Protocol of the Session on May 7, 2003

Drittens: Die große Verwaltungsreform leistet auch einen herausragenden Beitrag zur finanziellen Konsolidierung unseres Landes. Sie ist wesentliche Voraussetzung dafür, dass wir das Ziel der Nullverschuldung erreichen und damit wieder an einen Punkt kommen können, an dem die Belastungen aus der Gegenwart, die die heute junge Generation in Zukunft abtragen muss, nicht weiter ansteigen. Sie ist deshalb auch ein Beitrag zur Gerechtigkeit und zum Miteinander zwischen den Generationen.

Viertens: Die große Verwaltungsreform steht in der geschichtlichen Kontinuität der bisherigen Verwaltungsreformen im Land, die alle Baden-Württemberg vorangebracht haben.

Die Landesregierung wird alles daransetzen, die große Verwaltungsreform so schnell wie möglich umzusetzen, damit das Land, seine Bürger und seine Wirtschaft so bald wie möglich davon profitieren können.

Ich möchte heute an Sie als Mitglieder des Landtags von Baden-Württemberg appellieren und Sie bitten, die Landesregierung in diesem Prozess des Umsetzens kritisch zu begleiten und zu unterstützen. Jede einzelne wichtige Entscheidung wird schlussendlich in diesem Parlament fallen. Der Erfolg, den wir uns von der großen Verwaltungsreform erhoffen und von dem wir ausgehen, wird deshalb am Ende nicht nur ein Erfolg der Landesregierung, sondern auch ein Erfolg des Landtags sein. Deshalb zähle ich auf Ihre Mitarbeit, Ihre Bereitschaft zur Mitverantwortung und Ihre Unterstützung.

Meine Damen und Herren, wenn wir den Staat von unten nach oben aufbauen wollen, dann heißt dies im Zeitalter der fortschreitenden europäischen Einigung und Erweiterung vor allem auch, dass wir Europa von unten nach oben aufbauen müssen. Der Subsidiaritätsgedanke gilt ja zunächst einmal dem Vorrang des einzelnen Bürgers, seiner Familie und dann dem Vorrang der freien Träger vor staatlichem und öffentlichem Handeln. Im Bereich der öffentlichen Gestaltung und Verwaltung gilt der Vorrang der Gemeinden und der Städte als der kleinsten Einheiten, gefolgt von den Kreisen und dann den Ländern.

Das ist auch für Europa und Europas zukünftige Gestalt von wesentlicher Bedeutung. Europa wäre ohne die Geschichte seiner Städte und Regionen überhaupt nicht denkbar.

Ein Europa der 25 Staaten wäre als Zentralstaat nicht politikfähig und nicht überlebensfähig. Es wäre bürgerfern, abgehoben von den Herzen und Köpfen der Menschen, und damit seiner Existenzgrundlage und seiner Legitimität beraubt. Deshalb müssen wir Europa föderal aufbauen, von unten nach oben. Der Grundsatz heißt: So viel Freiheit und Vielfalt wie möglich und so viel Einheit wie nötig.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Europa muss die Wurzeln stärken, die seine Kraft sind: die Vielfalt der Gemeinden und Städte, der Regionen und Länder. Deshalb setze ich mich auch im Konvent der Europäischen Union für die konsequente Umsetzung des Subsidiaritätsgedankens im Aufbau und Ausbau der künftigen Europäischen Union ein: für eine Verfassungsgarantie an die Kommunen und Regionen in der europäischen Verfassung, für die Achtung des Staatsaufbaus der jeweiligen Mitgliedsstaaten, für die frühzeitige Einbeziehung regionaler und kommunaler Gebietskörperschaften in den Gesetzgebungsverfahren, soweit sie mit der Umsetzung und Durchführung von Rechtsakten betraut sind, für ein Beteiligungsrecht der Länder oder ihrer Vertretungen auf nationaler Ebene, wenn es um die Wahrung der Subsidiarität geht, für ein Klagerecht der Regionen mit Gesetzgebungsbefugnis beim Europäischen Gerichtshof, für eine Stärkung des Ausschusses der Regionen und für die Verankerung der interregionalen und grenzüberschreitenden Zusammenarbeit als Zielbestimmung im Verfassungsvertrag.

Dies wird sich nicht alles in Reinkultur und ohne jeglichen Kompromiss mit denen durchsetzen lassen, die im Konvent anderer Auffassung sind, weil sie eine ganz andere Verfassungstradition haben. Immerhin kann ich schon heute mit großer Genugtuung feststellen, dass die Stimmen, die das Engagement der deutschen Länder für die Subsidiarität und für eine Kompetenzordnung anfangs skeptisch bis kritisch kommentiert haben, verstummt sind. Der Verfassungsvertrag wird hier Regelungen bringen, die bei Aufnahme der Verhandlungen im Konvent noch nicht einmal auf der Tagesordnung gestanden sind.

Meine Damen und Herren, hinsichtlich einer vernünftigen Ausgestaltung der Rechte der Länder und der Wahrung ihrer vitalen Interessen sind wir auf der europäischen Ebene nach gut einem Jahr der Diskussion schon wesentlich weiter als in Deutschland nach mindestens 20 Jahren der Diskussion über den Föderalismus und neue Beziehungen zwischen den Ländern und dem Bund.

Die Aussage „Der Föderalismus in Deutschland hat sich bewährt“ ist so alt wie im Grunde auch richtig, aber sie beschreibt zunehmend mehr eine Theorie denn die Wirklichkeit. In Wahrheit haben wir seit 1949 eine Einbahnstraße der Verlagerung von Länderkompetenzen an den Bund. Sie wurde vom Bund erkauft durch die Einräumung von Mitspracherechten im Bundesrat. Dies hat, rückwirkend betrachtet, den Staatsaufbau in Deutschland unübersichtlicher, schwieriger und für gegenseitige Blockaden deutlich anfälliger gemacht. Immer häufiger mischt sich der Bund zusätzlich mit Programmen, mit finanziellen Lockangeboten in die ureigensten Aufgabenbereiche der Länder ein.

Wir brauchen eine gründliche Renovierung des Föderalismus in Deutschland, und zwar dringend und bald.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP sowie des Abg. Boris Palmer GRÜNE)

Das sehen nicht nur die Landesregierungen, sondern auch die Parlamente der Länder übereinstimmend so. Es war eine geglückte Debatte, die wir vor wenigen Wochen zu diesem

(Ministerpräsident Teufel)

Thema im Landtag von Baden-Württemberg geführt haben, und sie hat in höchstem Maße eine Übereinstimmung zwischen allen Fraktionen dieses Hauses gebracht. Wir brauchen wieder eine viel klarere Abgrenzung der Zuständigkeiten, der Verantwortlichkeiten und der Finanzierung:

Die Rahmengesetzgebungskompetenz des Bundes gehört ersatzlos abgeschafft.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Die Mischfinanzierungen müssen drastisch reduziert werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Abg. Dr. Reinhart CDU: So ist es!)

Die Länder brauchen wieder eigene Steuerkompetenzen.

(Beifall des Abg. Dr. Scheffold CDU)

Wir brauchen bei der konkurrierenden Gesetzgebung eine weitgehende Rückgabe an die Länder und im Übrigen Öffnungsklauseln, die ein Zugriffsrecht auf geeignete Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebung wie zum Beispiel das Versammlungsrecht, die Umweltgesetzgebung, die Kinder- und Jugendhilfe oder das Besoldungs- und Versorgungsrecht ermöglichen. In diesen Bereichen muss künftig der Grundsatz gelten: „Landesrecht bricht Bundesrecht.“

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Sehr gut! – Beifall bei der CDU und der FDP/DVP – Zuruf der Abg. Ur- sula Haußmann SPD)

Im Gegenzug müssen die Länder bereit sein,

(Abg. Kaufmann SPD: Ortsrecht bricht Landes- recht!)

in allen zurückgegebenen Bereichen – –

(Unruhe bei der SPD)

Ich weiß nicht, ob das Gemurmel Zustimmung oder Widerspruch ist. Sofern es Widerspruch sein sollte, möchte ich Sie auf mehrere Veröffentlichungen des früheren Bundeskanzlers Helmut Schmidt aufmerksam machen, in denen er genau solche Vorschläge zunächst für die Parlamente der ostdeutschen Länder gemacht hat. Ich meine, was für die ostdeutschen Länder richtig ist, muss für alle Länderparlamente gelten und kann für die westdeutschen Länder nicht falsch sein.

(Beifall bei der CDU und Abgeordneten der FDP/ DVP)

Meine Damen und Herren, der Bund hat dann, wenn er sich so verhält, einen Anspruch, dass die Länder im Gegenzug bereit sind, in allen zurückgegebenen Bereichen auf das Mitentscheidungsrecht im Bundesrat zu verzichten. Ich bin dazu bereit.

Die vom Bundesjustizministerium im April vorgelegten Vorschläge zur Föderalismusreform sind, gemessen an den Lübecker Beschlüssen der Vertreter der Landtage, gemessen an den Vorstellungen der Landesregierung und des Landtags von Baden-Württemberg und gemessen an dem,

was sich in der Verfassungswirklichkeit der letzten 50 Jahre entwickelt hat, ganz und gar unzureichend. Sie sind vom Geist des Zentralismus geprägt, nicht vom Geist des Föderalismus.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und der FDP/ DVP)

Die Bundesregierung wolle den Ländern Zugeständnisse machen, so steht es zu lesen. Aber wo? Jetzt zitiere ich wörtlich: beim Jagdrecht, beim Notarwesen, bei der lokalen Freizeitlärmbekämpfung. Dagegen reklamiert der Bund mehr Kompetenzen für sich: inhaltliche Gestaltungsrechte bei Hochschulfinanzierung, Bildungsplanung, Umweltschutz, Wasserhaushalt, Verbraucherschutz und anderes mehr. Das heißt doch nichts anderes als: die Länder sollen Steine bekommen und der Bund das Brot. Baden-Württemberg wird diesen neuen Kurs in das alte Preußen nicht mitmachen.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Die Bundesjustizministerin sagte in einem Interview mit der „Stuttgarter Zeitung“ am 24. April 2003, der Bund wolle „die Organisationshoheit“ der Länder über das Schulwesen nicht antasten. Die Organisationshoheit! Wir haben die i n h a l t l i c h e Hoheit über das Schulwesen, und das ist gut für die Schüler, für die Lehrer und für die Eltern in Baden-Württemberg.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Das haben die Ergebnisse von PISA und zahlreichen anderen Rankings erwiesen. Wir werden es nicht zulassen, dass durch Vorgabe des Bundes und eine Einmischung in die verfassungsmäßigen Kernkompetenzen der Länder die Schulen in Baden-Württemberg nivelliert und auf das Niveau der SPD-geführten Länder gebracht werden.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Meine Damen und Herren, Föderalismus heißt Vielfalt und Pluralität und Wettbewerb.

Wir müssen die Kommunen stärken. Die Stadt- und Landkreise ersticken an der Sozialhilfelast, für die sie keine adäquaten Finanzhilfen bekommen. Wer im Kreistag sitzt, weiß, dass das die Realität ist. Die Städte und Gemeinden sind in den vergangenen Jahren Zug um Zug ihrer finanziellen Grundlagen beraubt worden. Sie haben durch die Gesetzgebung und durch die anhaltende Schwäche der deutschen Wirtschaft drastische Einbrüche bei den Gewerbesteuereinnahmen hinnehmen müssen. Die Körperschaftsteuereinnahmen sind durch Politikversagen und eine schlampige Gesetzgebung auf unter null gebracht worden. Die Einnahmen aus der Lohn- und Einkommensteuer haben sich durch die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit auch nicht entsprechend weiterentwickelt.

Ergebnis: Viele Städte und Gemeinden stehen heute am Rande der Investitionsfähigkeit, nicht wenige können den Haushalt nicht mehr ausgleichen. Schwache Wirtschaft: weniger Einnahmen, weniger Investitionen; schwächere Wirtschaft: noch weniger Einnahmen, noch weniger Investitionen – eine Spirale nach unten, aus der sich Städte und Ge

(Ministerpräsident Teufel)

meinden nicht mehr aus eigener Kraft befreien können. Gut gemeinte Strohfeuer-Investitionsprogramme kosten viel und bringen wenig. Sie werden wirkungslos verpuffen.

Wenn wir starke Städte und Gemeinden wollen, müssen wir sie stärken. Mit einer „revitalisierten“ Gewerbesteuer, wie es so schön und verfälschend heißt, würde ein falscher Weg eingeschlagen: Sie brächte eine zusätzliche Belastung für freie Berufe und für den Mittelstand.

(Beifall bei der CDU und der FDP/DVP)

Deshalb schlägt Baden-Württemberg vor, den Kommunen die Möglichkeit eines eigenen Hebesatzes bei der Lohnund Einkommensteuer einzuräumen. Es läge dann an den Bürgern und den Gemeinderäten, zu entscheiden, ob große Investitionsvorhaben um den Preis höherer Steuern verwirklicht werden sollen.

Wir werden vom Land aus die Kommunen zudem mit dem geplanten Gesetz zur Stärkung des kommunalen Handlungsspielraums unterstützen. Mit einer Experimentierklausel werden wir es ihnen ermöglichen, von vorgegebenen Standards abzuweichen und im Rahmen eigener Kompetenz eigenverantwortliche Entscheidungen zu treffen.

Meine Damen und Herren, mit der großen Verwaltungsreform setzen wir auch den Weg der inneren Erneuerung, des inneren Ausbaus unseres Landes fort. Gerade in Zeiten, in denen die Finanzquellen zurückgehen, ist es notwendig, Strukturen auf den Prüfstand zu stellen und für die Zukunft fit zu machen.