Protocol of the Session on November 19, 2020

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Hamburg, der 29. Februar 2004: In einem Volksentscheid stimmten circa 77 Prozent der Abstimmenden gegen die Privatisierung der landeseigenen Krankenhäuser. Was hat die Hamburger CDU-Alleinregierung unter dem damaligen Ersten Bürgermeister Ole von Beust getan? – Sie verkaufte 75 Prozent der Krankenhäuser an einen privaten Krankenhauskonzern und hebelte den Volksentscheid damit komplett aus. Was folgte, war ein großer Proteststurm, der letztlich zu einer Verfassungsänderung führte, mit der erfolgreiche Volksentscheide nicht mehr so leicht ausgehebelt werden können.

Ich glaube nicht, dass dieses Beispiel jetzt hinter dem Vorstoß der CDU steht; es gibt wahrscheinlich eher an

dere Motive. Das ändert aber nichts daran, dass der Vorstoß der CDU-Fraktion in die richtige Richtung geht. Auch wir wollen einen stärkeren Schutz von Volksentscheiden, und wir sind offen für ernsthafte Verhandlungen über eine entsprechende Verfassungsänderung. Die Linke hat übrigens, wenn sie mitregiert, immer Erweiterungen der direkten Demokratie vorangetrieben, zuletzt übrigens – noch gar nicht so lange her – bei der Reform des Abstimmungsgesetzes.

Jetzt muss ich aber doch noch ein bisschen Wasser in den Wein dieses Antrages gießen. – Übrigens finde ich es ausgesprochen irritierend, dass Herr Evers jetzt gar nicht mehr im Raum ist – ich sehe ihn zumindest nicht –, der hier den Antrag eingebracht hat.

[Heiko Melzer (CDU): Der wird sich das Video ansehen!]

Finde ich ein bisschen komisch, aber wollte ich mal bei der Gelegenheit gesagt haben. – Jedenfalls muss ich etwas Wasser in den Wein gießen, weil dieser konkrete Vorschlag, den Sie vorgelegt haben, aus unserer Sicht ungeeignet ist, und er wird in der Form nicht die Zustimmung meiner Fraktion finden.

Sie haben erstens, und das ist das größte Problem, das Instrument der Volksbefragung gewählt. Das heißt, und das muss man sich mal überlegen, Sie wollen sich auf den Weg machen, dass 107 Kolleginnen und Kollegen die Verfassung von Berlin ändern, um – ausweislich Ihrer Begründung – die direkte Demokratie zu stärken. Und was bekommen die Bürger dann? – Eine unverbindliche, eine empfehlende Volksbefragung, über die sich das Parlament wiederum hinwegsetzen kann.

[Beifall von Dr. Susanna Kahlefeld (GRÜNE) – und Martin Trefzer (AfD)]

Das ist wirklich ein Zirkelschluss, völlig unlogisch. Das werden wir definitiv nicht mitmachen. Wenn wir die Verfassung ändern, dann nur für ein verbindliches Referendum.

[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN]

Zweitens – das ist schon angesprochen worden, deswegen kann ich mich kurz fassen – ist die Durchführung einer Volksbefragung nur fakultativ vorgesehen und steht im Ermessen des Abgeordnetenhauses. Das ist gänzlich unsinnig. Hier wird das Parlament in einen wirklich unsinnigen Zielkonflikt hineingetrieben.

[Beifall von Martin Trefzer (AfD)]

Es ist auch nicht richtig, dass man hier möglicherweise mit den Meinungsumfragen spielen und gucken kann: Kriegen wir eine Mehrheit für den Volksentscheid oder nicht? – Das macht auch keinen Sinn.

Drittens – das ist noch nicht angesprochen worden –: Sie wollen das überhaupt erst anwenden, wenn der sogenann

te Kerngehalt von Volksentscheiden geändert werden soll. Was ist der Kerngehalt eines Volksentscheides? – Ich weiß es nicht. Das steht auch in der Begründung nicht drin. Das wird zu diversen Abgrenzungsproblemen und unnötigen Streitigkeiten vor dem Verfassungsgericht führen.

[Beifall von Sebastian Schlüsselburg (LINKE)]

Davor kann ich nur warnen.

Und dann ist die Frage: Was wollt ihr denn? – Tja, das ist ganz einfach. Ich habe mit Hamburg angefangen, und ich schließlich auch mit Hamburg: Es gibt das Hamburger Modell – das damals übrigens mit Zustimmung der CDU, der SPD, der Grünen und, ich glaube, auch Der Linken beschlossen worden ist –, das schlicht vorsieht, dass es die Bürgerinnen und Bürger selbst in der Hand haben, ob es bei parlamentarischen Änderungen von Volksentscheiden zu einem verbindlichen Referendum kommt, und zwar indem Unterschriften gesammelt werden. Das vermeidet übrigens auch – entgegen dem Vorschlag der AfD, die wirklich jede kleine Änderung einer Volksbefragung unterstellen will – eine zu starke Einschränkung des parlamentarischen Gesetzgebers. Wenn wir auf der Grundlage verhandeln wollen, können wir das gerne machen. Ich hoffe, wir finden eine Lösung und können die Verfassung von Berlin, Herr Schneider, schön weiterentwickeln. – Vielen Dank!

[Beifall bei der LINKEN – Torsten Schneider (SPD): Ihr kennt ja den Preis! Der Preis ist heiß! – Steffen Zillich (LINKE): Das ist demokratischer Diskurs!– Zuruf von Torsten Schneider (SPD)]

Vielen Dank! – Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Schlömer das Wort.

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Immer mehr Städte haben im 21. Jahrhundert erkannt, dass eine verbesserte, eine konsequentere, aber vor allen Dingen auch eine digitale Beteiligung ihrer Einwohnerinnen und Einwohner bei der Entscheidungsfindung vielerlei Vorteile bietet. Maßnahmen, die Politik und Verwaltung zur Lösung öffentlicher Probleme ergreifen wollen oder die einmal durch einen Volksentscheid zustande gekommen sind, sind wirksamer, wenn die aktive Bürgerschaft diese erneut mitverantworten darf, wenn die Menschen wieder gefragt und beteiligt werden. Die politischen Entscheidungen erhalten dadurch eine viel bessere Legitimation. Das ist der Weg, den wir beschreiten wollen mit dem Volksentscheid zur Randbebauung im Tempelhofer Feld.

(Dr. Michael Efler)

Wir haben keine Sorge bei zivilgesellschaftlicher Mitverantwortung, keine Angst vor couragierten Bürgerinnen und Bürgern, die sich auf Basis gemeinsamer Werte im Sinne von Verantwortung, Freiheit und Selbstbestimmung einsetzen. Wir finden kollektive Intelligenz erst einmal gut.

[Beifall bei der FDP]

Sie ist auch gelebter Ausdruck intelligenter Städte. Beteiligung ist Ausdruck intelligenter Städte. Die im Land Berlin schon vorhandenen Instrumente des Volksbegehrens, von Bürger- und Volksentscheiden sind daher zu erweitern und in das Spektrum politischer Betätigung besser einzugliedern. Sie helfen, Engagement der und Engagement für die Gemeinschaft zu erweitern. Sie helfen, Demokratie erlebbar zu machen und insgesamt zu stärken.

[Beifall bei der FDP]

Diesen Instrumenten sollte unser Augenmerk gelten. Sie sind immerfort zu verbessern – das hat Dr. Efler gerade schon vorgeschlagen. Auch das Petitionswesen ist im Übrigen weiter zu verbessern und fortzuentwickeln. Das alles sollte unser gemeinsames Ziel sein. Auch die Beteiligung auf lokaler Ebene spielt beispielsweise in SmartCity-Strategien oder in intelligenten Städten eine immer größere Rolle und ist ein Megatrend. Auch hier sollen, müssen und können wir wesentlich mehr tun.

Aber kommen wir zum Eigentlichen, kommen wir zum Antrag der CDU, den wir hier in erster Lesung beraten wollen. Wir lehnen den Antrag der Fraktion der CDU derzeit ab. Zu den Gründen ist schon viel ausgeführt worden, und letztendlich doppeln sich die Argumente ein wenig. Das Beispiel Hamburg ist eines, das ich auch gerne im Repertoire habe; darauf brauche ich nicht mehr einzugehen. Die von der Fraktion der CDU vorgeschlagene Volksbefragung ist, wie im herkömmlichen Sinne üblich und demokratietheoretisch auch geboten, kein verbindliches Instrument für die Umsetzung einer Mehrheitsmeinung. Die Ergebnisse sollen rein empfehlenden Charakter haben. Sie möchten es als konsultatives Referendum etablieren. Wenn die Volksbefragung nur empfehlenden Charakter hat, führt sie nicht automatisch zu einer demokratischen Konsolidierung von Ergebnissen. Nein, sie kann sogar das Vertrauen in die parlamentarische Demokratie nachhaltig schwächen.

[Paul Fresdorf (FDP): Das wollen wir nicht! Wie bei Tegel!]

Tegel – meine Kollegen aus der Fraktion sagen es – ist ein gutes Beispiel dafür, was geschieht und welcher Vertrauensverlust entsteht, wenn Volksentscheide nicht umgesetzt werden. Genauso das Beispiel Hamburg, wo drei Viertel der befragten Bürgerinnen und Bürger erleben mussten, wie der Verkauf der Hamburger Krankenhäuser trotz anderer Mehrheitsmeinung in der Bürgerschaft umgesetzt wurde.

[Beifall bei der FDP]

Gerade dann, wenn ein Volksentscheid aufgehoben wird und auch die Volksbefragung folgenlos bleibt, ist das Vertrauen nachhaltig geschädigt.

Ein zweiter Punkt, der auch schon ausgeführt wurde: Volksbefragungen in Fragestellungen, die dem Senat oder der Parlamentsmehrheit unliebsam sind, werden nach Ihrer Initiative gar nicht auf den Weg gebracht; die parlamentarische Mehrheit im Abgeordnetenhaus weiß es immer zu verhindern. Und umgekehrt kann die Mehrheit des Parlamentes sehr eigennützig konkrete Fragestellungen im eigenen Interesse auf den Weg bringen, zulasten anderer, gegebenenfalls besserer und guter Perspektiven.

Kurzum: Lassen wir die Finger von der Volksbefragung! Investieren wir unsere Gedanken und Ideen in zukunftsträchtige Formen von Partizipation und Teilhabe und legen das Instrument der Volksbefragung zu den Akten! – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP]

Vielen Dank! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat die Kollegin Dr. Kahlefeld jetzt das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Dass wir der von der CDU vorgelegten Verfassungsänderung nicht zustimmen können, ist, denke ich, klar geworden aus dem, was schon die Vorredner gesagt haben. Einige Gründe, die auch für uns gelten, hat der Kollege Efler schon dargelegt.

Der Antrag ist für uns so nicht zustimmungsfähig. Er bedeutet nämlich keinen Fortschritt für die direkte Demokratie. Er macht stattdessen deutlich, wie die Berliner CDU zur direkten Demokratie steht. Sehen wir uns die Begründung an – ich zitiere mit Erlaubnis der Präsidentin einen Satz –:

Das Ziel dieser Verfassungsänderung ist eine Stärkung der direkten Demokratie dahingehend, dass der Legislative die Möglichkeit gegeben wird …

Man stärkt die direkte Demokratie nicht dadurch, dass man der Legislative Möglichkeiten gibt.

Das Abgeordnetenhaus soll entscheiden können, ob es eine Befragung gibt, und das mit einfacher Mehrheit. Das Vertrauen der CDU in das Ergebnis der Befragung ist dann aber derart begrenzt, dass das Ergebnis nur empfehlenden Charakter haben soll.

Wozu also das ganze Theater einer Verfassungsänderung? – Auch das steht in der Begründung. Es wird ganz

(Bernd Schlömer)

richtig festgestellt, dass Volksgesetze, also Gesetze, die durch einen Volksentscheid zustande gekommen sind, natürlich, wie jedes andere Gesetz auch, durch das Berliner Abgeordnetenhaus mit einfacher Mehrheit geändert werden können. Das hat die Koalition in der letzten Legislatur auch getan: Das Tempelhofer-Feld-Gesetz wurde von ihr geändert, um Container und eine 3 Millionen Euro teure Traglufthalle aufzustellen, die dann nie benutzt wurde.

Meine Fraktion hat das damals aus demokratietheoretischer Sicht kritisiert, denn es gibt eine enorme Asymmetrie zwischen dem Aufwand, den es erfordert, als Initiative ein Gesetz zu schreiben – hier im Haus lässt man sich das von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern machen –, die Stadtgesellschaft über die eigenen Anliegen dann zu informieren, sie davon zu überzeugen, dass der eigene Gesetzentwurf gut ist, die Unterschriften zu sammeln, den Kampf mit den Verwaltungen zu führen, Geld für die Kampagne aufzutreiben usw. Diese enorme Asymmetrie, die natürlich nur bei einem echten Volksbegehren vorhanden ist, und nicht bei den Kampagnen ehemaliger Politiker und Oppositionsparteien, verlangt von der Legislative Respekt vor dem Ergebnis eines Volksbegehrens – den Respekt nicht nur vor der Willensäußerung, die ein Volksbegehren ausdrückt, sondern vor allem auch vor der ernsthaften argumentativen Arbeit, die nötig ist, um es zu einem Erfolg zu führen.

Dieser Respekt fehlt in diesem Antrag. Es sollen einfach nur gesellschaftliche Verwerfungen vermieden werden, das heißt: politischer Ärger. Das Ergebnis der Volksbefragung, das die Legislative mit einer Mehrheit initiieren kann, soll dann konsequenterweise nur empfehlend sein. Wenn wir in Berlin wirklich für die Ergebnisse direkter Demokratie einen gewissen Schutz einführen wollten, sollten wir eine Regelung schaffen, wie sie in Hamburg besteht. Dazu wurde schon einiges gesagt. In Hamburg geht die Initiative von den Bürgerinnen und Bürgern aus; diese werden aktiv, wenn sie das durch eine Initiative zustande gekommene Gesetz unverändert lassen wollen, oder Zweifel an der Änderung durch das Parlament haben.

Der demokratiebelebende Vorteil echter Volksbegehren liegt in der Notwendigkeit zu kommunizieren und zu argumentieren. Eine Initiative hat nicht von sich aus schon Aufmerksamkeit und Unterstützung. Die argumentative Arbeit, die sie aufwenden muss, um beides zu erlangen, unterscheidet sie von der hier vorgeschlagenen Placebo-Einbeziehung, die darin besteht, bequem, mit einfacher Mehrheit einen Beschluss zu fassen, aus öffentlichen Mitteln Abstimmungszettel zu drucken, zu einem beliebigen Termin über einen klug, im eigenen Interesse formulierten Vorschlag abstimmen zu lassen und am Ende das Ergebnis als Vorschlag zu behandeln.

Wir Grünen gehen in unserem Programm noch einen Schritt weiter als die Hamburger und fordern eine verfassungsmäßige Verankerung des Einspruchsreferendums.

[Lachen von Torsten Schneider (SPD)]

Ein Einspruchsreferendum würde bedeuten, dass Gesetze und Beschlüsse des Abgeordnetenhauses grundsätzlich durch ein Referendum vom Volk ausgehend aufgehoben werden könnten. In diesem Fall müsste dann abgewartet werden, bis das Ergebnis des Einspruchsreferendums vorliegt. Kommt das Referendum nicht zustande, kann das Gesetz in Kraft treten; kommt es aber zustande, muss innerhalb einer bestimmten Frist eine Referendumsabstimmung eingeführt werden. Mit diesem Verfahren könnten die Bürgerinnen und Bürger in das Gesetzgebungsverfahren wirklich aktiv eingreifen. Die Hürden und die Fristen müssten natürlich so gestaltet werden, dass dieser direktdemokratische Eingriff gut begründet und breit getragen sein muss.

Aber abgesehen von dem, was noch alles möglich und wünschenswert wäre, um die direkte Demokratie in Berlin weiterzuentwickeln: Die Koalition hat in dieser Legislaturperiode die direkte Demokratie wirklich gestärkt – durch Fristen, Kostentransparenz und Berechenbarkeit der Verfahren. Das alles sind gute, gemeinsame Fortschritte, die auf einem gemeinsamen Verständnis von Demokratie und Beteiligung beruhen. Von diesem Verständnis ist der Antrag der CDU leider weit entfernt.