Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 48. Sitzung des 13. Landtags von Baden-Württemberg und begrüße Sie.
Eine Zusammenstellung der E i n g ä n g e liegt vervielfältigt auf Ihren Tischen. Sie nehmen davon Kenntnis und stimmen den Überweisungsvorschlägen zu. – Dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann ist es so beschlossen.
1. Mitteilung des Innenministeriums vom 26. Juni 2003 – Zweiter Tätigkeitsbericht des Innenministeriums zum Datenschutz im nichtöffentlichen Bereich – Drucksache 13/2200
2. Mitteilung der Landesregierung vom 3. Juli 2003 – Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ (GAK); hier: Berichtigte Anmeldung des Landes zum Rahmenplan 2003 – Drucksache 13/2230
Überweisung an den Ausschuss Ländlicher Raum und Landwirtschaft und federführend an den Finanzausschuss
3. Mitteilung des Rechnungshofs vom 10. Juli 2003 – Denkschrift 2003 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Landes BadenWürttemberg mit Bemerkungen zur Landeshaushaltsrechnung 2001 – Drucksache 13/2246
Das Präsidium hat für die Aussprache über die Regierungserklärung eine Redezeit von zehn Minuten je Fraktion festgelegt, wobei gestaffelte Redezeiten gelten.
Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Landtag von Baden-Württemberg hat vor einigen Jahren parteiübergreifend die Präambel unserer Landesverfassung geändert und eine klare europapolitische Zielsetzung in unsere Verfassung aufgenommen. Die Väter und Mütter unserer Verfassung konnten in die Verfassunggebende Landesversammlung – Jahre vor den Römischen Verträgen und der europäischen Einigung – eine solche Bestimmung, die heute beispielhaft, wie ich meine, in unserer Verfassung steht, noch nicht aufnehmen. Ich darf sie zitieren:
entschlossen, dieses demokratische Land als lebendiges Glied der Bundesrepublik Deutschland in einem vereinten Europa, dessen Aufbau föderativen Prinzipien und dem Grundsatz der Subsidiarität entspricht, zu gestalten und an der Schaffung eines Europas der Regionen sowie der Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit aktiv mitzuwirken...
Ich finde, dass der Landtag auf diese klare Zielsetzung durchaus stolz sein kann. Sie war ebenso die Grundlage für meine Arbeit wie zwei einstimmige Beschlüsse des deutschen Bundesrats und entsprechende Beschlüsse der Ministerpräsidentenkonferenz der deutschen Länder, die immer einstimmig gefasst wurden, sowie auch der Europaministerkonferenz.
Ich glaube, wir müssen eine europäische Verfassung von den Bürgern her denken. Was ist die Grunderfahrung der Bürger, wenn sie an Europa denken? Ich sehe drei Grunderfahrungen:
Die erste: Europa, das westliche Bündnis, die Grundorientierung Westdeutschlands, der Bundesrepublik Deutschland, nach dem Zweiten Weltkrieg nach Westen, hin zu den freiheitlichen Demokratien des Westens – spät genug, aber nach dem Zweiten Weltkrieg ohne Alternative –, hat diesem Land die längste Periode des Friedens und der Freiheit gebracht. In Deutschland wächst die dritte Generation heran, die keinen Krieg kennen gelernt hat. Wenn diejenigen, die politische Verantwortung getragen haben, nach dem Zweiten Weltkrieg und in unserem Land nichts anderes zustande gebracht hätten als diese längste Periode des Friedens in der deutschen Geschichte, sie hätten allein dafür unseren Dank und unsere Anerkennung verdient.
Kein Land hat stärker von dieser neuen Nachbarschaft in Europa profitiert als Baden-Württemberg, von der deutschfranzösischen Versöhnung nach Jahrhunderten des Streits und deutsch-französischer Kriege, von der europäischen Einigung und dem westlichen Bündnis. Deswegen sind die baden-württembergischen Bürgerinnen und Bürger die überzeugtesten Europäer. Das ist die eine Grunderfahrung.
Die zweite Grunderfahrung, die die Bürger fast jeden Tag erleben, ist: Europa ist für sie zunehmend unüberschaubar, zunehmend ein zentralistisches Gebilde. Zunehmend erfahren sie unmittelbare Auswirkungen auf ihr tägliches Leben, ohne dass sie einsehen können, dass diese Fragen in Brüssel gelöst werden müssen. Sie denken, sie könnten auf kommunaler Ebene, auf Landesebene oder auf Bundesebene besser, effizienter und vor allem bürgernäher erledigt werden.
Tagtägliche Beispiele: Wir erleben in unserem Land, dass wir zwar für Notariate zuständig sind und bleiben, aber nicht mehr über die Notariatsgebühren bestimmen können. Wir erleben in unserem Land, dass Institutionen, die sich 150 Jahre lang bewährt haben, nämlich die Gebäudebrandversicherungsanstalten, aufgelöst werden müssen, weil sich britische Versicherungsgesellschaften unter Aspekten des freien Wettbewerbs bei der Kommission und beim zuständigen Wettbewerbskommissar beklagen. Wir müssen also die Gebäudebrandversicherungsanstalten auflösen. Das Ergebnis: Für den Bürger wird alles teurer.
Die Kommission kümmert sich um die Sparkassen, auch unter Aspekten des Wettbewerbs. Wie wäre es unserer mittelständischen Wirtschaft in den letzten Jahren gegangen, und wie würde es ihr gehen, wenn wir nicht Sparkassen und Genossenschaftsbanken vor Ort in einer Form hätten, die sich bewährt hat und in der sie mittelstandsnah, nah am Einzelhandel und nah am Bürger die Bankdienstleistungen erbringen?
Ich könnte die Beispiele beliebig fortsetzen. In dieser Woche war der Verband der Chemischen Industrie BadenWürttemberg bei mir. Der Entwurf der EU-Richtlinie für die chemische Industrie umfasst 1 200 DIN-A-4-Seiten. Welcher mittelständische chemische Betrieb – in BadenWürttemberg haben wir es überhaupt nur mit Mittelständlern zu tun – hat allein die administrative Kapazität, um so etwas zu lesen, zu beurteilen und nachher anzuwenden? Wir vertreiben mit solchen Regelungen die letzten forschenden Betriebe in die Vereinigten Staaten von Amerika.
Da sind die Erfahrungen der Bürger, der Handwerker und der Bauern, die bald mehr vor dem PC sitzen, um Anträge zu schreiben, als sie Zeit haben, auf dem Acker zu sein. Das ist die zweite Grunderfahrung der Bürger.
Die Antwort auf diese zweite Grunderfahrung kann nach meiner Meinung nur sein: Wir müssen dieses Europa vom Kopf auf die Füße stellen. Wir müssen Europa von unten nach oben aufbauen. Das Fundament und die ursprünglichste Einheit sind die Gemeinden. Städte und Gemeinden sind bisher in keinem europäischen Vertrag auch nur vorgekommen, obwohl Handelsstädte, Hansestädte, Universitätsstäd
te, Freie Reichsstädte in der ganzen europäischen Geschichte im Grunde über Jahrhunderte hinweg Europa ausgemacht haben.
Wir müssen das Subsidiaritätsprinzip beachten: Das ursprünglichste Recht liegt bei der kleinsten Einheit, und auf die nächste Einheit Kreis, auf die nächste Einheit Land, auf die nächste Einheit Bund kommt nur das, was über die Kraft der jeweils kleineren Einheit hinausgeht.
Wir wollen ein starkes Europa. Aber Europa ist nicht dann stark, wenn es sich um tausend Aufgaben kümmert und wenn es sich um tausenderlei Aufgaben kümmert, sondern Europa ist dann stark, wenn es sich um die richtigen Aufgaben kümmert.
Die richtigen Aufgaben lassen sich ganz genau definieren: Es sind die Aufgaben, die über die Kraft des Nationalstaats hinausgehen. Kein Nationalstaat in Europa kann sich heute allein verteidigen. Deswegen sind Fragen der Sicherheitspolitik und der Außenpolitik zunehmend europäische Fragen, und sie müssen auch auf europäischer Ebene angesiedelt werden. Wenn wir einen Gemeinsamen Markt haben, dann gilt das auch für alle Fragen des Wettbewerbs und des Binnenmarkts. In einer Welt, die immer mehr zu e i n e r Welt wird, sind Fragen der Außenhandelspolitik europäische Fragen. Wenn wir eine gemeinsame Währung haben, ist es die Währungspolitik. Das Gleiche gilt für grenzüberschreitende Umweltpolitik, wobei die Betonung auf „grenzüberschreitend“ liegt. Wenn wir eine vergemeinschaftete Agrarpolitik haben, gilt das natürlich auch weithin für Fragen der Agrarpolitik. Es gilt auch für die Großforschungspolitik, die über die Kraft der Mitgliedsstaaten hinausgeht.
Nun habe ich im Wesentlichen schon die europäischen Aufgaben beschrieben. Von allem anderen sollte Europa die Finger lassen, weil es besser und bürgernäher auf nationalstaatlicher Ebene, auf Länderebene oder gar auf kommunaler Ebene geregelt werden kann.
Man muss sich das einmal vorstellen: Über ein Wasserschutzgebiet in Baden-Württemberg entscheidet das Landratsamt. Über ein Naturschutzgebiet entscheidet das Landratsamt. Über ein Landschaftsschutzgebiet entscheidet das Landratsamt. Über Vogelschutzgebiete entscheidet die europäische Ebene, und zwar parzellenscharf.
(Abg. Beate Fauser FDP/DVP: Ja! – Abg. Birzele SPD: Das hat aber doch einen Grund! Das ist doch logisch!)
Ich nenne ein ganz konkretes Beispiel aus dieser Woche: Die Stadt Karlsruhe hat zwar theoretisch nach dem Baugesetzbuch des Bundes ein Planungsrecht – Flächennutzungsplan und Bebauungsplan –, aber sie hat dieses Planungsrecht nur im Rahmen der FFH- und der Vogelschutzrichtlinie. Das ist die konkrete Erfahrung, die die Menschen haben. Darauf müssen wir antworten.
Auf die erste Erfahrung „Europa ist eine Friedensgemeinschaft“ müssen wir antworten mit weiteren Städtepartnerschaften, einer Pflege der Beziehungen der Menschen, mit der Wahrung des Bündnisses mit den Vereinigten Staaten von Amerika sowie zunehmend auch mit einer Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik.
Auf die zweite Grunderfahrung der Bürger müssen wir mit Subsidiarität antworten: Die Aufgaben müssen auf die richtige Ebene.
Dann kommt eine dritte Grunderfahrung hinzu, die wir in den letzten 13, 14 Jahren Gott sei Dank machen konnten, nämlich die große Zeitenwende des Jahres 1989. Ich vergesse nicht, was mir der erste frei gewählte ungarische Ministerpräsident Jozsef Antal seinerzeit in Budapest gesagt hat. Er sagte wörtlich: Wir kehren zurück nach Europa. Wir haben uns nie von Europa verabschiedet. Wir sind durch die sowjetische Hegemonialmacht gewaltsam von Europa ferngehalten worden.
Das habe ich erfahren von Estland bis Slowenien, wenn ich ost- und südosteuropäische Hauptstädte besucht habe: eine unwahrscheinliche Sehnsucht zur Rückkehr nach Europa. Bei aller Skepsis, die man in den letzten Wochen vor den Volksabstimmungen über den Beitritt gelesen hat: Schauen Sie sich die Wahlbeteiligungen und die Abstimmungsergebnisse von Ungarn bis Polen an. Es ist so, dass die Völker kein anderes Ziel haben, als Europa zu vereinigen.
Nachdem aus dem Europa der Sechs durch die Süderweiterung, die Westerweiterung, die Norderweiterung ein Europa der 15 geworden ist, haben wir nun die einmalige geschichtliche Chance, Europa in Richtung Ost- und Südosteuropa vollenden zu können und das Tor für den Beitritt europäischer Länder auch in der Zukunft offen zu halten.
Diese Chance dürfen wir nicht verpassen. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern offen sagen, dass das auch Geld kostet, dass es aber im Interesse Deutschlands liegt, des wirtschaftsstärksten Landes der Europäischen Union, des Landes in der Mittellage, des Landes, das von der Osterweiterung auch am meisten profitiert. Es entstehen neue Märkte.
Wir müssen den Bürgern auch sagen: Auch wenn es viel kostet – es ist viel billiger als das, was wir uns in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts geleistet haben.