Protocol of the Session on February 20, 2001

Wir unterstützen diese Vorhaben; denn die europäische Biotechnologie muss gegen die amerikanische antreten und ihr den Spitzenplatz streitig machen. Die Menschen sehen die Chancen der neuen Technologie und begrüßen sie; wahr ist aber auch: Die neuen Technologien wecken nicht nur Hoffnungen, sie schüren auch Zukunftsängste, und vielen Menschen wird es dabei teilweise unheimlich. Denn es ist auch der Verlust des Überschaubaren, die Beeinträchti

gung des Persönlichen, Privaten und Intimen. Nicht zuletzt fürchten sie die Erosion ethischer und rechtlicher Grundorientierungen, die unserer Gesellschaft Einheit geben und sie zusammenhalten.

Unstreitig ist, dass die Bio- und Gentechnik uns mit Fragen konfrontiert, die die grundlegende Wertorientierung unserer Gesellschaft betreffen.

(Abg. Brechtken SPD: Freie Rede, Herr Kollege! Lesen sollte man Bilanzen von Vereinen!)

Die Debatte entzündet sich zurzeit vor allem an den neuen diagnostischen, technischen und vor allem auch therapeutischen Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin und den neuen Möglichkeiten zur gentechnischen Diagnose von Krankheits- und Verhaltensdispositionen.

Dabei werden immer mehr Stimmen laut, die für eine Überwindung der bisherigen moralischen und rechtlichen Grenzen des Erlaubten plädieren. Es wird unterstellt, dass die moralische und rechtliche Grundorientierung unserer Gesellschaft auf irrationalen oder überzogenen Auffassungen von der Würde des Menschen und seiner unbedingten Schutzwürdigkeit beruht, die in der modernen und aufgeklärten Welt angeblich nicht mehr als allgemein gültig anerkannt werden können. Damit sollen neue Wege geebnet werden, beispielsweise für die Selektion von Embryonen mit gentechnisch diagnostizierten Krankheitsdispositionen, für eugenische Praktiken zur angeblichen Perfektionierung von Menschen oder für den Verbrauch von Embryonen zur Herstellung von transplantierbaren Geweben und Organen.

Unsere Grundwerte sind kein Hindernis auf dem Weg zu einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft. Sie sind im Gegenteil die rationale und unersetzliche Basis einer modernen und aufgeklärten Gesellschaft. Um des Menschlichen willen darf diese Basis nicht zugunsten postmoderner Beliebigkeit preisgegeben werden, für die letztlich erlaubt ist, was möglich ist. Eine Gesellschaft, die sich anmaßt, das Recht auf Leben selektiv zu- oder abzuerkennen und die am Maßstab genetischer Merkmale über das Lebensrecht von Kindern entscheidet, kann keine menschliche Gesellschaft sein.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU)

Meine Damen und Herren, ich weise nochmals ausdrücklich darauf hin, dass die Aussprache im Rahmen der Aktuellen Debatte nach § 60 Abs. 3 der Geschäftsordnung in freier Rede zu führen ist.

(Abg. Bebber SPD: Zu spät!)

Ich erteile das Wort Herrn Abg. Dr. Müller.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Herr Kollege Noll, mir erschließt sich der Sinn der Debatte heute Nachmittag nicht ganz.

(Zuruf des Abg. Dr. Noll FDP/DVP)

Ich meine, hier geht es doch um Grundfragen der menschlichen Existenz, und ich frage mich zum einen, welchen Spielraum das Land da hat, und zum anderen, ob wir das Thema in einer Aktuellen Debatte mit zweimal fünf Minu

ten Redezeit adäquat behandeln können. Ich habe da meine Zweifel.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Eines war interessant, Herr Kollege Reinhart: Sie haben die Biotechnologieregionen in Baden-Württemberg hochgehalten und gesagt, wir dürften uns nicht vom Fortschritt abkoppeln. Ich habe eine Pressemitteilung von Sozialminister Dr. Friedhelm Repnik – ich zitiere –: „Beim Umgang mit menschlichen Embryonen müssen die gesetzlichen Schranken verteidigt werden.“

Das heißt, Sie müssen sich über Ihre Sprachregelung erst einmal intern klar werden. Man kann nicht auf der einen Seite sagen: „Wir wollen im Bereich der Biomedizin und der Biotechnik Weltspitze sein und mit den USA, wo es ganz andere moralische Kriterien gibt, mithalten“, aber auf der anderen Seite die eine Klientel bedienen. Sie haben in dieser Angelegenheit meiner Ansicht nach eine ungute Arbeitsteilung: Das Feuilleton leitet Minister Repnik, und den Wirtschaftsteil machen Sie bzw. heute Vormittag der Ministerpräsident. So kann man die Debatte nicht führen, und so kommen wir auch, glaube ich, insgesamt nicht weiter.

(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/Die Grünen)

Meine Damen und Herren, man sollte die Debatte um die Entschlüsselung des Genoms in andere Debatten, die wir hier schon geführt haben, einbeziehen, zum Beispiel in die Debatte über die Grundsätze der Transplantationsmedizin. Da geht es ja um die gleichen Fragen. Es geht um die Frage: Wo beginnt das Leben? Im Bereich der Sterbehilfe geht es um die Frage: Wo endet das Leben? Es geht im Bereich der Reproduktionsmedizin auch um die Frage: Dürfen wir alles machen, was wir machen können? Das heißt, wir brauchen eine sehr breite Debatte, in die auch die Biomedizin und die Genomforschung einbezogen werden.

Für mich ist klar, dass wir diese Debatte nicht hier im Parlament führen können. Dafür sind wir meiner Ansicht nach nicht kompetent genug, und da brauchen wir, glaube ich, auch einen sehr breiten Konsens. Man kann sich ja nicht vorstellen, dass wir hier mit Fraktionsmeinungen beschließen: So und so geht es.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Darum geht es nicht!)

Da ist das angebracht, was Professor Habermas einmal sagte: Wir brauchen dazu einen permanenten Diskurs, in dem Argument und Gegenargument vorgebracht werden, aus denen man dann gesamtgesellschaftliche Normen ableitet.

Das, meine Damen und Herren, ist nicht sehr einfach. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die christlichen Religionen nicht mehr dieselbe Bedeutung wie früher haben, und es gibt sehr viele Moralvorstellungen. Ich sehe das selbst im Bereich der Reproduktionsmedizin. Ein kinderloses Ehepaar, Herr Professor Reinhart, sieht die Angelegenheit anders als jemand, der darüber debattiert, weil er persönlich betroffen ist. Jemand, der eine Erbkrankheit hat, sieht das auch ganz anders als jemand, der abstrakt darüber diskutiert.

(Abg. Rech CDU: Sehr richtig!)

Das ist meiner Ansicht nach das Problem. Man ist da vom Standpunkt und von der Zeit abhängig. Mit der Zeit werden sich die Standpunkte ändern, egal, was wir machen. Ich erinnere mich noch an das, was man vor 20 Jahren zum Retortenbaby – IVF – gesagt hat. Heute ist das Alltag und wird in Aalen und Schwäbisch Gmünd gemacht, und niemand redet darüber. Denken Sie an die Transplantation der Hornhaut von Toten! Man hat gesagt: Das ist nicht zu machen. Heute ist auch das Alltag.

Das heißt, wir müssen mit der wissenschaftlichen Diskussion und mit dem medizinischen Fortschritt zu anderen Einstellungen kommen. Letztendlich muss man auch sehen, dass wir nicht in der Bundesrepublik Deutschland als einem geschlossenen Kreis debattieren, sondern dass wir in einem Europa der offenen Grenzen debattieren.

(Abg. Hans-Michael Bender CDU: Da haben Sie Recht! Holland auch!)

England hat ganz andere Vorstellungen, und in Frankreich wird die Präimplantationsdiagnostik ganz anders diskutiert als bei uns.

(Abg. Hans-Michael Bender CDU: Holland!)

Da ist natürlich schon die Frage zu stellen: Können wir es uns leisten, dass wir da eine Insel bleiben? Was machen wir denn, wenn die betroffenen Ehepaare sagen: Wenn es das bei uns nicht gibt, gehen wir nach England? Dort wird letztendlich eine soziale Auslese getroffen. Diejenigen, die es sich leisten können, werden das letztendlich machen. Ich will zeigen, dass das ein ungeheuer schwieriges Problem ist.

Es gibt einen konkreten Punkt, Herr Noll, den Sie gerade nicht angesprochen haben. Bei diesem Genomforschungsprojekt war meiner Ansicht nach die Art der Forschung der eigentliche Knackpunkt. Es gab hier zwei Parallelen. Es gab Herrn Venter, und es gab dieses öffentliche Forschungsprojekt. Bei Herrn Venter ging es ja um diese Diskussion: Stellen wir das ins Internet? Er hat gesagt: „Ich mache das nur zum Teil, weil ich natürlich wirtschaftliche Interessen habe.“ Bei dem großen Genomprojekt von mehreren Nationen wurde gesagt: „Wir stellen das geschlossen ins Internet. Das Forschungsergebnis muss jedem zugänglich sein.“ Ich glaube, das ist der eigentliche Knackpunkt bei solchen Grundlagenforschungen: Wie geht man damit um? Wollen wir auch das privatisieren? In dieser Sache würde ich mir gern einmal Ihre Meinung anhören. Oder sagen wir: „Das ist öffentliche Grundlagenforschung; das ist jedem uneingeschränkt zugänglich zu machen“?

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Ist es doch!)

Das bedeutete für Baden-Württemberg natürlich, dass wir Grundlagenforschung in vielerlei Hinsicht fördern.

Über den Landesbedarf und über die Diskussion, die wir vor Ort führen können, werde ich in der zweiten Runde reden.

(Beifall bei der SPD und Abgeordneten des Bünd- nisses 90/Die Grünen – Abg. Pfister FDP/DVP: Wenn der Präsident das genehmigt! – Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Der Präsident erteilt das Wort! – Abg. Brechtken SPD: Das war jetzt nur ein Antrag auf Worterteilung! – Gegenruf des Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Das war es bei mir auch! – Zuruf des Abg. Pfister FDP/DVP – Unruhe)

Das Wort erhält Herr Abg. Kretschmann.

Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich glaube nicht, dass man in einer Debatte, in der es um die fundamentalsten Fragen menschlicher Existenz geht, in freier Rede in fünf Minuten dazu Darlegungen machen kann, ohne Missverständnisse zu erzeugen. Deswegen halte ich diese Debatte wirklich für verfehlt.

Die Entschlüsselung des menschlichen Erbguts wird von ihrem Erkenntniswert her sicher jeden faszinieren, der sich mit der Frage aller Fragen beschäftigt: „Was ist der Mensch?“ Jedenfalls zeigt sich – das haben Sie ja schon gesagt, Kollege Noll –, dass es bei den Individuen, zum Beispiel zwischen den menschlichen Rassen, keine relevanten genetischen Unterschiede gibt. Das heißt, das, was wir schon immer wussten, dass der Rassismus eine menschenfeindliche Ideologie ist, ist jetzt noch einmal mit großer naturwissenschaftlicher Genauigkeit bestätigt worden.

Wir wissen jetzt auch genauer, dass wir mit anderen Lebewesen wie mit den Schimpansen genetisch zu über 98 % verwandt sind.

(Abg. Brechtken SPD: Das merkt man manchmal!)

Wir wissen neu – das hat sicher viele von uns überrascht –, dass selbst Bakterien ihre Spuren in unserem Erbgut hinterlassen haben. Die Frage „Wo kommen wir her?“, die dieser Erkenntnisgewinn bringt, kann also sicher auch vieles zu der Frage beitragen: „Wer sind wir?“

Wir dürfen uns also über das Erkenntnisvermögen freuen, das der Mensch besitzt. Die große Verwandtschaft mit den anderen Lebewesen soll uns aber auch bescheiden machen, uns zeigen, dass wir nicht Herrscher oder wenigstens nicht nur Herrscher über die Natur sind, sondern auch Hüter alles Lebendigen sein sollen.

(Abg. Kleinmann FDP/DVP: Wahrer!)

Schließlich zeigen die Ergebnisse, finde ich, ganz deutlich, dass die Vielschichtigkeit der menschlichen Existenz, das Verhalten des Menschen, seine Handlungen, sein Lernen und sein Erinnern, wirklich sehr viel mehr ist als das, was in unseren Genen festgelegt ist. Ich finde, über den Erkenntnisgewinn dürfen wir uns sicher freuen. Ansonsten ist Skepsis angesagt.

(Abg. Dr. Noll FDP/DVP: Also, sind wir wieder einig!)

Denn mit der Erkenntnis wird auch die Verführung größer, in das menschliche Erbgut einzugreifen, zum Beispiel aufgrund schwerer Erbkrankheiten, mit denen der Mensch geschlagen ist. Das heißt, es droht die Gefahr von Grenzüberschreitungen. Bisher ist da noch ein Damm, der hält, der uns davon abhält, dass wir in die menschliche Keimbahn eingreifen, weil wir uns der allerältesten Grundsätze unse

rer Zivilisation erinnern. Der Mensch ist ein Ebenbild Gottes. Das heißt übersetzt: Erstens, er hat sich nicht selbst gemacht, und zweitens, in ihm gibt es etwas absolut Unverfügbares. Deswegen sagen wir Grünen seit eh und je: Der Mensch soll vom Innersten der Materie, also vom Atomkern, und vom Innersten des Lebendigen, vom Zellkern, jedenfalls aber vom Zellkern des Menschen, die Finger lassen. Ich glaube, das ist die fundamentale Grenze. Wenn wir diese Grenze überschreiten, werden Dinge kommen, die wir als ganze menschliche Gattung tief bereuen werden. Davon bin ich jedenfalls persönlich fest überzeugt.

Worin aber bestehen aktuelle Gefahren?

(Glocke des Präsidenten)

Herr Abg. Kretschmann, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abg. Dr. Noll? – Herr Dr. Noll, bitte.