Protocol of the Session on April 17, 2002

Die geringe Zahl der bisher abgegebenen Kinder zeigt, dass das Babyklappenangebot in Deutschland noch nicht die optimale Lösung ist. Nach der jüngsten Statistik werden derzeit in Deutschland pro Jahr 40 Kinder ausgesetzt aufgefunden. 20 davon, also 50 %, sterben, weil sie nicht rechtzeitig gefunden werden, weil sie unterkühlt sind und eine entsprechende medizinische Mangelversorgung aufweisen.

Bei unseren Bemühungen geht es letztendlich nur darum, mit diesem erweiterten Angebot die Gesundheit von Mutter und Kind zu verbessern und Todesfälle zu verhindern.

Bei der Diskussion haben wir zwei elementare Grundrechte zu beachten: das elementare Grundrecht auf Leben und das Recht auf Identität. Diese beiden Rechte ringen an diesem Punkt miteinander. Das ist eine sehr ungewöhnliche Konstruktion.

Ich habe großes Verständnis, wenn anonym geborene Kinder auf uns zukommen und sagen, dass sie eine lebenslange Wunde tragen, weil sie zwar wissen, dass ihre Aufzieheltern nicht ihre leiblichen Eltern sind, aber ihre Herkunft nicht kennen. Diese Leute haben mich und ich denke, bei Ihnen, Frau Berroth, ist es genauso darum gebeten, dass wir in diesem Gesetz eine Möglichkeit verankern, dass solche Kinder nachträglich ihre Identität erfahren können. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat eine Gesetzesvorlage erstellt, die dies vorsieht.

Ich denke, dass diese Problematik das ist der eigentliche Kernpunkt, an dem wir eine Einigung brauchen sehr vorsichtig gehandhabt werden muss. Auf der einen Seite steht das Recht des Kindes auf Identität, auf der anderen Seite aber die Entscheidung der Mutter, die sie selber treffen muss, möglicherweise auch im Nachhinein, ob sie sich je outen will, dass sie die Mutter dieses Kindes ist. Das heißt, bei allen technischen Vorkehrungen, die wir vielleicht treffen können, sollten wir beachten, dass die Mutter die letzte Entscheidung behält, ob sie ihrem Kind, wenn es 16 oder 18 Jahre alt ist, gegenübertreten will, und sei es auch nur auf dem Papier.

Wir haben für uns klar festgelegt und ich denke, dass viele diese Meinung teilen , dass das Recht auf Leben in diesem Punkt dem Recht auf Identität klar vorgeht.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU und des Abg. Kretschmann GRÜNE)

Frau Berroth, das haben Sie auch schon gesagt.

Es wird immer wieder angeführt: Was passiert mit diesen Kindern? In Baden-Württemberg gibt es 1 400 potenzielle Adoptiveltern, die sehnsüchtig auf ein Kind warten und bereit sind, gute Eltern zu sein. Jedes Jahr finden in BadenWürttemberg über 400 Auslandsadoptionen statt. Ich unterstelle ich glaube, das ist durch die Zahlen auch bewiesen , dass der gute Wille, sich anonym geborener Kinder anzunehmen und sie mit Liebe und Fürsorge wie eigene Kinder zu betreuen, im Verhältnis zur anzunehmenden Zahl an anonym geborenen Kindern bei weitem überwiegen wird.

Es gibt belastbare Zahlen aus Frankreich. Dort ist die anonyme Entbindung seit Jahren ein ständiges Modell. In Frankreich sind 0,1 % aller Geburten anonyme Entbindun

gen. Wenn wir das auf Baden-Württemberg hochrechnen, so haben wir hier allerhöchstens die Zahl ist sehr hoch gegriffen mit 40 Kindern im Jahr zu rechnen.

Frau Berroth, Sie haben vorhin über Geld gesprochen. Ich glaube, es bietet sich an, über dieses Thema nachzudenken. Aber Geld darf keine Rolle spielen. Bei 40 Kindern reden wir über Kosten von gegenwärtig maximal 80 000 €. Geld darf bei diesem Thema also nicht der Hauptpunkt sein. Ich denke, das Geld ist hierbei ganz nachrangig zu betrachten. Wir würden hier für einen sehr günstigen Preis ich will es bewusst als Preis bezeichnen eine Möglichkeit anbieten, die Gesellschaft in die Lage zu versetzen, Aussetzungen und Kindstötungen zu verhindern. Wenn über dieses neue Instrument nur ein einziges Kind gerettet werden kann, ist das Geld sehr gut investiert.

(Beifall bei der CDU sowie Abgeordneten der SPD, der FDP/DVP und der Grünen)

Ich will einen weiteren Aspekt ansprechen. Wir haben im Land jährlich rund 14 000 Schwangerschaftsabbrüche. Wir beschäftigen uns alle seit langer Zeit mit der Frage: Wie schaffen wir es, Familien und Müttern wieder mehr Lust auf ein Leben mit Kindern zu geben? Ich denke, auch diese Frage bedarf der Behandlung, wenn man über das Thema „anonyme Entbindung“ spricht.

Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen. Wir haben bereits Angebote für diejenigen Frauen, die sich in einer solchen Situation befinden. Diese Angebote sind meines Erachtens nicht weiträumig genug bekannt. Überwiegend sind es nicht ältere Frauen, die betroffen sind, sondern es sind 15-, 16-, 17-jährige Mädchen, die noch in die Schule gehen. Ich sehe durchaus eine Chance, auch mit den gegenwärtigen Angeboten schon eine Informationsverbesserung vornehmen zu können. Der ideale Ort, diese Informationen an die Frau zu bekommen, ist die Schule.

Wir haben heute zahlreiche Themen angerissen. Wir werden sie heute auch nicht abschließend behandeln können. Ich hoffe aber ganz stark darauf, dass die Landesregierung in nächster Zeit einen entsprechenden Gesetzentwurf vorlegen wird. Ich will aber schon einmal ganz klar sagen, wie aus meiner Sicht die Prioritäten bei dieser Gesetzesvorlage aussehen sollten.

Wir haben in allererster Linie eine gesellschafts- und sozialpolitische Frage zu klären. Wenn wir diese Frage im Sozialausschuss und in unseren sozialpolitischen Arbeitskreisen besprochen und entschieden haben, geht es um ein Problem der Rechtsstaatlichkeit. Das heißt, die Sozialpolitik, die Gesellschaftspolitik gibt die Regeln vor, und anschließend machen unsere Fachleute Gesetze daraus. Wir dürfen die Sache auf keinen Fall umdrehen und jetzt eine Familien- oder Rechtsdiskussion führen und die ganzen Fragen der Sozialpolitik hintanstellen.

(Beifall bei der CDU und der Abg. Heiderose Ber- roth FDP/DVP Abg. Dr. Lasotta CDU: Sehr gut!)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Haußmann.

Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen! Lassen Sie mich am Anfang aus einem Artikel des „Spiegels“ zitieren:

Als sich die junge Mutter verzweifelt beim Frauennotruf im bayerischen Amberg meldete, war sie auf der Suche nach einer Bleibe für ihr ungewolltes Baby, das sie in wenigen Stunden zur Welt bringen würde. Niemand durfte es wissen, niemand ihren Namen kennen. Aber das Kind, das sollte es gut haben.

„Wir treffen uns“, sagte die Beraterin am Notruftelefon rasch. „Sie können uns Ihr Baby übergeben, der Name spielt keine Rolle. Es wird gut versorgt.“ Doch damit war der Anruferin nicht geholfen. Sie hatte keinen Ort, an den sie gehen konnte, wenn die Wehen einsetzten. Zu Hause würde die Geburt bemerkt, im Krankenhaus registriert.

„Wo soll ich denn hin?“, fragte sie weinend. Die Sozialarbeiterin schwieg lange. „Ich kann Ihnen nicht helfen“, sagte sie. „Gehen Sie irgendwohin, wo Sie Wasser haben, am besten zum Klo.“

Diese geheimen Geburten in öffentlichen Toiletten, Hinterzimmern und Kellerverschlägen machten ihr Angst, vor allem das Wissen darum, was Mutter und Kind dabei passieren kann, dass etwa manchem Neugeborenen, wenn es plötzlich schreit, in Panik doch noch das Kissen auf das Gesicht gedrückt wird.

So der „Spiegel“ vom 16. Oktober 2000. Nur eine Geschichte, die zu Herzen geht, nur ein Einzelfall? Leider nein. Rund 40 ausgesetzte Neugeborene werden jedes Jahr in Deutschland gefunden. Doch nur die Hälfte von ihnen überlebt. Meist werden diese toten Neugeborenen nur zufällig gefunden, weshalb man von jährlich bis zu 1 000 nach der Geburt getöteten Kindern ausgeht.

Das Thema „anonyme Geburt“ wurde in unserer Gesellschaft bisher nur wenig zur Kenntnis genommen. Das ist kein Zufall. Wenn eine Frau ihr Kind anonym zur Welt bringen will oder muss, kann sie sich dazu weder während der Schwangerschaft noch nach der Geburt äußern, da sie sonst ihre Anonymität verliert.

Gründe für ungewollte und ungeplante Schwangerschaften gibt es viele: Inzest, Vergewaltigung, Unerfahrenheit, Minderjährigkeit oder Unverheiratetsein. Ebenso spielt das Gefühl, mit der Situation nicht fertig zu werden, oder ein Partner, der sich der Verantwortung entzieht auch das gehört oft dazu , eine große Rolle. Diese Schwangerschaften werden oft verdrängt oder zu spät bemerkt wenn es für eine Abtreibung zu spät ist. Die Frauen befinden sich in ausweglosen Situationen und verheimlichen deshalb Schwangerschaft und Geburt. Angst verbindet sich mit Scham.

Zwar gibt es in Deutschland immer mehr Babyklappen, wo Neugeborene anonym abgegeben werden können. Das ist aber keine Lösung, denn an der Situation der Frauen ändert sich nichts.

(Beifall der Abg. Birgit Kipfer SPD)

Sie sind bei der Geburt allein, mit allen damit verbundenen Gefahren für Mutter und Kind. Es geht nicht nur um das Leben des Kindes, sondern es geht auch um das Leben und die Gesundheit der Frau, der Mutter.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Wenn man den betroffenen Frauen also helfen möchte, muss man ihnen ermöglichen, ihre Kinder unter humanen und menschenwürdigen Umständen auf die Welt zu bringen, womit gleichzeitig die Chance des Neugeborenen, zu überleben, erhöht wird. Dazu ist die Legalisierung anonymer Geburten notwendig, und ich freue mich, dass es im Bund, in Berlin, ein breites Parteienbündnis gibt, das die Legalisierung der anonymen Geburt auf den Weg bringen will. Auf die rechtliche Situation wird nachher mein Kollege Bebber eingehen.

Unser Ziel muss es sein da spreche ich im Namen aller beteiligten Parteien , den betroffenen Frauen und damit auch den Kindern zu helfen, denn man kann ein Kind nur mit Beteiligung der Mutter, aber niemals gegen ihren Willen schützen.

Ziel ist weiterhin, diese Frauen zu erreichen, damit sie unter menschenwürdigen und humanen Bedingungen, frei von Angst und Scham ihr Kind zur Welt bringen können. Begleitend ist psychologische Betreuung notwendig und Beratung wichtig.

Ich stimme meinem Kollegen Hoffmann zu, der darauf hingewiesen hat, dass es gerade bei den ganz jungen, minderjährigen Mädchen einen enormen Anstieg von Schwangerschaften gibt. Ich kenne ein Beispiel aus der Schule meines Sohnes: Eine 14-jährige Mitschülerin war schwanger, ohne dass es jemand gewusst oder bemerkt hätte. Genau hier müssten niederschwellige Angebote ansetzen. Wir haben Beratungsstellen für erwachsene Frauen, Schwangerschaftskonfliktberatungsstellen. Aber nach meiner Auffassung ist gerade auch die Schule ein ganz wichtiger Ansatzpunkt. Wenn der Fall eintritt, müsste hier ein Hinweis auf Hilfe zu bekommen sein. Es ist eine notwendige Voraussetzung, dass ein solches Angebot in der Schule gemacht wird. Ich bitte auch Frau Schavan, sich Gedanken zu machen, ob wir hierzu nicht gemeinsam etwas auf den Weg bringen könnten.

Auch bei den Schwangerschaftsabbrüchen bei minderjährigen Mädchen gibt es bundesweit einen Anstieg um 20 %. Das ist eine Zahl, die uns beunruhigen muss. Wir sollten uns überlegen, ob wir mit einer niederschwelligen Beratung nicht wichtige Hilfestellung geben könnten. Ich denke, das ist angezeigt.

Mit der Legalisierung der anonymen Geburt wird Sorge dafür getragen, dass Frauen, die anonym gebären wollen, gesellschaftlich nicht ausgegrenzt werden. Auch das ist ein wichtiger Faktor.

Ich wünsche mir in diesem Zusammenhang mehr Aufklärung. Ich wünsche mir niederschwellige Angebote. Ich denke, wir müssen uns auch neu darüber unterhalten, Adoption nicht zu tabuisieren, sondern in diesem Zusammenhang auch ganz offen über die Möglichkeiten und Chancen der Adoption reden. Diese Diskussion sollte mehr

Qualität erhalten, wenn wir bedenken, dass allein in Baden-Württemberg 1 400 Elternpaare auf eine Adoption warten. Hier muss gesellschaftlich breit diskutiert werden.

Ich gebe das Wort weiter an meinen Kollegen Bebber.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD Abg. Seimetz CDU: Seit wann geht das? Das macht immer noch der Präsident! Abg. Alfred Haas CDU: Können Sie nicht! Unruhe)

Entschuldigung, Herr Präsident. Verzeihen Sie!

(Heiterkeit Beifall bei der SPD und Abgeordne- ten der Grünen)

Zuvor ist Herr Abg. Kretschmann an der Reihe, dem ich das Wort erteile.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die Argumente für die anonyme Geburt sind von meinen Vorrednern und Vorrednerinnen vorgetragen worden. Es gibt natürlich auch gewichtige Gegenargumente. Das grundlegende Recht, seine Herkunft und seine Identität zu kennen, wird insbesondere von Vertretern der Adoptionsverbände vorgebracht. In Frankreich, das jetzt als positives Beispiel genannt wird, gibt es gerade eine Bewegung, die das Ziel verfolgt, die anonyme Geburt einzuschränken. Das dürfen wir nicht unberücksichtigt lassen.

Es gibt aber auch Bedenken, die dahin gehen, dass die anonyme Geburt und die Babyklappe keine wirksamen Instrumente sind, um Abtreibung und Kindstötung zu verhindern. Gegen diese Instrumente spricht natürlich auch, dass dadurch die Verantwortung von Vätern und Müttern für ihr Kind geschwächt werden kann und dass dadurch, weil es eben anonym stattfindet, leichter die Möglichkeit des Missbrauchs eröffnet wird. Diese Instrumente sprechen auch gegen den Trend, dass wir eigentlich in allen Bereichen der Gesellschaft mehr Transparenz wollen und darauf schauen, dass die Menschen wieder mehr Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen. Es gibt auch das Argument, dass damit nicht nur ein Bedarf gedeckt wird, sondern auch ein Bedarf geweckt werden kann. Ich finde, dass all diese Argumente wichtig und bedenkenswert sind.

Die Gegenargumente sind genannt worden: Heimliche Geburt gefährdet Mutter und Kind, und so wird verzweifelten Müttern die Gelegenheit gegeben, in einer Klinik ihr Kind anonym zur Welt zu bringen.

Trotz all dieser schwerwiegenden Bedenken sind natürlich auch wir für die anonyme Geburt, weil wir der Überzeugung sind: Selbst wenn es nur ganz wenige Kinder wären, denen dadurch das Leben ermöglicht würde, müssten die anderen Bedenken dahinter zurückstehen. Ich glaube, das ist ganz ähnlich wie bei § 218: Trotz schwerster rechtlicher Bedenken haben wir eine liberale Abtreibungsgesetzgebung, weil eine große Mehrheit davon überzeugt war, dass man es Müttern nur auf diese Weise erleichtert, ihre Kinder zur Welt zu bringen. Auch da beruhte die Intention, trotz schwerwiegender Bedenken die Abtreibungsregelung gesetzlich so zu gestalten, auf der Überzeugung, dass wir grundsätzlich Kinder und das ungeborene Leben nur mit den Müttern und nicht gegen sie schützen können.

Ich möchte noch einmal zusammenfassend sagen: Wir nehmen zwar all diese Bedenken ernst, aber diese Bedenken müssen hinter dem grundlegenden Recht auf Leben zurückstehen, das durch diese anonyme Geburt ermöglicht wird.