Protocol of the Session on April 17, 2002

Wir Grünen stellen fest: Es gibt mittlerweile einen breiten Konsens darüber, dass Ethik als Unterrichtsfach ausgebaut werden soll, und zwar bereits ab der Klasse 1. Auch die Kirchen, die sich noch vor einigen Jahren dafür ausgesprochen haben, dass Ethik als Ersatzfach erst ab Klasse 8 unterrichtet wird, nämlich dann, wenn die Religionsmündigkeit der Schüler einsetzt, sagen mittlerweile: Wir wollen auch, dass der Ethikunterricht bereits in den unteren Jahrgangsklassen eingeführt wird. Der Landeselternbeirat hat bereits vor zwei Jahren Ethikunterricht ab Klasse 1 gefordert, der Städtetag dazu haben Sie die Vorlage hat unseren Gesetzentwurf ausdrücklich begrüßt und gesagt, er unterstütze diesen Gesetzentwurf mit dem Inhalt, Ethik als Wahlpflichtfach einzuführen und ab der ersten Klasse auszubauen. Auch die Lehrerverbände haben mittlerweile ihre Unterstützung zum Ausdruck gebracht, unter anderem gerade vor einer Woche der Verband Bildung und Erziehung.

Meine Damen und Herren, es gibt noch einen ganz gewichtigen Grund, warum wir für Wahlpflichtfächer und einen Ausbau des Ethikunterrichts ab Klasse 1 sind: Bislang lag uns folgende Zahl vor: 770 Deputate wären notwendig, um

den Ethikunterricht ab der ersten Klasse über alle Jahrgangsstufen hinweg auszubauen. Die neueste Zahl, die uns das Kultusministerium geliefert hat, besagt, dass wir 1 070 Deputate brauchen, um Ethikunterricht für diejenigen Schülerinnen und Schüler bereitzustellen, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen. Das sind dann also die gesamte Grundschule und die Klassen 5 bis 7 der weiterführenden Schulen sowie die beruflichen Schulen.

Das heißt aber konkret: Diese Entwicklung, die jetzt über viele Jahre hinweg erfolgt ist, nämlich die Zunahme der Zahl der jungen Menschen, die nicht am Religionsunterricht teilnehmen, bewirkt, dass immer mehr Schülerinnen und Schüler kein wertevermittelndes Fach an der Schule haben und dass immer mehr Schülern ein qualifizierter und vertiefter wertevermittelnder Unterricht vorenthalten wird. Das halten wir Grünen für nicht zu rechtfertigen. Denn wenn wir davon ausgehen, dass Schülerinnen und Schüler im Fach Religion nicht nur einen bekenntnisgebundenen Unterricht, sondern auch noch einen vertieften wertevermittelnden Unterricht bekommen, dann ist es nicht tragbar, dass die anderen Schülerinnen und Schüler während dieser Unterrichtszeit und so ist es ja faktisch lediglich betreut oder „verwahrt“ werden. Gerade für die ausländischen Schülerinnen und Schüler ist es wichtig, in unserer Gesellschaft, hier in Deutschland auch als Mittel der Integration diesen wertevermittelnden Unterricht in einem eigenständigen Fach Ethik zu bekommen.

Meine Damen und Herren, zur Frage der Finanzierung: Sie sagen wir haben ja auch einen Antrag zum Ausbau von Ethik ab Klasse 1 gestellt , es sei nicht finanzierbar, es sei nicht machbar.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Ja!)

Bei dem, was wir wollen, handelt es sich um eine politische Entscheidung. Sie haben sich zum Beispiel entschieden, 1 600 Deputate für die Einführung des Fremdsprachenunterrichts an der Grundschule bereitzustellen. Wir Grünen begrüßen dies, sagen aber: Das kann es nicht sein, ein Ausspielen von Fremdsprachenunterricht an der Grundschule gegen Ethikunterricht von Klasse 1 bis Klasse 7. Wir Grünen wollen beides. Wir haben zum Haushalt einen Antrag eingebracht; den haben Sie aber leider abgelehnt. Es gibt Möglichkeiten, Mittel umzuschichten, wenn es ein ernstes politisches Anliegen ist, ein solches Fach an den Schulen durchgängig für alle Schüler anzubieten.

Lassen Sie mich am Schluss noch eines sagen, Herr Staatssekretär Rau, weil Sie das in der letzten Debatte angesprochen hatten: Selbstverständlich gibt es die Möglichkeit, auch das Fach Ethik ab Klasse 1 als Ersatzfach auszubauen und kein Wahlpflichtfach einzuführen. Wir Grünen gehen auch diesen Weg mit, obwohl wir der Meinung sind, dass langfristig Wahlpflichtfächer kommen werden. Aber, Herr Rau, was für eine Botschaft ist das an junge Menschen, an deren Eltern, an unsere Gesellschaft, wenn junge Menschen ein Fach durchgängig ihre ganze Schulzeit über besuchen müssen, das nach Ihrer Auffassung eine Art Auffangbecken für Religionsflüchtlinge darstellt?

Deshalb halten wir es politisch für richtig, Wahlpflichtfächer einzuführen, also auch dem Fach Ethik den notwendi

gen Stellenwert zu geben. Ich bitte Sie deshalb, heute unserem Gesetzentwurf zuzustimmen.

(Beifall bei den Grünen)

Das Wort erhält Frau Abg. Lazarus.

Sehr geehrter Herr Präsident, sehr geehrte Damen und Herren! Es ist ein Gesetzentwurf, den die Grünen vorlegen. Deshalb möchte ich mich kurz mit dem Text dieses Gesetzentwurfs näher befassen.

Er beginnt mit der Zielsetzung, die ganz eindeutig heißt: Abschaffung von Ethikunterricht als Ersatzfach, Gleichstellung von Ethik- und Religionsunterricht und Einführung von Ethikunterricht ab Klasse 1. Der wesentliche Inhalt ist also so ist es hier angegeben und auch eben gesagt worden , dass man die freie Wahl zwischen zwei Fächern haben soll, nämlich zwischen Religions- und Ethikunterricht. Man muss sich entscheiden, an welchem man teilnimmt.

Das setzt sich im ganzen Text fort und wird in den einzelnen Abschnitten erläutert. Die Überschrift heißt: „Ethikund Religionsunterricht“. Das heißt, wir haben grundsätzlich eine neue Definition der Rolle des Ethikunterrichts. Er ist nicht mehr Ersatzfach für abgelehnten Religionsunterricht oder für diejenigen, die nicht in einen Religionsunterricht gehen,

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Gute Interpretati- on!)

sondern ich betone es nochmals es ist eine völlig neue Rolle der Wahlfreiheit zwischen zwei Fächern. Das ist keine zufällige Formulierung, sondern konsequent im Gesetzestext so fortgeführt. Damit ist klar: Es geht keineswegs nur um die Einrichtung von Ethikunterricht ab der ersten Klasse

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Eben!)

das ist zwar vielleicht finanzrelevant, aber ansonsten der kleinere Teil , sondern es geht um eine neue Beziehung zwischen Religions- und Ethikunterricht. Das ist ich benutze dieses Wort ganz vorsichtig keine Nachrangigkeit mehr unter „Nachrangigkeit“ verstehe ich aber nur: wenn kein Religionsunterricht, dann eben Ethikunterricht , sondern eben die absolute Entscheidungsfreiheit zwischen beiden Fächern.

Wer zu diesem Gesetzentwurf der Grünen Ja sagt meine Damen, meine Herren, ich bin keine Juristin, sondern Mathematikerin , muss eigentlich logischerweise und konsequent den zweiten Schritt gehen und im Grunde über unsere Landesverfassung nachdenken.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Das ist richtig, ja!)

Es könnte dann sein, dass das nicht mehr zusammenpasst, und die Konsequenz wäre, dass man die Verfassung ändern muss. Vielleicht ist es auch der Wunsch

(Abg. Wacker CDU: Das Ziel!)

und das Ziel der Grünen, dass es der zweite Schritt ist

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Und das Grundge- setz, Artikel 7! Abg. Wacker CDU: Das wäre dann der nächste Schritt!)

das kann man vielleicht sogar in einem Prozess erzielen , dass Ethik als Fach gleichrangig mit dem Religionsunterricht zu sehen ist und die besondere Qualität, die wir in der Landesverfassung und in Artikel 7 tut es sogar das Grundgesetz dem Religionsunterricht geben,

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: So ist es!)

ihm mittelfristig abgesprochen wird.

Aus diesem Grund wirklich aus diesem Grund lehnt die CDU-Fraktion den Gesetzentwurf der Grünen ab. Wir tasten die besondere Rolle von konfessionellem Religionsunterricht nicht an, weder rechtlich noch in der Praxis.

Sehr geehrte Damen und Herren, für die CDU-Fraktion möchte ich allerdings zwei Dinge klarstellen. Einen Satz möchte ich zur inhaltlichen Bedeutung, die wir dem Fach Ethik durchaus beimessen, sagen, einen zweiten zur Ausweitung auf Klassen unterhalb des achten Schuljahrs.

Wenn die CDU-Fraktion rechtlich und inhaltlich an der besonderen Stellung des Religionsunterrichts festhält, so heißt dies keineswegs, dass wir den Inhalt des Faches Ethik auch nur in irgendeiner Art und Weise gering schätzen. Wir halten dieses Fach für wichtig, und wir halten vor allem die Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer, die dieses Fach unterrichten, für sehr engagiert.

Im Unterschied zu den ersten Jahren nach der Einführung des Ethikunterrichts gibt es heute auch schon profunde Ausbildungsmöglichkeiten an Hochschulen. Diese Möglichkeiten werden zunehmend verbessert und ausgeweitet, und sie werden auch Schritt für Schritt auf die anderen Ausbildungszweige übertragen also keinerlei Abwertung, sondern, im Gegenteil, eine positive Wertung dessen, was in diesem Fach an Inhalten und von der Form her geleistet wird.

Ein Zweites zu dem, was hier gewünscht wird, nämlich zur Ausweitung des Ethikunterrichts bis hinunter, sage ich einmal, in die erste Klasse, wenn wir von der achten Klasse ausgehen. Dagegen gibt es in der CDU-Fraktion auch keine grundsätzlichen Bedenken,

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Dann ist es ja gut!)

im Gegenteil. Bei einer entspannten Ressourcenlage wird die schrittweise Ausweitung einmal besser möglich sein als heute. Aber ausgerechnet jetzt, zu einem Zeitpunkt, zu dem wir wenige Jahre von der absoluten Höchstzahl an Schülern, die wir erreichen werden, entfernt sind, zu dem wir das war im Grunde anerkannt, auch von der Opposition für diese Legislaturperiode in einem Kraftakt 5 500 neue Stellen ohne Finanzvorbehalt im Haushalt ausgebracht und damit, denke ich, etwas Großes für unser Land geleistet haben, ausgerechnet jetzt werden diese Rechnung haben Sie gar nicht bezweifelt über 1 000 weitere neue Stellen gefordert.

(Abg. Renate Rastätter GRÜNE: Über zehn Jahre hinweg! Man kann ja einmal anfangen!)

Ich denke, auch die Grünen wissen, dass dies nicht zu leisten ist. Warum also jetzt diese Gesetzesvorlage? Doch wohl nicht, um irgendetwas zu fordern, von dem man eigentlich sicher sein kann, dass es abgelehnt wird. Zumindest einigen Realos bei den Grünen traue ich das im Grunde nicht zu.

Aus Sicht der CDU-Fraktion bleibt es dabei: Geplant ist, mit diesem, sage ich einmal, Deckmantel der Ausweitung auf andere Klassen eine Veränderung der Stellung des Religionsunterrichts zu verbinden.

(Zuruf der Abg. Renate Rastätter GRÜNE)

Der Gesetzestext verheimlicht das auch gar nicht; er legt dies ganz offen. Aus diesem Grunde kann die CDU-Fraktion dem Gesetzentwurf nicht zustimmen. Nach unserer Überzeugung müssen wir die Gesetzesvorlage der Grünen schon aus verfassungsrechtlichen Gründen ablehnen.

Danke schön.

(Beifall bei der CDU und des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

Wem darf ich von der SPDFraktion das Wort erteilen? Herr Abg. Bayer, Sie haben das Wort.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht: An den schon vorgetragenen Argumenten hat sich nichts geändert. Vermutlich wird sich auch das Abstimmungsverhalten nicht ändern. Wir Sozialdemokraten werden uns der Stimme enthalten, und zwar nicht, weil wir Bedenken in der Sache hätten im Gegenteil; ich komme darauf noch zu sprechen , sondern weil wir die notwendigen zusätzlichen Lehrerdeputate in der aktuellen Situation für nicht finanzierbar halten.

(Beifall des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

Unsere Schwerpunkte und damit auch unsere finanziellen Schwerpunkte sind gegenwärtig eben andere ich habe es in der letzten Debatte schon ausgeführt : Kinderbetreuung, Ganztagsangebote.

Gerade unser Abstimmen mit „Enthaltung“ macht es notwendig, dass wir unsere Position noch einmal vom Grundsatz her klarstellen. Wir stehen, Frau Lazarus, eindeutig für eine Gleichstellung und Gleichwertigkeit von Religionsund Ethikunterricht. Wir befinden uns damit auch in Übereinstimmung das wurde schon ausgeführt mit dem Städtetag, mit den Lehrerverbänden, mit dem Tenor des einschlägigen Urteils des Bundesverwaltungsgerichts, mit dem Landeselternbeirat, mit dem Ethikverband BadenWürttemberg und in Übereinstimmung mit vielen Religionswissenschaftlern und Religionspädagogen.

Ich verdeutliche diese Auffassung, indem ich kurze Schlaglichter auf einzelne gesellschaftliche Bereiche werfe, und beginne zunächst mit einem Blick auf Artikel 7 Abs. 3 des Grundgesetzes. Die dort begründete grundrechtliche Gewährleistung von Religionsunterricht hatte mit Sicherheit zwei zentrale Hintergründe. Einerseits spielten die Erfahrungen des Dritten Reichs eine große Rolle. Aus histori

scher Perspektive zielt Artikel 7 Abs. 3 GG auf einen Schutz des Religionsunterrichts vor einem Verbot. Der andere Hintergrund war eine weitgehend vorhandene religiöse Homogenität der Bevölkerung.

Ein halbes Jahrhundert später befinden wir uns momentan das können wir gutheißen oder nicht im Übergang zu einer Situation des Pluralismus von konkurrierenden Religionen, von konkurrierenden Weltanschauungen und konkurrierenden Überzeugungen. Dabei bleibt der Verfassungsrang des Religionsunterrichts völlig unbestritten nur bedeutet er nicht automatisch auch eine Höherwertigkeit gegenüber anderen Fächern.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Aber eine Höherran- gigkeit!)