Protocol of the Session on December 13, 2000

Was mir bei den bisherigen Beiträgen ein wenig zu kurz gekommen ist, ist die Frage der politischen Verantwortung und der politischen Führungsfunktion, die die Politik hat. Es ist, denke ich, zu einfach, wenn man sich zurückzieht und sagt, das sei eine Sache, die wir der Familie überlassen, oder das seien gesellschaftliche Entwicklungen, denen wir machtlos gegenüberstünden. Ich denke, wir haben es hier mit Entwicklungen zu tun, zum Beispiel im Bereich der Familie und deren fortschreitender Auflösung, die durchaus politisch initiiert und politisch betrieben sind, und die Folgen spüren wir natürlich auch in den Ergebnissen, die in diesen Einzelfeldern dann zutage treten. Lassen Sie mich auf einige Einzelaspekte eingehen.

Was mich an den Ergebnissen der Studie zunächst einmal fast entsetzt hat, ist doch die hohe Konzentration von chemischen Substanzen, von Hormonen und Medikamenten im Oberflächenwasser und die damit verbundene Tatsache, dass diese Substanzen auch in den Ernährungskreislauf hineinkommen und natürlich – auch das ist vorhin schon gesagt worden – gerade für Kinder, Säuglinge etc. doch eine erhebliche Gefahr bedeuten können. Wenn ich mir dann anschaue, wie in der Beantwortung der Anfrage das Verhalten der Landesregierung signalisiert wird, dass kein Grund zur Besorgnis besteht, sehe ich hier eine durchaus denkbare Parallele zur Haltung der Landesregierung noch vor wenigen Wochen und Monaten zu BSE. Auch hier geht es um bedrohliche Elemente, die in die Nahrungskette hineinkommen. Hier einfach zurückhaltend zu reagieren, sage ich einmal ganz vorsichtig, ist möglicherweise zu we

nig. Hier muss in der Tat mehr getan werden, und es muss auch versucht werden, das Oberflächenwasser und damit einen wesentlichen Teil unserer Ernährungskette in einen vernünftigen und gesunden Zustand zurückzuversetzen.

Ernährungssituation und Verhaltensstörungen sind angesprochen worden, ebenso Bewegungsmangel. Zum Stichwort Bewegungsmangel ist eine ganze Menge an Initiativen und Maßnahmen in der Antwort der Landesregierung aufgeführt worden. Stichwort Schulsport, aber auch die vielfachen Initiativen der Vereine. Wir halten es für sehr notwendig, dass gerade die sportlichen Aktivitäten innerhalb von Vereinen – da gibt es eine ungeheure Bandbreite – noch mehr als schon jetzt in den Vordergrund gestellt werden. Die Vereine schaffen Sozialisation. Sie schaffen soziale Integration, und sie sorgen, natürlich ganz besonders Sportvereine, auch für Maßnahmen gegen den Bewegungsmangel. Das ist eine politische Führungsaufgabe. Auch hier kann man nicht sagen: Wir überlassen es den Landessportverbänden oder den einzelnen Vereinen. Hier muss, wie wir meinen, noch verstärkt politisch eingewirkt werden. Außerdem müssen die Rahmenbedingungen geschaffen werden. Wir haben hier schon unter vielerlei Aspekten diskutiert, unter welchen Problemen die Vereine leiden und dass hier mehr möglich gemacht werden muss und auch mehr Initiativen ergriffen werden müssen.

Schulsport ist ein wichtiger Aspekt. Auch nach unserem Dafürhalten ist der Schulsport, so wie er derzeit in BadenWürttemberg betrieben wird, sicherlich im Vergleich mit anderen Bundesländern eine vorbildliche Angelegenheit; aber er ist immer noch im Gesamtzusammenhang des gesamten Lehrangebots unterrepräsentiert. Auch hier hätte die Landesregierung eine gute Möglichkeit, dafür zu sorgen, dass Bewegungsmangeleffekten in der jungen Bevölkerung entgegengewirkt wird.

(Beifall bei den Republikanern)

Am Schluss noch einen Aspekt: Was sehr bedenklich und was symptomatisch ist, ist das, was in der Beantwortung angesprochen wird, nämlich dass das Ernährungsbewusstsein, das Informiertsein über Risiken, über Möglichkeiten, sich gesund zu ernähren, aber auch die Symptome im Bereich Bewegungsmangel, Verhaltensstörung, Ernährungssituation stark sozial abgeschichtet sind. Hier haben wir ein Defizit in der Sozialpolitik, das nicht nur in Baden-Württemberg, sondern in ganz Deutschland augenfällig ist. Wir haben eine wachsende soziale Abschichtung, und es gibt wenig überzeugende Maßnahmen, dem entgegenzuwirken. Wir fordern, verstärkt auf die Förderung und die Unterstützung der Familie, und zwar gesunder Familien, hinzuwirken und nicht so sehr den Auflösungserscheinungen – wir haben erst in der vorletzten Plenarsitzung über eine ganz aktuelle Auflösungserscheinung der klassischen Familie beraten – Aufmerksamkeit zu schenken. Wir fordern, der Familie als Träger der Volksgesundheit, wenn ich diesen altmodischen Begriff einmal verwenden darf,

(Zuruf der Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen)

mehr Unterstützung zukommen zu lassen.

Es gäbe viel zu sagen. Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen kommt ja noch in den Ausschuss. Da werden wir sicherlich noch eine Reihe weiterer Aspekte anführen können.

Vielen Dank.

(Beifall bei den Republikanern)

Das Wort erhält Herr Minister Dr. Repnik.

Herr Präsident, meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich freue mich, dass sich der Landtag in der letzten Zeit so intensiv mit der Situation von Jugendlichen in unserem Land beschäftigt. Erst in der letzten Plenarsitzung haben wir den Landesjugendbericht und die Umsetzung der Empfehlungen der Jugendenquetekommission besprochen. Heute diskutieren wir über die Große Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema Umwelt, Lebensstile und Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen. Dies ist eine Große Anfrage, zu der ich sagen muss – Sie haben ja die Beantwortung ziemlich gelobt –: Auch die Fragen waren in fachlicher Hinsicht hervorragend gestellt, Frau Bender.

Wir haben schon viel zu der Großen Anfrage gehört und wollen noch kurz darüber sprechen. Vielleicht noch ein paar Punkte aus meiner Sicht.

Die Schadstoffbelastung in Baden-Württemberg entspricht der Situation in anderen Bundesländern. Die Situation ist sogar noch etwas besser. Es sind zwar in geringen Mengen Arzneimittelrückstände in Abwässern nachweisbar – das werden wir weiterhin sorgfältig beobachten müssen –, aber Quantität und biologische Wirksamkeit sind andere Punkte. Wir werden an diesem Thema mit Sicherheit dranbleiben müssen. Konkrete Auswirkungen auf die Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sind aber bisher in keiner Weise bekannt. Mir ist aber auch wichtig, in diesem Zusammenhang zu sagen, dass es Gott sei Dank keine Zunahme von Allergien und Atemwegserkrankungen bei uns im Land gibt. Es ist im Gegenteil sogar ein leichter Rückgang zu verzeichnen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir wissen, dass unsere Kinder durch Gesundheitsschäden gefährdet sind, die insbesondere durch zu wenig Bewegung und durch falsche Ernährung entstehen. Was tun wir dagegen, und was können wir dagegen tun? Es ist manchmal schon eigenartig, dass man sagt: Die Politik soll es richten. Die Politik kann Rahmenbedingungen setzen, aber alles richten können wir halt nicht. Wenn sich einer weigert, in den Sportunterricht zu gehen und bei körperlicher Bewegung mitzumachen, sondern lieber vor der Glotze hockt,

(Abg. Bebber SPD: Der Sportunterricht fällt ja so schon aus! – Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen: Der Sportunterricht muss erst einmal statt- finden!)

dann kann ich als Sozialminister ihn auch nicht zum Sportunterricht zwingen. Wenn jemand halt im Übermaß Cola trinkt und Chips isst oder sich nur von McDonalds und

Hamburgern ernährt – übrigens: ich mag sie auch zwischendurch – –

(Heiterkeit des Abg. Rech CDU)

Wissen Sie, was so schön ist: Der Heribert Rech wird von Stunde zu Stunde jünger. Heute Morgen sah er ganz alt aus, aber jetzt sieht er ganz frisch aus.

(Zurufe von der SPD: Jesses! – Abg. Dr. Walter Müller SPD: Das kommt aber ins Protokoll! – Abg. Deuschle REP: So! Der war bei der Weih- nachtsfeier! – Weitere Zurufe und Heiterkeit)

Wir hatten eine schöne Weihnachtsfeier gestern Abend. – Ich kann natürlich Cola und Chips nicht verbieten und will es auch nicht. Das heißt: Wir müssen in der Tat an dem Thema arbeiten. Es gibt erfolgreiche Ansätze über Spaß an Sport und Spiel und über Freude an der Bewegung schon im Kindergarten und auch in der Schule. Es gibt viele Aktivitäten: Schulsport, Schulsport gemeinsam mit Vereinen; auch Kindergärten kooperieren schon mit Vereinen. Krankenkassen und Gesundheitsämter machen in diesem Bereich viel. Aber natürlich muss ich die Information auch annehmen und bereit sein, mich darauf einzulassen.

Das Gleiche gilt für eine richtige und gezielte Ernährung. Man sollte das Elternhaus wirklich nicht vergessen. Es ist einfach zu platt und zu einfach, nur zu sagen: „Wir machen eine vorschulische Erziehung.“ Herr Müller hat selbst gesagt, in den ersten vier Jahren finde die Erfahrung über die richtige Ernährung statt. Aber wollen Sie wirklich alle Kinder in den ersten vier Jahren in eine vorschulische Erziehung von morgens acht bis abends sieben Uhr stecken

(Unruhe)

und das Elternhaus entlasten? Die Familien müssen wir natürlich stärken!

(Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen: Da- für muss man aber auch etwas tun!)

Liebe Frau Bender, man tut doch da viel. Man stärkt die Familien. Verbraucherberatung, Ernährungszentren, Gesundheitsämter, Schulen, Kindergärten sind bereit, über die richtige Ernährung zu informieren.

(Abg. Rech CDU: Vor allem über ein gutes Früh- stück!)

Aber ich habe manchmal das Gefühl, dass es bei manchen Familien so ist wie beim Pfarrer in der Kirche: Er predigt halt vor den Leuten, die anwesend sind, meint aber die anderen, die nicht zuhören. So ist es halt manchmal.

(Beifall bei der CDU – Abg. Birgitt Bender Bünd- nis 90/Die Grünen: Aber die Politik kann es sich nicht leisten, welche vor der Tür zu lassen! – Abg. Rech CDU: Am wichtigsten ist ein gutes Früh- stück, Herr Minister!)

Frau Bender, ich nehme diese Aufgabe sehr ernst. Sie wissen, dass das für mich wirklich eine Herzensangelegenheit ist. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass wir trotz aller Anstrengungen, die wir unternehmen – und mehr

(Minister Dr. Repnik)

tun, als Angebote zu machen, können wir halt nicht –, in der Tat die Menschen nicht dazu zwingen können, von den Angeboten auch Gebrauch zu machen. Trotzdem müssen wir Kindergärten, Schulen und die vorschulische Erziehung verstärken und in diesem Bereich Schwerpunkte setzen. Dies tun wir ja auch schon in hohem Maße.

Im Übrigen bin ich froh, dass über 90 % der Vorsorge- und Einschulungsuntersuchungen für Kinder wahrgenommen werden. 90 % der Eltern nehmen die Möglichkeit dieser Untersuchungen für ihre Kinder wahr. Dadurch können Entwicklungsstörungen und auch Krankheiten frühzeitig erkannt werden. Darüber hinaus brauchen wir natürlich auch wichtige Daten von den Krankenkassen für Zwecke der Gesundheitsberichterstattung. An diesem Thema werden wir weiter dranbleiben.

Aber, Frau Bender, eine Frage beschäftigt mich, die ich auch noch ansprechen muss: Natürlich gibt es Untersuchungen einer Krankenkasse, die meint, es würden zu viele Psychopharmaka – sie nennen permanent das Medikament Ritalin – verordnet. Ich sage Ihnen etwas aus meiner Erfahrung. Ich war ja bis 11. November 1998 aktiver Apotheker. Ritalin ist ein Betäubungsmittel.

(Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen: Eben!)

Es wird ganz, ganz selten verordnet. Ich hatte in Rottenburg eine große Apotheke gehabt – und das streut ja –, und ich habe innerhalb von zehn Jahren gerade zweimal Ritalin gebraucht.

(Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen: Aber man weiß nicht, wie sich das inzwischen ver- ändert hat!)

Man sollte dieses Thema in der Tat da belassen, wo es hingehört. Die Situation hat sich in den letzten zwei Jahren nicht gravierend verändert. Zumindest gibt es dazu keine neuen Daten. Deswegen sollte man bei solchen Themen sehr zurückhaltend sein. Ich weiß, dass Ärzte und gerade Kinderärzte gerade mit Ritalin – übrigens auch mit Psychopharmaka – sehr zurückhaltend umgehen.

Wir haben ein anderes Problem: Viele Eltern, die bereit sind, schnell zu Tabletten zu greifen, reichen ihren Kindern sofort bei jedem kleinsten Wehwehchen auch Tabletten.

(Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen: So ist es!)

Das ist für mich ein größeres Problem, nicht etwa Ärzte, die verordnen würden, sondern Eltern, die über freie Medikation Kindern schnell Vitaminsaft, Hustensaft oder Kopfschmerztabletten geben. Es ist auch Aufgabe der Apothekerschaft – die dies auch tut –, sehr intensiv zu beraten: „Passt da ein bisschen auf!“

(Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen: Ob die Apotheker die Richtigen sind, weiß ich nicht!)

Die Apotheker, Frau Bender, sind die Arzneimittelfachleute und mit Sicherheit die Richtigen für eine Beratung. Die Apotheker in diesem Land raten auch immer sehr intensiv dazu – entgegen den Unkenrufen, Frau Bender, Ihrer

Ministerin in Berlin –, mit pflanzlichen Arzneimitteln zu arbeiten und nicht immer gleich zur chemischen Keule zu greifen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, Grund zur Sorge – Frau Bender hat es sogar wörtlich angesprochen – bereiten uns die psycho- und soziosomatischen Störungen.

(Abg. Birgitt Bender Bündnis 90/Die Grünen un- terhält sich mit Abg. Dr. Noll FDP/DVP.)

Frau Bender, soziosomatischen Störungen; das ist schon richtig.

Wir müssen schon darauf achten, wie wir es schaffen, dass Körper, Psyche und Umwelt im Gleichgewicht bleiben. Wir müssen auch darauf achten – das ist doch hochinteressant –, dass vor allem Kinder aus sozial schwachen Familien gefährdet sind – übrigens auch sehr viele Kinder aus Familien mit Alleinerziehenden. Das hat also nicht nur etwas mit Geld zu tun, sondern auch mit dem Familienverbund.