Protocol of the Session on November 14, 2002

Kommen wir zum zweiten Punkt, der in diesem Zusammenhang behandelt werden muss: Das ist der Personalbestand; denn diese überbelegten Anstalten müssen in diesem heiklen grundrechtlichen Bereich mit immer weniger Personal auskommen. Herr Justizminister, das haben Sie inzwischen ja auch selber erkannt; denn Sie waren es, der die Arbeitsgruppe „Sicherheit im Vollzug“ eingesetzt hat, um prüfen zu lassen, wie groß der Personalbedarf ist, um wenigstens die räumlichen Sicherheitsvoraussetzungen einigermaßen einzuhalten. Sie sind dafür zu loben, dass Sie diese Kommission eingesetzt haben. Die Ergebnisse sind uns ja auch bekannt gemacht worden. Da wurde festgehalten, dass allein für die äußeren Rahmenbedingungen, also um die Flucht zu vermeiden, als absolutes Minimum 80 neu zu schaffende Stellen im baden-württembergischen Strafvollzug erforderlich sind. Dabei geht es noch nicht um die Frage des Behandlungsvollzugs, sondern ausschließlich um die Frage der inneren Sicherheit.

Stichwortartig zusammengefasst: Als Ergebnis der Arbeitsgruppe haben wir die Zahl 80 als Mindestanforderung erhalten. Die Koalitionsvereinbarungen haben ausdrücklich vorgesehen, diese Zahl 1 : 1 umzusetzen. Sie haben den Bediensteten 40 Stellen versprochen, und bis heute sind null zugesagt. Das heißt, allein in diesem Bereich haben wir ein Defizit von mindestens 80 Planstellen, wobei wir, um auf den Standard des bundesdeutschen Verhältnisses zwischen Gefangenen und Bediensteten zu kommen, insgesamt über 600 Bedienstete zusätzlich einstellen müssten.

Beispiel Überstundenentwicklung – nur um jetzt stichwortartig auf diesen Bereich einzugehen –: Von 7 423 Überstunden im Jahr 1999 ist der Berg auf 92 500 Überstunden innerhalb von zwei Jahren angewachsen.

(Abg. Ursula Haußmann SPD: Unglaublich!)

Er hat sich damit mehr als verzehnfacht. Der aktuelle Überstundenstand – so wurde mir gestern gesagt – beträgt 120 000 Überstunden bei den Bediensteten in den badenwürttembergischen Vollzugsanstalten.

(Abg. Carla Bregenzer SPD: Das darf ja wohl nicht wahr sein! – Abg. Bebber SPD: Untragbar! – Abg. Ursula Haußmann SPD: Ein Skandal!)

Das ist verheerend, wenn man bedenkt: 17,5 Krankheitstage im Schnitt pro Person, 77 Überstunden pro Planstelle im Vollzug, und das vor dem Hintergrund, dass die Strafgefangenen in den baden-württembergischen Vollzugsanstalten immer problematischer und immer schwieriger werden – die Russlanddeutschen sind eine schwierige Klientel, die natürlich besonderer Behandlung bedarf – und durch diese schlechte Personalausstattung immer mehr Straftaten innerhalb des Strafvollzugs stattfinden, die oftmals schwerer sind als die Straftaten, derentwegen die Leute in den Strafvollzug gekommen sind. Und das unter den Augen des Justizministers! Da muss man sich schon fragen, ob das noch in Ordnung ist.

(Beifall bei der SPD)

Wir dürfen auch die Ursachen der Kriminalität in diesem Bereich nicht aus den Augen lassen, denn bei dem Personenkreis, den ich gerade angesprochen habe – ich erinnere an die gestrige Debatte zur Integration –, haben wir uns sehr schwere Versäumnisse wieder bei der Landespolitik, wieder bei der Landesaufgabe vorzuwerfen, die letztlich in den Strafvollzug gemündet sind. Die Verpflichtung, in diesem Bereich tätig zu werden, ist in besonderem Maße dadurch gegeben, dass es sich um zum Teil hausgemachte Probleme handelt, vor allem weil wir ja vor dem Hintergrund des Rückgangs der Geburtenraten auf diese Leute, vor allem auf diese jungen Leute als zukünftige Steuerzahler und Beitragszahler angewiesen sind.

(Zuruf des Abg. Capezzuto SPD)

Wir haben es in Baden-Württemberg ausschließlich noch mit dem Verwahrvollzug zu tun, wenn man sich die Wirklichkeit anschaut. Behandlungsvollzug ist nicht mehr möglich. Drogentherapien werden nicht mehr gemacht. Es gibt nur noch Drogenvermittlungsmöglichkeiten. 50 % der Strafgefangenen sind drogenabhängig. Wartezeiten von jugendlichen Ersttätern im Drogenbereich betragen elf bis zwölf Wochen, bis sie zum ersten Mal Kontakt mit einem Therapeuten bekommen, bei Erwachsenen 24 Wochen. Das ist eine dramatische Situation.

Erst kürzlich wollte ich am Montagmorgen in Schwäbisch Hall an mein Postfach gehen, um die Post abzuholen.

(Zuruf des Abg. Rech CDU)

Da sah ich vor der öffentlichen Toilette einen Krankenwagen. Ich habe mir nichts weiter dabei gedacht. Am nächsten Morgen las ich in der Zeitung: Da war ein Entlassener aus der Strafanstalt in Schwäbisch Hall. Der ist am Freitag entlassen worden und am Montag wegen einer Überdosis tot aufgefunden worden. Ich meine, das sind die Auswirkungen, wenn man die Leute nicht während der Zeit im Vollzug behandelt und ihnen nicht die Chance zur Therapie gibt. Denn wer den normalen Strafvollzug vernachlässigt, vernachlässigt nicht nur die Bediensteten und die Strafgefangenen, sondern auch ihre potenziellen Opfer.

Herr Minister, der Strafvollzug in Baden-Württemberg liegt – das muss man sagen – am Boden, und das, obwohl es sich hier um einen erheblich grundrechtsrelevanten Bereich handelt, der Ihnen als Verfassungsrichter geradezu am Herzen liegen müsste. Es war Ihre Aufgabe gewesen, sich gegenüber Ihren Kabinettskollegen durchzusetzen, um die Mittel freizuschaufeln. Aber in Baden-Württemberg hat der Finanzminister die Richtlinien der Justizpolitik bestimmt. Insofern bekommt Ihr freiwilliger Rücktritt

(Abg. Rech CDU: Ach ja!)

auch eine ganz andere Färbung und einen ganz anderen Geschmack. Das muss man schon sagen. Denn da verlässt nicht jemand die Bühne, wenn es am schönsten ist, sondern da verlässt jemand ein sinkendes Schiff.

(Heiterkeit bei der SPD und den Grünen – Lachen bei der CDU)

In diesem Sinne vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der SPD – Abg. Blenke CDU: Mit dem letzten Satz hat er seine ganze Rede kaputtge- macht!)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Zimmermann.

Frau Präsidentin, liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch ich, Herr Sakellariou, begrüße, dass der Strafvollzug auf die Tagesordnung des badenwürttembergischen Landtags genommen wurde. Ich weiß, dass er seit vielen Jahren nicht auf der Tagesordnung war. In der Bevölkerung ist die Arbeit hinter den Mauern viel zu wenig bekannt. Wenn erst einmal die Handschellen klicken, interessiert sich niemand mehr für den weiteren Verlauf – nach dem Motto: Es läuft ja sicherlich seinen geordneten und gerechten Weg. Trotzdem ist die Große Anfrage der Fraktion der SPD meines Erachtens eher eine parlamentarische Pflichtarbeit, denn sie hat inhaltlich – ich habe sie mir ein paar Mal durchgelesen – für meine Begriffe keinen Pfiff. Aber im Grundsatz freut es mich, dass auch die SPD dieses Thema entdeckt hat.

(Zurufe der Abg. Drexler, Fischer und Ursula Hauß- mann SPD)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, auch wenn vor der Mittagspause bei Ihnen weniger Abgeordnete anwesend sind – ich bedauere, dass auch von meiner Fraktion nicht, wie heute früh, alle da sind –: Erst wenn jemand ausbricht oder seinen Freigang missbraucht und dann Menschen gefährdet, wenn Menschen gar auf brutalste Weise ihr Leben verlieren oder, wie Sie, Herr Sakellariou – wo ist er denn? –

(Abg. Fischer SPD: Hier sitzt er doch! – Abg. Drex- ler SPD: Er sitzt vorne! – Abg. Bebber SPD: Augen- probleme?)

ach dort; Entschuldigung –, sagten, wenn etwas Schreckliches passiert, schreckt die Öffentlichkeit auf. Aber eines noch: Es gibt keinen kriminologischen Nachweis dafür, dass ein Vollzug, der über sämtliche Erfordernisse verfügt – über genügend Haftplätze, mehr Sozialarbeiter, Psychologen oder eine hohe Anzahl von Vollzugsbeamten; Sie haben es angesprochen –, letztendlich einen erfolgreicheren Strafvollzug gewährleistet.

(Zurufe der Abg. Bebber und Ruth Weckenmann SPD)

Diesen Nachweis gibt es nicht.

(Zuruf des Abg. Oelmayer GRÜNE)

Ich sage Ihnen auch:

(Abg. Ruth Weckenmann SPD: Lieber gar nichts sagen als so etwas!)

Eine totale Umkehr vom kriminellem Weg eines Gefangenen ist nach einhelliger Einschätzung nicht käuflich. Aber auch hier – da widerspreche ich Ihnen – sind wir besser als der Bund. Das können Sie – Sie haben das verschwiegen – in der Antwort zu Ihrer Großen Anfrage nachlesen. Beginnen wir bei der durchschnittlichen Personaldichte im höheren Vollzugs- und Verwaltungsdienst: Der Länderdurchschnitt

liegt bei 0,57 Personalstellen pro 100 Gefangene. Wir liegen mit 0,62 bzw. 0,65 und 0,6 Personalstellen pro 100 Gefangene darüber.

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Das hat er nicht gesagt! Das hat er unterlassen! Da hat er nicht darauf hin- gewiesen! Fragmentarisch!)

Bei den Seelsorgern und dem kirchlichen Dienst liegen wir an der Spitze aller Bundesländer.

(Zuruf von der CDU: Nicht mehr wahrnehmungs- fähig!)

Bei den Lehrern und Lehrerinnen liegen wir im Durchschnitt, beim mittleren Verwaltungsdienst stehen wir gut bis sehr gut da. Beim mittleren allgemeinen Justizvollzugsdienst liegen wir unter dem Länderdurchschnitt; da gebe ich Ihnen Recht. Absolut an der Spitze liegen wir aber – und das war der Gegenstand unserer heutigen Arbeit – tatsächlich beim mittleren Werkdienst und ebenfalls bei den Arbeitern.

(Zuruf der Abg. Carla Bregenzer SPD)

Dies nur dazu. Die derzeitigen realen Begebenheiten zeigen, dass der baden-württembergische Strafvollzug trotz all Ihrer Kritikpunkte sehr gut dasteht.

Niemand bestreitet – auch ich nicht –, dass der Vollzug verbessert werden könnte,

(Zuruf der Abg. Carla Bregenzer SPD)

aber mit Ihrer Großen Anfrage machen Sie ihn auch nicht besser. Sie haben von unzähligen Mitarbeitern im Justizbereich, insbesondere im Vollzugsdienst, über einen langen Zeitraum hinweg bis zu zehn Jahre zurückreichende Daten abgefragt. Mit der Beantwortung Ihrer Anfrage haben Sie zahlreiche Mitarbeiter beansprucht und, wie man mir mitgeteilt hat, auch in ihrer Arbeit blockiert. Aber Anfragen haben das so an sich. Ich bin kein Freund von Anfragen.

(Abg. Drexler SPD: Was machen Sie dann? – Zuruf des Abg. Fischer SPD)

Hätten Sie lieber – wie ich – eine große Informationstour durch alle Haftanstalten Baden-Württembergs gemacht, dann hätten Sie alle Probleme und Wünsche vor Ort erfahren. Im Grunde genommen hätten Sie auch mich fragen können, und die Leute hätten ihre Arbeit tun können.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU – Abg. Flei- scher CDU: Sehr gut!)

Aber ich will nicht nur kritisieren. Ich gehe davon aus – so kenne ich meine Kollegen von den Fraktionen –, dass man wirklich ernsthaft darüber nachdenken muss,

(Abg. Dr. Reinhart CDU: Das würde ihnen manch- mal gut tun!)

wie man Verbesserungen erreichen kann. All das steht natürlich – wir haben es heute früh mehr als deutlich gehört – unter dem Damoklesschwert der Nettonullneuverschuldung und des Finanzlochs. Eigentlich ist es ein Finanzkrater, der sich seit gestern aufgetan hat.

(Abg. Fischer SPD: Was hat das mit dem Strafvoll- zug zu tun? – Zuruf der Abg. Ruth Weckenmann SPD)

Zum Schluss meines Beitrags werde ich Ihnen einen konkreten Vorschlag unterbreiten und um Ihre Unterstützung bitten. Wenn Sie mehr Stellen und Beförderungen wollen, so ist dies sicherlich wünschenswert und zweifellos auch berechtigt. Aber in welchen Bereichen in unserem Land ist das nicht der Fall? Sagen Sie mir – oder noch besser unserem Finanzminister –,

(Abg. Oelmayer GRÜNE: Der ist gar nicht da!)