Protocol of the Session on May 17, 2000

Herr Präsident, meine Damen und Herren, sehr geehrte Frau Ministerin! Als die Fraktionen dieses Hauses Anfang letzten Jahres unisono eine verlässliche Halbtagsgrundschule einforderten, haben wir Grünen die damals deutlich feststellbare ablehnende Haltung der Kultusministerin mit den Worten kommentiert, man könne sich des Eindrucks nicht erwehren, als müsse man die Kultusministerin bei diesem wichtigen pädagogischen und familienpolitischen Reformprojekt zum Jagen tragen. Bekanntlich aber kann man niemanden, der nicht von der Notwendigkeit überzeugt ist, zum Jagen zwingen.

(Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen: Ja- wohl! Sehr richtig!)

Was ist dabei herausgekommen, Frau Kultusministerin, nachdem Sie sich ein Jahr lang Zeit für Ihr Konzept gelassen haben? Eine Billiglösung auf dem Rücken der Kinder, zulasten der Familien, zulasten der Schulen und zulasten der Kommunen.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei Ab- geordneten der SPD)

Seit Bekanntgabe Ihres Konzepts in zwei Schulleiterbriefen reißt die Welle des Protests der Kommunen und der Elternbeiräte nicht ab,

(Abg. Hans-Michael Bender CDU: Angeheizt durch Sie!)

und auch die Verbände, allen voran der VBE, Schulleiter und die GEW, sagen: Verlässliche Grundschule ja, aber so nicht.

Es muss bei Ihnen, Herr Rau und Frau Berroth, doch sämtliche Alarmsignale in Bewegung setzen, dass jetzt, nachdem die Umsetzungspläne an den Schulen bekannt werden, die Eltern händeringend fordern – ich zitiere hier beispielhaft den Elternbeirat einer Grundschule in einem Schreiben –, dass die bisher bewährte, umfangreiche und qualifizierte Betreuung nicht durch fragwürdige Neukonzeptionen verschlechtert werden soll. Herr Rau und Frau Berroth, die Diskrepanz zwischen Ihren damaligen engagierten Forderungen bezüglich eines pädagogischen Gesamtkonzepts einer verlässlichen Halbtagsgrundschule und dem jetzt vorliegenden Konzept könnte nicht größer sein.

Ich will einige wesentliche Kritikpunkte benennen.

Erstens: Bei dem jetzt propagierten verlässlichen Grundschulmodell handelt es sich weiterhin um ein Kernzeitenmodell.

(Abg. Dr. Salomon Bündnis 90/Die Grünen: So ist es!)

Nur gibt es zum bisherigen Kernzeitenmodell einen entscheidenden Unterschied: Die Betreuung wird insbesondere in den Großstädten qualitativ und quantitativ schlechter, und dabei gibt es noch nicht einmal einen Rechtsanspruch der Eltern auf die Betreuung.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und des Abg. Brechtken SPD)

Zweitens: Die Grundschulen werden in die Pflicht genommen, einen verlässlichen Unterrichtsblock zu organisieren, ohne dass sie dazu die notwendigen Ressourcen bekommen. Auch die von Ihnen schnell genannten Nachbesserungen sind unzureichend, und, Frau Kultusministerin: Wie muss es arbeitslosen jungen Grundschullehrerinnen zumute sein, wenn sie hören, dass man auf Pensionäre zurückgreifen möchte, während sie selbst arbeitslos auf der Straße stehen?

(Abg. Brechtken SPD: So ist es!)

Gleichzeitig kann die Verlässlichkeit nur auf dem Rücken der Teilzeitkräfte und der Hauptschulen durchgeführt werden.

Drittens: Den Kommunen wird der schwarze Peter in die Schuhe geschoben, die additive Betreuung, die aber deutlich kürzer ist, vor und nach dem Unterrichtsblock bedarfsgerecht einzurichten. Die Kommunen sind es, die jetzt den Ärger der Eltern auf sich ziehen. Dabei sind die Kommunen die völlig falsche Adresse.

Am Beispiel der Großstädte Stuttgart und Karlsruhe kann man erkennen, wie fatal sich das neue Konzept auswirkt. Bislang hatte die Stadt Karlsruhe zum Beispiel ein Kernzeitenmodell, bei dem die Erzieherinnen Arbeitsverträge zwischen 18 und 25 Wochenstunden hatten. Jetzt werden diese Verträge mit sozialverträglichen Übergangsregelungen auf 13 Wochenstunden reduziert. Ich frage Sie: Sind das die Arbeitsplätze für qualifiziertes pädagogisches Personal, durchweg Frauen? Kann ihnen dies künftig zugemutet werden? Halten Sie es nicht für eine Entwertung des Erzieherinnenberufs, wenn diese qualifizierten Arbeitskräfte auch noch durch unqualifizierte, durch so genannte „in der Erziehung erfahrene Personen“ ersetzt werden können? Dabei brauchen wir doch eine Aufwertung der wichtigen pädagogischen Arbeit der Erzieherinnen und keine Abwertung, wie das mit diesem Ihrem Modell passiert.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei Ab- geordneten der SPD)

Dies ist wieder einmal ein Beispiel dafür, wie sich ein Konzept der Landesregierung mit einer schönen Überschrift im Schulalltag als in der Praxis unzureichend erweist.

Wir Grünen fordern deshalb weiterhin eine verlässliche Halbtagsgrundschule in der pädagogischen und finanziellen Verantwortung des Landes und einen pädagogisch ausgestalteten Unterrichtsvormittag mit fünf Zeitstunden.

Herr Rau, natürlich gibt es positive pädagogische Ansätze in unseren Grundschulen. Natürlich haben wir engagierte Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer. Aber Sie wissen doch genau: Wir brauchen mehr Zeit für Kinder an der Grundschule. Sie haben es bereits von Herrn Zeller gehört: Was das Unterrichtsangebot an den Grundschulen in Baden-Württemberg angeht, sind wir bundesweit gesehen das Schlusslicht.

Wir brauchen also eine Erweiterung der Grundschule zu einer Schule, in der alle Kinder pädagogisch-sozial ganzheitlich besser gefördert werden können. Die Kommunen sind dann gern bereit, ein bedarfsorientiertes Nachmittagsangebot, wenn nötig, auch mit Mittagstisch, durchzuführen. Dann hätten wir eine echte Arbeitsteilung zwischen den Aufgaben des Landes und der Kommunen. Dafür werden wir uns weiter einsetzen.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit, meine Damen und Herren.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und des Abg. Zeller SPD)

Das Wort erhält Frau Abg. Berroth.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Die verbindliche Halbtagsschule kommt, und sie ist in ihrer praktischen Umsetzung ein ganzes Stück weiter als zu dem Zeitpunkt, als wir zum letzten Mal hier darüber debattiert haben. Sie ist vor allem auch weiter, als Sie es jetzt glauben machen wollen.

Erst gestern habe ich von meiner Heimatgemeinde gehört, dass die dortige Grundschule künftig regelmäßig um 8:30 Uhr beginnen wird. Vor und nach dem festen Unterrichtsblock gibt es eine Kernzeitenbetreuung: Von 7:40 Uhr bis 13:00 Uhr sind die Kinder sicher versorgt. Ein zusätzliches Betreuungsangebot in den Ferien umfasst den ganzen Vormittag. Auf die Eltern kommen Kosten von einer Mark pro Betreuungsstunde zu; eine soziale Staffelung berücksichtigt besondere Belange. Das ist genau das vom Land vorgesehene Modell, und dies zeigt: Es ist realisierbar. Und kein Mensch ringt mit den Händen, obwohl unser Grundschulrektor für die SPD im Gemeinderat sitzt. In vielen anderen Gemeinden sind inzwischen ähnlich vernünftige Lösungen beschlossen worden.

(Zuruf des Abg. Capezzuto SPD)

Ich danke den Schulleitungen, Elterninitiativen, Kommunalverwaltungen und Gemeinderäten, die sich aktiv bemühen, und beglückwünsche alle, die diese Aufgabe schon erfolgreich abgeschlossen haben.

Einzelbeispiele von Fehlentwicklungen müssen in den Kommunen nachgebessert werden. Ich selbst kann auch nicht verstehen, weshalb Großstädte wie Stuttgart und Karlsruhe, obwohl sie höhere Zuschüsse bekommen,

(Abg. Ingrid Blank CDU: 27 % mehr!)

ihr Angebot jetzt plötzlich verschlechtern. Das muss aber der Gemeinderat vor Ort prüfen und entsprechend regeln.

Wir bekommen jetzt – das sollte man wirklich einmal deutlich sagen – eine ganz massive Verbesserung gegenüber der bisherigen Situation mit ausgefransten Stundenplänen und Kindern, die plötzlich zu Hause stehen, ohne dass ihre Eltern wissen, dass sie kommen. Die neue Struktur bringt einen stabilen zeitlichen Ordnungsrahmen, der für Kinder und damit auch für Lehrer aus pädagogischer Sicht sowie für Eltern und Gemeinden aus organisatorischen Gründen wertvoll ist.

So viel zu dem, was die Opposition gerade massiv schlecht reden will und womit Sie jetzt Angst verbreiten, Herr Zeller – fast in dem Stil, in dem es heute Morgen schon eine andere Fraktion praktiziert hat. Das ist wirklich nicht angemessen.

Wir sollten uns auch nicht dadurch irritieren lassen, dass der gewährte Freiraum, nämlich die geforderte Kreativität in der Gestaltung vor Ort, manche Menschen, die das bisher nicht gewohnt sind, zunächst etwas verunsichert.

Der Erfolg des Konzepts – da haben Lehrerverbände, Eltern und Gemeinden, die sich zunächst kritisch geäußert haben, durchaus Recht – steht und fällt mit einer ausreichenden Lehrerversorgung. Ich erwarte deshalb vom Kultusministerium, dass es durch klare Veröffentlichungen

nochmals erläutert, dass und wie das Land seiner Verpflichtung zur Bereitstellung des festen Unterrichtsblocks nachkommt und ihn sicherstellen wird. Denn entgegen der unverfrorenen Jammerdarstellung der SPD, es werde keine einzige zusätzliche Lehrerstelle geschaffen – das stimmt einfach nicht, Herr Zeller –,

(Abg. Zeller SPD: Natürlich stimmts!)

haben wir mit noch kurzfristig in den Haushalt eingestellten Mitteln die Lehrerausstattung gerade für die Halbtagsgrundschule durchaus verbessert.

(Abg. Zeller SPD: Aber Sie haben keine Stellen geschaffen! Das ist doch unglaublich! – Weitere Zurufe von der SPD)

Ich habe eigentlich gedacht, Sie seien bei der entsprechenden Debatte hier im Haus dabei gewesen. Übrigens geht es da bei weitem nicht nur um Pensionäre, sondern zum Beispiel auch um Frauen in der Familienphase, für die es sehr interessant sein kann, wenn sie kurzfristig in den Beruf zurückkehren können, weil sie dann inhaltlich im Beruf bleiben.

(Beifall bei der FDP/DVP)

Nun beklagen die Antragsteller einerseits in vielen lokalen Pressemitteilungen massiv Probleme, die durch die Umstellung auf feste Schulzeiten und ein besser landesgefördertes Betreuungsangebot, wohlgemerkt ohne Mindestgruppengrößen – das ist eine ganz gewaltige Verbesserung gegenüber früher –, angeblich entstehen. Andererseits geht ihnen die Regelung jedoch nicht weit genug.

Die Zusage der Landesregierung für den festen Unterrichtsblock liegt vor. Ein darüber hinausgehender Rechtsanspruch, meine Damen und Herren, bringt Nivellierung und nimmt damit zwangsweise ein Stück Qualität weg. Dies wollen wir gerade in diesem Fall nicht. Wir werden den Antrag ablehnen, weil es uns wichtig ist, zum Beispiel viele über Ihren Antrag hinausgehende gute Lösungen der die Schule ergänzenden Betreuung, die im Land bereits existieren, auch künftig zu erhalten und weiterzuentwickeln.

Wir machen nun einen ersten wichtigen Schritt im Hinblick auf die verbindliche Halbtagsschule. Wenn die SPD sich nicht nur im Verhindern übt, indem sie fortlaufend nicht Leistbares verlangt und erreichbare Fortschritte beklagt, wird das Projekt in spätestens zwei Jahren voll funktionsfähig sein. Frühestens dann kann überlegt werden, ob weitere Ausweitungen angebracht wären oder ob wir nicht, wie schon lange von uns Liberalen verlangt, dann endlich das Netz der Ganztagsschulen vernünftig erweitern.

Ich freue mich auf jeden Fall schon heute für die Mütter der Grundschulkinder, weil sie künftig ihre Vormittage wieder regelmäßig planen können, sei es für Familienarbeit, das Verbleiben in dem vor der Familienphase ausgeübten Beruf oder für ehrenamtliche Aufgaben. Ich freue mich für die Arbeitgeber, die nicht mehr gezwungen werden, sich nach der Stundenplanlage der Kinder ihrer Beschäftigten zu richten. Ich bin sicher, dass durch die gewonnene Stabilität im Unterricht mittelfristig in pädagogi

scher und didaktischer Sicht deutliche Fortschritte erzielt werden, auch in Richtung dessen, was wir heute Morgen unter Tagesordnungspunkt 1 behandelt haben, bzw. weiter auf dem Weg, den uns die neue OECD-Studie weist.

(Beifall bei der FDP/DVP und Abgeordneten der CDU)

Das Wort erhält Herr Abg. Dagenbach.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Gestatten Sie mir eine kleine Vorbemerkung. Der vorliegende Antrag ist überschrieben: „Rechtsanspruch auf verlässliche Halbtagsschule“. Einmal abgesehen davon, dass es hier nur um die Grundschulen gehen kann, sollte man mit der Einführung von Rechtsansprüchen generell eher zurückhaltend sein.