Protocol of the Session on April 17, 2002

Sie, meine Damen und Herren insbesondere von der CDU, haben das baden-württembergische Bildungswesen mit seiner frühen Auslese immer als einen Garanten für eine begabungsgerechte Förderung aller Kinder gesehen. Dabei hätten Sie wissen müssen wir alle haben das gewusst , dass Migrantenkinder und Kinder aus bildungsfernen sozialen Schichten in unserem Bildungswesen in gravierender Weise benachteiligt worden sind und auch heute noch benachteiligt werden.

(Abg. Wacker CDU: Na!)

Seit 40 Jahren besuchen ausländische Kinder unsere Bildungseinrichtungen. Die Institution Schule hätte also schon sehr lange Zeit gehabt, sich auf Kinder einzustellen, die aus anderen Ländern kommen, andere Sprachen sprechen und andere kulturelle Voraussetzungen mitbringen. Dass dies nicht geschah, dass man sich auf die Förderung dieser Kinder nicht eingestellt hat, hängt nicht zuletzt mit der großen Lebenslüge unserer Gesellschaft zusammen, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei.

(Beifall bei den Grünen)

Deshalb hat auch die Politik in den vergangenen Jahrzehnten keinen Anlass gesehen, ausländische Schüler und Schülerinnen besonders zu fördern. Es wurde kein Integrationskonzept entwickelt, und eine systematische Förderung dieser Kinder unterblieb. Deshalb, meine Damen und Herren, ist es gut, dass endlich mit dieser Lebenslüge unserer Gesellschaft Schluss gemacht wird. Deshalb ist es gut, dass Deutschland endlich ein modernes Einwanderungsgesetz bekommt.

(Beifall bei den Grünen Abg. Wacker CDU: Na, das sei einmal dahingestellt!)

Ich bedaure es deshalb auch ausdrücklich, dass sich die CDU und die CSU in letzter Sekunde aus diesem großen gesellschaftlichen Konsens, der sich schon abgezeichnet hatte, ausgeklinkt haben. Ich denke, dass dies auch eine ganz schlechte Botschaft an die in unserer Gesellschaft lebenden Migrantenfamilien ist.

(Beifall bei den Grünen und Abgeordneten der SPD Abg. Fleischer CDU: Das war ein bisschen anders!)

Mit diesem modernen Einwanderungsgesetz werden endlich die Voraussetzungen im Bund und in den Ländern für vernünftige Integrationskonzepte geschaffen.

(Abg. Wacker CDU: Und die Länder zahlen!)

Meine Damen und Herren, ich bestreite natürlich nicht, dass in den letzten Jahren Maßnahmen in allen Bundesländern, so auch in Baden-Württemberg, ergriffen wurden,

(Abg. Wacker CDU: Sehr viele!)

um ausländische Schüler und Schülerinnen zu fördern. Aber diese Maßnahmen haben bis heute im Wesentlichen den Charakter eines Krisenmanagements gehabt. In BadenWürttemberg gibt es derzeit laut Kultusministerium 720 Deputate für die sprachliche Förderung von Migrantenkindern. Allerdings fließen diese Deputate im Wesentlichen in Vorbereitungsklassen und in Förderkurse. Nach einem Jahr, wenn die Vorbereitungsklassen zu Ende sind, fallen die Kinder ins kalte Wasser. Es gibt dann keine begleitende intensive Sprachförderung mehr. Wir wissen alle, dass bei einem umfassenden und fundamentalen Spracherwerb natürlich auch eine sehr viel längere sprachliche Begleitung und systematische Förderung notwendig ist.

Wie ist nun die Situation bei den Bildungsabschlüssen von deutschen und Migrantenkindern? Nach der Grundschule wechseln 64,2 % der ausländischen Kinder auf die Hauptschule. Das heißt, zwei von drei ausländischen Kindern wechseln auf die Hauptschule. Bei den deutschen Kindern sind das 29,5 %. Also sieht man schon einen deutlichen Unterschied. In die Realschule wechseln 18,6 % der ausländischen Kinder. Von den deutschen Kindern sind es 32,5 %. Ans Gymnasium wechseln 12,7 % ausländische Kinder. Bei den deutschen Kindern sind das 37 %. Wenn wir jetzt noch die Aussiedlerkinder, die einen deutschen Pass haben das sind auch Migranten , dazunehmen würden, dann wären diese Diskrepanzen sogar noch viel, viel größer.

Wir haben allerdings auch Spitzen, zum Beispiel bei den Förderschulen. An den Förderschulen beträgt der Anteil der Migrantenkinder 36,5 %. Im BVJ, das Sie gerade so gelobt haben, Herr Wacker, sind 36,8 % ausländische Kinder.

(Abg. Wacker CDU: Also ist die Förderquote auch höher!)

Das heißt, wir haben in der Hauptschule, in der Förderschule und im BVJ eine extreme Überrepräsentation ausländischer Kinder,

(Abg. Wacker CDU: Darum ist es ja auch so wich- tig!)

während wir im Gymnasium sozusagen eine soziale Auslese haben. Dort haben wir nämlich im Wesentlichen Kinder, die aus Bildungsfamilien kommen.

Und was sagt unsere Ministerin zu dieser Situation und zu diesem Sachverhalt? Im Schulausschuss das war noch vor den Ergebnissen der PISA-Studie, Frau Ministerin Schavan haben Sie gesagt, wir müssten einen realistischen Blick entwickeln.

(Abg. Oelmayer GRÜNE: Da hat sie Recht! Zu- ruf des Abg. Pfister FDP/DVP)

Es gebe in vielen Städten in Baden-Württemberg ja Stadtteile da stimme ich Ihnen natürlich zu , in denen kein

Deutsch gesprochen wird. Jetzt zitiere ich den Schulausschussbericht: Sie sagten im Schulausschuss, es sei

... idealistisch, darüber nachzudenken, wie Jugendlichen mit einem solchen Hintergrund vielleicht doch der Übergang aufs Gymnasium ermöglicht werden könne.

Das, Frau Ministerin Schavan, ist genau die Haltung, die es bei uns immer gab: Für die ausländischen Schüler und Schülerinnen ist es ein Naturgesetz, dass sie in die Hauptschule gehen oder die Förderschule besuchen, und für die anderen ist das Gymnasium da. Hier hat uns die PISA-Studie in der Tat etwas gezeigt. Sie hat uns gezeigt, dass es in den erfolgreichen Ländern auch in den erfolgreichen europäischen Ländern möglich ist, Kinder mit gleicher Begabung auch gleich zu fördern. Wenn wir davon ausgehen, dass ausländische Kinder genauso begabt oder unbegabt sind wie die deutschen Kinder, dann müssen sie auch die gleichen Zugänge zu den gleichen Bildungschancen und zu den gleichen Bildungsabschlüssen bekommen.

(Beifall bei den Grünen Abg. Oelmayer GRÜ- NE: Das ist realistisch!)

Frau Ministerin Schavan, was sagen Sie heute? Sie sagen, es gebe ja die vertikale Durchlässigkeit im baden-württembergischen Bildungswesen. Das heißt, über die beruflichen Schulen und insbesondere über die beruflichen Gymnasien bestünden ja alle Chancen auch für Kinder mit herkunftsbedingten Lernnachteilen. Frau Ministerin Schavan, ich bestreite überhaupt nicht die positive Seite dieser Durchlässigkeit im baden-württembergischen Bildungswesen. Hier ist Baden-Württemberg übrigens viel besser als zum Beispiel Bayern. Denn Bayern hat dieses ausgebaute System der beruflichen Gymnasien nicht. Deshalb hat BadenWürttemberg zum Beispiel auch eine Abiturientenquote von 37 %. Dahinter bleibt Bayern weit zurück, nicht zuletzt aufgrund des Mangels an beruflichen Gymnasien.

Aber schauen wir uns das jetzt noch einmal mit Blick auf die ausländischen Schülerinnen und Schüler an. In die beruflichen Gymnasien kommen im Wesentlichen die deutschen Bildungsaufsteiger aus den Realschulen. An den beruflichen Gymnasien liegt aber der Anteil ausländischer Schüler und Schülerinnen lediglich bei 8 %. Das heißt, es gelingt auch hier nicht, ausländischen Schülern und Schülerinnen über diesen Weg, sozusagen über den „Trampelpfad“ ich sage das in Anführungszeichen , zu höheren Bildungsabschlüssen zu verhelfen. Ich bin selbst über solche „Trampelpfade“ gegangen, und ich habe das nicht bereut. Aber auch auf diesem Weg kommen die ausländischen Schüler und Schülerinnen, selbst über die Jahre versetzt, nicht dorthin. Damit zeigt sich: Wir haben im Prinzip in Baden-Württemberg noch kein Bildungswesen, das die Chancengleichheit mit Blick auf die Migrantenkinder tatsächlich gewährleistet.

(Beifall des Abg. Oelmayer GRÜNE)

Was können und was müssen wir tun? Viel. Einen Erfolg können wir verzeichnen. Das will ich an dieser Stelle auch einmal sagen.

(Abg. Drautz FDP/DVP: Die Grünen haben nur ei- nen Erfolg! Hast du das gerade gehört? Gegenruf des Abg. Oelmayer GRÜNE: Wir haben mehrere!)

Wir Grünen haben immer gefordert, ausländische Schülerinnen und Schüler nicht nur unter Defizitgesichtspunkten wahrzunehmen, sondern auch unter Berücksichtigung ihrer ganz speziellen Kompetenzen und Fähigkeiten. Sie haben die große Fähigkeit, dass sie über interkulturelle Kompetenzen verfügen und sich in zwei Kulturen bewegen können. Die interkulturelle Kompetenz von Menschen wird zum Beispiel auch von der Wirtschaft eingefordert. Sie bringen die Fähigkeit mit, mehrsprachig zu sein. Wir haben deshalb gefordert, diese Kompetenzen zu würdigen und damit die Chancen der jungen Ausländerinnen und Ausländer zu stärken. Wir haben gefordert, dass sie ihre muttersprachlichen Kompetenzen als Sprachkompetenzen prüfen und zertifizieren lassen können und diese ins Zeugnis eingetragen werden. Das haben Sie, Frau Kultusministerin Schavan, im Schulausschuss angenommen. Damit haben wir einen Erfolg für junge Migrantinnen und Migranten errungen.

(Beifall bei den Grünen)

Aber Handlungsbedarf besteht trotzdem. Ich will nicht das ganze Spektrum der Forderungen darstellen, das wir Grünen mit unserem Fraktionsantrag eingebracht haben, sondern mich auf wenige Punkte beschränken.

Wir müssen eine differenzierende Lern- und Unterrichtskultur weiterentwickeln. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Diagnosefähigkeiten, um Lernstand und Lernentwicklung zu erkennen und zu fördern. Dabei sind Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung gefragt, denn es darf natürlich nicht sein, dass Sprachdefizite als kognitive Defizite in der Schule wahrgenommen werden und die Schüler auf Förderschulen verwiesen werden, obwohl sie eigentlich von der Begabung her in andere Schulen gehen könnten. Dies ist im Augenblick sehr stark der Fall. Das zeigt die hohe Quote von 36 % ausländischen Schülern an Förderschulen.

Zweitens und das bestätigt Herr Baumert, der Leiter des deutschen PISA-Konsortiums : Wer im Vergleich mit allen anderen erfolgreichen Ländern so früh in weiterführende Schulen selektiert, nämlich nach nur vier Grundschuljahren, muss viel mehr in die vorschulische Bildung und Erziehung investieren. Wir brauchen Kindergärten als Bildungseinrichtungen. Wir Grünen fordern die europakompatible Ausbildung von Erzieherinnen.

Wenn Sie, Herr Wacker, sagen: „Wir reformieren die Erzieherinnenausbildung“, kann ich nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, Sie reformieren sie nun bereits seit zwölf Jahren.

(Zuruf des Abg. Kleinmann FDP/DVP)

Ich wünsche mir, dass endlich einmal Nägel mit Köpfen gemacht werden und endlich einmal das Konzept aus der Schublade geholt wird, in der es sich, wie Sie, Frau Ministerin, das letzte Mal gesagt haben, befindet.

Wir fordern auch muttersprachlichen Unterricht im Ergänzungsbereich, und zwar immer dort, wo Kinder eine Festigung ihrer muttersprachlichen Kenntnisse brauchen, um besser Deutsch zu lernen. Da ist vor allem auch der Kindergarten gefragt.

Wir fordern schon seit vielen Jahren, dass die Grundschulen zu echten Halbtagsschulen ausgebaut und an den Grundschulen Ganztagsangebote eingerichtet werden.

Wir müssen auch Migranten gewinnen, die in den Lehrerberuf einsteigen. Wir brauchen Migranten als Späteinsteiger, die entsprechend qualifiziert werden, aber wir brauchen auch junge Migranten, die sich für den Lehrerberuf interessieren, zum einen, weil sie die Problemlagen von Migrantenkindern kennen, zum anderen aber auch, weil sie positive Vorbilder für Migrantenkinder sein können.

Ich komme zum Schluss:

(Zuruf von der CDU)

14 Minuten.

(Abg. Wacker CDU: Gut in der Zeit!)

Wir brauchen auch für Migrantenkinder ermutigende Leistungsrückmeldungen. Wir brauchen diese zur Stärkung der Motivation und des Selbstvertrauens. Die Zeugnisse sehen nach der vierten Klasse oft so aus: Deutsch 5, Mathematik 5, Sachkunde 3 und Sport 2. Das ist eine Entmutigung für diese Kinder. Wir brauchen positive Leistungsrückmeldungen und auch eine Überprüfung der frühen sozialen Auslese nach nur vier Grundschuljahren. Es darf nicht sein, dass jetzt Bildungsstandards und Evaluationsprogramme kommen, aber die Frage der Notengebung und der frühen Auslese tabu ist. Wir wollen, dass auch dies in unserem Bundesland geklärt wird: mehr gemeinsames Lernen von Kindern.

Wir Grünen haben das Leitbild, dass alle jungen Menschen in unsere Gesellschaft integriert werden müssen und dass die soziale Integration nicht nach der vierten Grundschulklasse enden darf.

Ich bedanke mich.

(Beifall bei den Grünen)

Das Wort erteile ich Frau Abg. Queitsch.