Protocol of the Session on May 17, 2000

Kollege Wacker hat dies gerade ebenfalls angeführt. Nur damit klar ist, worüber wir reden. Die Jugendlichen sind besser als ihr Ruf, Herr Deuschle.

(Beifall bei der SPD – Abg. Deuschle REP: Besser als Sie vielleicht!)

Der Rektor der Fachhochschule der Polizei in VillingenSchwenningen führt aus: Gewalt findet in erster Linie in

den Familien statt, nicht in den Schulen. Drei von vier Einsätzen der Stuttgarter Polizei wegen Gewaltdelikten führen in Familien. Kinder und Jugendliche sind häufiger Opfer als Täter. Und Feltes kommt zu dem Schluss – ich zitiere ihn wörtlich –:

Die Fokussierung der Jugendgewalt durch die Erwachsenenwelt hat auch eine gewisse Rechtfertigungs- und Entlastungsfunktion. Verschleiert wird damit, dass die Bedingungen zur Entstehung von Jugendkriminalität zu einem wesentlichen Teil von der durch die Erwachsenen konstruierten und geschaffenen Welt geschaffen werden.

Deshalb: Lassen Sie uns über das reden, wofür wir Verantwortung tragen und wo wir unserer Verantwortung gerecht werden müssen. Lassen Sie uns über Familien- und Jugendpolitik sprechen.

Dazu, sage ich Ihnen, steht erstens fest – darüber waren wir uns in der Jugendenquetekommission einig, und ich denke, das sind wir uns auch heute noch –, dass ein enger, aber nicht zwingender Zusammenhang besteht zwischen den Zukunftsperspektiven junger Leute, der sozialen Lage und der Bereitschaft zur Gewalt und dass Gewalt zuallererst in den Familien gelernt wird.

Die Landesregierung sieht es offenbar ebenso. Sie sagt: „Junge Menschen, die Opfer innerfamiliärer Gewalt waren, schließen sich signifikant häufiger in Gewalt befürwortenden Gleichaltrigengruppen zusammen.“ Das ist leicht nachzuvollziehen. Auch die Erfahrung zeigt: Wer zu Hause Gewalt erlebt, wird später häufiger selbst zum Täter. Wer von seinen Eltern geschlagen wird, damit er gehorcht, bekommt beigebracht, dass das Recht des Stärkeren gilt – nicht die Stärke des Rechts. Diese Gewaltspirale gilt es zu durchbrechen.

Deshalb hat die Bundesregierung zu Recht eine Initiative ergriffen, einen Gesetzentwurf eingebracht, um Kindern ein Recht auf eine gewaltfreie Erziehung einzuräumen. Wir legen damit fest, dass Kinder zunächst einmal ein Recht haben, überhaupt erzogen zu werden und dass sich jemand um sie kümmert. Die Erziehung muss gewaltfrei sein, eine Tracht Prügel gehört eben nicht zur Erziehung. Dass das noch nie jemandem geschadet habe, ist blanker Unsinn.

Die Bundesregierung hat diese Initiative zu Recht ergriffen, und ich baue darauf, dass diejenigen, die noch Widerstand leisten, die sich hier noch wehren, diesen Widerstand aufgeben, weil es zuerst um die Kinder geht und nicht um die Frage, wer das alles schon längst hätte machen können. 16 Jahre lang hätten Sie ja Zeit dazu gehabt.

Zweitens – und auch darüber waren wir uns in der Jugendenquetekommission einig –: Häufig gibt derjenige, der unter besonderem Druck steht, diesen Druck weiter, weil er oft auch gar nicht anders kann. Das heißt, dass die Familien, die während der 16 Jahre währenden Regierungszeit Kohl schlecht gefahren sind, materieller und personeller Hilfe bedürfen.

Da sage ich Ihnen: Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten beobachten mit Sorge, dass in Baden-Württemberg beispielsweise das Pro-Kopf-Einkommen junger Ehe

paare mit Kindern, verglichen mit dem kinderloser Paare, geringer ist als in anderen Bundesländern, beispielsweise in Bayern oder Niedersachsen. Deshalb sagen wir: Es ist an der Zeit, dass die Einkommensgrenzen beim Landeserziehungsgeld angehoben werden und dass die Eltern freier als bisher wählen können, wann sie diese Hilfen in Anspruch nehmen und wie sie das Landeserziehungsgeld mit einer Teilzeitbeschäftigung kombinieren.

(Abg. Haas CDU: Machen Sie mal einen Finanzie- rungsvorschlag!)

Wir meinen, die Verbesserungen beim Bundeserziehungsgeld müssen dazu führen, dass sich die Landesregierung ein Beispiel nimmt, dass sie nachzieht und dass sie die Familien ebenfalls unterstützt.

Drittens ist hier vor allem die Schulpolitik gefragt. Ich muss Ihnen sagen: Ich habe eine riesige Hochachtung vor dem, was Lehrerinnen und Lehrer hier leisten, und davor, wie Eltern, Betriebe, Sozialarbeiter und Schüler sich einbringen. Ich danke ihnen allen auch im Namen meiner Fraktion ausdrücklich.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten des Bünd- nisses 90/Die Grünen)

Was die Menschen aber zutiefst beunruhigt – das muss ich Ihnen sagen –, ist, dass sie den Eindruck nicht loswerden, dass die Landespolitik sie hängen lässt, dass Sie mit 356 verschiedenen Versuchen und Modellen Verunsicherung in die Schulen bringen, statt endlich verlässlich und berechenbar zu werden. Hier haben wir einen gewaltigen Nachholbedarf. Deshalb werde ich in der zweiten Runde einige Vorschläge hierzu unterbreiten.

(Beifall bei der SPD)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Dr. Salomon.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Der Mord eines Schülers an seiner Lehrerin in Meißen, der Amoklauf eines Schülers in Bad Reichenhall und natürlich die furchtbaren Ereignisse in Littleton in den USA, die letztes Jahr um die Welt gegangen sind, haben auch in Deutschland zu einer Debatte geführt, die meines Erachtens grob verzerrt ist und ein Bild von jugendlichen, heranwachsenden Monstern an unseren Schulen zeigt, das so einfach nicht stimmt; das muss man einmal deutlich sagen.

Wir haben letzte Woche eine Anhörung abgehalten, bei der dieses Bild in nichts zerlegt wurde: Diese Jugend ist nicht schlimmer oder besser als andere Generationen vor ihr. Das muss man hier auch einmal klar feststellen. Von daher dient Ihre Debatte, Herr Deuschle, wieder einmal nur der Nebelwerferei.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. Rapp REP: Sie verharmlosen!)

Der Landespolizeipräsident hat eindeutig festgestellt, dass es zwei Dinge festzuhalten gilt: Zum einen ist die Zahl der angezeigten Delikte gestiegen. Er hat aber gleichzeitig eine Erklärung dafür gegeben, die eigentlich eine positive Ent

wicklung darstellt. Er hat gesagt: Aus der Dunkelziffer wird eher eine Hellziffer. Das heißt, die Sensibilität der Gesellschaft für Gewalt ist gestiegen, was einfach ein Zeichen für ein in der Gesellschaft gestiegenes Bewusstsein für Gewalt ist, und das ist zunächst einmal positiv. Er hat gleichzeitig gesagt, dass die Zahl der Verurteilungen überhaupt nicht gestiegen ist.

(Abg. Deuschle REP: Ja, woran liegt das?)

Er hat noch etwas gesagt: Es gibt insgesamt in BadenWürttemberg eine sehr kleine Zahl von Intensivtätern, von Jugendlichen, die immer wieder auffallen und Schwierigkeiten machen. Das sind 580 Schüler von 1,4 Millionen. Wenn man das umrechnet, sind es 0,4 Promille. Einer von 2 500 Schülern ist sozusagen ein Problem. Auch diese Zahl ist wahrscheinlich nicht schlimmer, als sie in den letzten Jahren auch war.

Er hat noch etwas gesagt: In dieser Zahl – und das ist ja Ihr Anliegen für diese Debatte – sind erstens Schüler mit deutschem Pass – das sind die meisten –, dann Schüler auch mit deutschem Pass, die aber Aussiedler sind, und dann Schüler mit ausländischem Pass. Für die zwei letztgenannten Gruppen, die Aussiedler und die Schüler mit ausländischem Pass, muss man sagen: Da ist in diesem Land etwas ganz anderes schief gelaufen –

(Abg. Deuschle REP: Was denn? Die Integration hat versagt!)

da hat die Landesregierung ein Defizit, und darüber müssen wir auch reden –: Das ist das Thema Integration.

(Abg. Deuschle REP: Ja, eben! – Abg. Krisch REP: Integrationswilligkeit!)

Integration ist in diesem Land nicht gewünscht gewesen, weil nicht festgestellt wurde, dass dieses Land ein Einwanderungsland ist. Das ist der Punkt.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen und bei der FDP/DVP – Abg. Deuschle REP: Das ist doch lachhaft! – Zuruf des Abg. Rapp REP)

Ein dritter Punkt ist wichtig: Gewalt wird, wenn sie denn in den Schulen stattfindet, nicht nur von außen hineingetragen. Es ist nicht nur eine Frage der sozialen Lage der Gewalttäter, es ist nicht nur eine Frage der Familien der Gewalttäter, sondern Gewalt entsteht auch an der Schule. Das war auch eindeutig. Subjektiv empfundene ungerechte Benotungen, Benachteiligungen usw. führen auch zur Gewalt. Ein weiteres Ergebnis der Anhörung war, dass man natürlich auch als Schule versuchen muss – ohne jetzt den schwarzen Peter bei den Schulen abzuladen –, Gewaltpräventivmaßnahmen zu machen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Sehr gut!)

Denn Gewalt entsteht auch dadurch, dass Kinder und Jugendliche den ganzen Tag stillsitzen müssen, nicht mehr toben können, sich nicht mehr bewegen können, dass Klassenräume bewegungsfeindlich gestaltet sind, dass Schulhöfe aus Beton bestehen, dass man nicht mehr spielen, nicht mehr herumrennen darf. Da gibt es – dazu haben wir vier Modelle aus Baden-Württemberg hier vorgestellt – Schu

len, die sich dieses Problems annehmen und die einfach hergehen und sagen: Wir müssen diesem Bewegungsdrang, diesem Drang zum Toben, zum Tollen und auch zum Raufen, wenn es denn sein muss, Rechnung tragen, indem wir Toberäume machen, indem wir zum Beispiel Sandsäcke aufstellen, an denen insbesondere Jungen sich austoben können, auf die sie mal richtig draufhauen können. Das alles sind Präventivmaßnahmen. Das wird gemacht, und an den Schulen, wo das gemacht wird, gibt es auch keine Gewaltprobleme.

Das sind alles Dinge, die diese Debatte, die Sie hier künstlich hochzuziehen versuchen, in ein Nichts auflösen.

(Abg. Deuschle REP: Verharmlosung!)

Ich will noch einmal wiederholen: Das ist ein Plädoyer, einfach klar zu sehen, dass die heutige Jugend normal ist, so wie wir damals als Jugendliche normal waren. Zu sagen, die Jugend werde immer gewalttätiger, ist eine hohle Phrase.

In der zweiten Runde will ich auf ein sehr wichtiges Thema eingehen: Was ist eigentlich mit den Problemtätern? Warum werden wir diesen nicht gerecht?

(Abg. Deuschle REP: Eben!)

Das muss man in der zweiten Runde klären.

Danke schön.

(Beifall beim Bündnis 90/Die Grünen – Abg. Deuschle REP: Und nicht verharmlosen!)

Das Wort erteile ich Herrn Abg. Kleinmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Gewalt an Schulen ist in der Tat ein ernst zu nehmendes und wichtiges Thema.

(Abg. Deuschle REP: Danke schön! Einer be- greifts!)

Allerdings ist Gewalt an Schulen aus Sicht meiner Fraktion und auch von mir persönlich nicht eine besondere Erscheinung, sondern sie ist das Spiegelbild der Gewalt in unserer Gesellschaft überhaupt. Ich halte es für völlig falsch, dieses Thema hier gewissermaßen auf die Schulen zu fokussieren und zu sagen: Dort tritt in besonderer Weise Gewalt auf. Dass die Gewalt von Jugendlichen dort in besonderer Weise hervortritt, ist klar, weil an der Schule vorwiegend Jugendliche sind.

Lassen Sie mich aber zunächst einmal auf die Ursachen für Gewalt an Schulen eingehen. Das ist zum einen sicher ein Mangel an sozialer Bindung. Er beginnt schon in den Familien, setzt sich in der Gesellschaft fort und tritt selbstverständlich auch in den Schulen auf. Es sind Defizite bei der Erziehung, es ist eine sehr starke, zunehmende Ichbezogenheit.

(Abg. Deuschle REP: Sehr richtig! Sie wiederho- len meine Rede!)