Bundesregierung darüber einig – das ist auch mein Rat an meine eigenen Freunde –, dass wir von uns, von Deutschland aus das Paket nicht aufschnüren sollten, aber dass wir, wenn ein anderes Land es aufschnürt, einen klaren Prioritätenkatalog auch der Punkte aufstellen, mit denen wir bisher nicht zufrieden sind und die wir dann einbringen. Ich habe einige dieser Punkte genannt. Dazu würde ich raten.

Wir können auch einiges von dem verlieren, was schon erreicht worden ist. Ein Beispiel hierfür ist die Stimmengewichtung, mit der viele Länder – Spanien an der Spitze – in keiner Weise einverstanden sind. Wir haben etwas zu verlieren. Deswegen sollten wir das Paket nicht aufschnüren, sondern den Kompromiss akzeptieren. Wenn aber andere das Paket aufschnüren, dann haben wir natürlich auch unsere Prioritäten.

In letzter Minute ist bei den Übergangsbestimmungen noch etwas hineingeschrieben worden, was ich für außerordentlich bedeutsam halte und was eigentlich in Artikel 1 stehen müsste, nämlich Europa solle durch „Einheit in Vielfalt“ gebaut werden. Das ist für mich eine Zielsetzung, die ich für geradezu überlebensnotwendig für Europa halte. Nach meiner Meinung hat Europa nur dann Zukunft und wird das „Projekt Europa“ nur dann nicht scheitern, wenn die Europäische Union die ganz und gar unterschiedliche Herkunft, Geschichte, Mentalität und Sprache der Menschen, der Regionen und der Landschaften achtet und so viel Vielfalt lässt, wie überhaupt nur möglich ist, und nur so viel Einheit schafft, wie zwingend nötig ist. Alles Uniforme ist uneuropäisch. Deswegen: Einheit in Vielfalt. Das ist das Europa, das wir gemeinsam bejahen und anstreben.

(Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie der Ministerin Corinna Werwigk- Hertneck – Beifall bei Abgeordneten der SPD und der Grünen)

In der Aussprache erteile ich nach § 83 a Abs. 3 unserer Geschäftsordnung Herrn Abg. Maurer das Wort.

Herr Präsident, meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Der Herr Ministerpräsident hat hier eine erkenntnisreiche Vorlesung über die Ergebnisse und Debatten des Konvents gehalten. Herr Ministerpräsident, ich hätte es besser gefunden, wenn Sie sich am Anfang einfach einmal richtig gefreut hätten

(Heiterkeit bei der SPD und Abgeordneten der Grünen – Abg. Teßmer SPD: Das kann er nicht!)

über die Ergebnisse dieses Konvents, die ja unter Ihrer Mitwirkung einen bedeutenden Schritt hin auf das darstellen, was wir, denke ich, gemeinsam am Ende wollen, nämlich ein vereintes Europa, einen Bundesstaat, der gleichberechtigt in der Welt auftreten kann. Herr Ministerpräsident, Sie

haben stattdessen am Anfang wieder etwas jammervoll gesagt, was Ihnen alles nicht gefällt.

(Zuruf des Abg. Mack CDU)

Das taten Sie mit richtigen und mit falschen Argumenten. Ein paar würde ich unterschreiben, insbesondere was die kommunale Selbstverwaltung und deren Bedeutung angeht.

(Abg. Theurer FDP/DVP: Worauf wollen Sie hi- naus, Herr Kollege?)

Aber ein paar Beispiele waren schon daneben. Ich mache das nur ganz kurz; es ist mir nicht so sehr wichtig.

Warum Sie immer die Vogelschutzgebiete und die Zuständigkeit der Landratsämter bemühen, ist mir unerklärlich. Ich versuche es noch einmal zu sagen: Die Frage, ob ein Frosch in Spaichingen gefressen wird, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist in der Tat lokaler Art. Aber ob die Zugund Singvögel aus Italien zurückkehren, kann der Landrat des Schwarzwald-Baar-Kreises nicht regeln, Herr Ministerpräsident.

(Beifall bei der SPD – Zuruf des Abg. Theurer FDP/DVP)

Das ist ausgesprochen kein Berlusconi-Problem. Aber keine Sorge, Sie kommen noch auf Ihre Kosten.

(Zuruf der Abg. Dr. Inge Gräßle CDU)

Auch weil Sie die Chemieindustrie angesprochen haben – und dann ist das schon sehr grundsätzlich –: Es ist schon notwendig, Herr Ministerpräsident, was den Naturschutz, was den Artenschutz und was die Umwelt angeht, in Europa gleiche Standards durchzusetzen, die eine Verbesserung der Situation in ganz Europa hervorrufen. Das ist schon wichtig.

(Beifall bei der SPD)

Das möchte ich, wie gesagt, beispielsweise nicht dem Bürgermeister von Messina überlassen. Das finde ich auf der europäischen Ebene schon richtig angesiedelt.

Hinsichtlich der Bedeutung der kommunalen Daseinsvorsorge und der kommunalen Selbstverwaltung und auch hinsichtlich dessen, was Sie zum Thema Wettbewerb in der Relation zum öffentlichen Sektor gesagt haben, gebe ich Ihnen ausdrücklich Recht, will aber eines hinzufügen, liebe Kolleginnen und Kollegen: Wir müssen uns doch die Frage stellen, durch wen eigentlich der Wettbewerb bedroht ist. Eines der Phänomene in Europa, die mich beschäftigen, ist die Tatsache, dass es auf der einen Seite in der Tat die Versuchung gibt, mit sehr neoliberalen Vorschlägen und Vorstellungen in die deutsche kommunale Selbstverwaltung hineinzuregieren. Auf der anderen Seite aber stelle ich als Ergebnis von Nichtwettbewerb oder von seltsamen Formen von Wettbewerb Vermachtungen in Europa fest, die mit Wettbewerb gar nichts mehr zu tun haben.

Schauen Sie, Kollege Theurer, weil Sie darauf so gierig waren: Das eigentliche Problem Berlusconi – das ist nur ein Synonym – besteht darin, wie es eigentlich möglich ist, dass in einem Europa, in dem so viel Wert auf Wettbewerb ge

legt wird, und zwar so weit gehend, dass, wie gesagt, in die kommunale Fahrpreisgestaltung hineinregiert wird, ein Mann, der gleichzeitig Ministerpräsident ist, praktisch die gesamte Medienwirtschaft eines Mitgliedsstaats der Union kontrolliert. Das kann ja wohl kein Wettbewerb sein, der dort stattfindet.

(Beifall bei der SPD und des Abg. Theurer FDP/ DVP – Abg. Pfister FDP/DVP: Da hat er Recht!)

Wie gesagt, Sie haben darauf kein Wort verschwendet. Das ist so etwas wie das gesammelte Schweigen, das ich zu diesem Thema bei der Union überhaupt feststelle, liebe Kolleginnen und Kollegen. Es muss ein Europa geben, das auch ein einheitlicher Raum des Rechts ist. Es geht dann natürlich nicht, dass in einem Land über die Zusammenführung von Regierungsmacht und Medienmacht und über Sondergesetze bei gleichzeitiger Blockade europäischer Anstrengungen – etwa in der Zusammenarbeit zur Bekämpfung des internationalen organisierten Verbrechens – ein Sonderraum, eine Verzerrung von Rechtsstaat hergestellt wird und wir alle dazu schweigen, nur weil dieser Mann mächtiger ist, als es beispielsweise im Falle Österreich der Fall war. Das kann nicht sein. Diesbezüglich erwarte ich auch ein klares Bekenntnis von der konservativen Partei, und zwar auch dann, wenn Herr Berlusconi aus Machtgesichtspunkten noch Ihrer EuropäischenVolkspartei angehört. Da müssen Sie klar Position beziehen.

(Beifall bei der SPD)

Aber jetzt, Herr Ministerpräsident, will ich über das sprechen, worüber Sie sich als Mitglied des Konvents wirklich freuen könnten. Wenn die Politik in der Tat die Kunst des Möglichen ist, dann ist dieser Konvent ein Erfolg, an dem Sie mitgewirkt haben. Ich fand es auch bemerkenswert, dass Sie an vielen Stellen zu Recht die Übereinstimmung auch mit Positionen der Bundesregierung und der anderen deutschen Länder unterstrichen haben.

Ich halte es für das wesentliche Ergebnis, dass durch die weitgehende Durchsetzung des Mehrheitsprinzips, durch die Stärkung des Europäischen Parlaments Fakten geschaffen worden sind, die eine Dynamik hin auf einen europäischen Bundesstaat auslösen. Den wollen wir am Ende. Das will ich ausdrücklich sagen. Die historische Frage ist: Zurück zur Freihandelszone oder hin zu einem europäischen Bundesstaat, der als Macht des Friedens gleichberechtigt – beispielsweise auch mit den USA – in der Welt auftreten kann? Das ist das, worum es eigentlich geht.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kretschmann GRÜNE und Theurer FDP/DVP)

Und da, denke ich, ist das Ergebnis des Konvents nicht das Ende dieses Weges, aber ein ganz bedeutender Fortschritt, der Fakten schafft, die es im Ergebnis wahrscheinlicher werden lassen, dass Europa in einigen Jahren das wird, was wir alle uns darunter vorstellen.

Sie, Herr Ministerpräsident, haben zu Recht auf die Fragen der Kompetenzordnung hingewiesen. Es ist nicht ganz so gekommen, wie Sie es ursprünglich wollten, Gott sei Dank. Sie wollten ja enumerative Kataloge haben. Jetzt haben wir

stattdessen eine stärkere Betonung des Subsidiaritätsprinzips; das halte ich auch für richtig.

Sie haben etwas ausführlich darüber geredet, wer jetzt alles wogegen klagen kann. Ich bin dabei ein bisschen erschrocken. Ich habe gerade überlegt, ob es vielleicht ein neues Berufsbild für Subsidiaritätsklagen von Anwälten geben wird. Ich hoffe, dass sich das in den ersten zwei Jahren klären wird. Ich nehme an, dass Sie dies ebenso sehen. Meine Einschätzung geht dahin, dass wir in den Fragen des Subsidiaritätsprinzips sehr rasch zu einer gefestigten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs kommen, sodass danach weniger Prozesse stattfinden und wir klare Verhältnisse bekommen werden.

Sie haben das Thema Migrationspolitik angesprochen. Auch dazu, Herr Ministerpräsident, ein grundsätzliches Wort. Ich weiß nicht so recht, was Sie in Ihrer Schlusspassage andeuten wollten, will Ihnen aber unsere Meinung dazu sagen. Zu einem zusammenwachsenden Europa und zu der Idee des vereinten Europa gehört – dazu haben wir mit dem Schengener Abkommen schon bedeutende Schritte gemacht – ein gemeinsames Grenzregime. Wichtig ist beispielsweise der Vorschlag der deutschen Bundesregierung, dass es dann auch eine europäische Grenzpolizei geben soll – übrigens eine europäische Grenzpolizei, die – das sage ich ganz offen – so gut bezahlt ist, dass sie diversen Versuchungen widerstehen kann. Wenn wir ein einheitliches Grenzregime und keine Binnengrenzen in Europa mehr haben, dann, lieber Herr Ministerpräsident, geht es gar nicht anders, als zu einer einheitlichen Außengrenze zu kommen und dann natürlich auch eine einheitliche europäische Migrationspolitik zu betreiben. Das geht nicht anders.

(Beifall bei der SPD)

Im Übrigen sollten Sie daran gar keine Befürchtungen knüpfen. Sie haben auf die ungleiche Verteilung beispielsweise von Flüchtlingen hingewiesen. Ich glaube, dass Sie im Zuge einer europäischen Gesetzgebung eine ausgewogenere Verteilung der Lasten erreichen können, als dies derzeit offensichtlich der Fall ist.

Sie haben zu Recht zwei Defizite angesprochen, denen ich mich zum Schluss widmen möchte.

Das eine betrifft in der Tat die Außen- und Sicherheitspolitik. Sie wissen, dass ich im Grundsatz immer Ihrer Aussage zugestimmt habe, Europa kümmere sich um zu viele Dinge im Kleinen und um zu wenige Dinge im Großen. Wir müssen dies überwinden. Es ist schlecht, dass dort das Prinzip der Mehrheitsentscheidung nicht – und auch nicht nur in schwacher Form – durchgesetzt werden konnte. Es ist unbedingt notwendig, an diesem Punkt über das Ergebnis des Konventsprozesses hinauszukommen.

Es stellt sich die Frage, wie wir darüber hinauskommen. Ich glaube, liebe Kolleginnen und Kollegen, dass wir auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik nur weiterkommen, wenn einzelne europäische Staaten – Deutschland und Frankreich vorweg – in diesem Prozess vorangehen. Deswegen will ich ausdrücklich sagen – auch dazu haben Sie nichts gesagt –: Ich finde es historisch richtig, dass Deutschland, Frankreich und Belgien beschlossen haben,

mit dem Aufbau einer europäischen Verteidigungsunion zu beginnen.

(Ministerpräsident Teufel: Luxemburg nicht ver- gessen!)

Luxemburg, ja. Aber die Streitkräfte Luxemburgs sind nicht ganz so bedeutend.

(Ministerpräsident Teufel: Wenn es um Verteidi- gung geht, ist das ein wichtiger Faktor!)