Ich kenne die Werte und die Bedeutung unserer Grundrechte sehr gut, und ich schütze sie. Unsere Polizei schützt sie, unser Verfassungsschutz schützt sie.
Wenn Sie sich die politische Bandbreite der jährlich etwa 5 000 Demonstrationen in Berlin anschauen, wissen Sie, wovon ich spreche.
Zurück zum Wochenende: Auch die Einschätzung der Sicherheitsbehörden, dass Rechtsextremisten und Reichsbürger die Coronademos in Berlin als Bühne missbrauchen werden, hat sich leider bewahrheitet.
Die Bilder vor der russischen Botschaft und vor dem Deutschen Bundestag haben das deutlich gezeigt. Der Vorwurf, ich hätte Rechtsextremisten und Reichsbürger radikalisiert, ist Legendenbildung.
[Beifall bei der SPD, der LINKEN und den GRÜNEN – Frank-Christian Hansel (AfD): Normale Bürger haben Sie radikalisiert!]
Wenn Sie die Bilder gesehen haben, wissen Sie: Die brauchen mich nicht zum Radikalisieren, die sind schon radikal genug; Sie haben ja Herrn Pazderski gehört.
Es ist aber meine Aufgabe als Innensenator, auf radikalisierte Minderheiten hinzuweisen. Soll ich extremistische Gefahren verschweigen aus Angst, ich könnte die Extremisten verärgern, oder weil es die Neutralität des Amtes verletzt?
Dass wir im Vorfeld des Wochenendes mit unserer Einschätzung richtig gelegen haben, erfüllt mich nicht mit Genugtuung – ganz im Gegenteil! Ich bin eher besorgt über die Zuspitzung, die wir zurzeit bundesweit beobachten. Wir erleben eine weitere Verrohung des öffentlichen Diskurses. Andere Meinungen werden nicht mehr angehört, Politiker werden angepöbelt, bespuckt, beschimpft.
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hat kürzlich gezielt das Gespräch mit Coronakritikern gesucht. Er wollte mit Menschen diskutieren, seine Politik erklären. Was passiert? Er wird niedergebrüllt, ausgepfiffen, homophob beleidigt.
[Frank-Christian Hansel (AfD): Das ist im Westen genau wie im Osten! Das fängt jetzt an, Herr Geisel! – Zuruf von Georg Pazderski (AfD)]
Bei allem Verständnis für die Auswirkungen der Coronamaßnahmen und der Härten, die dadurch für viele Menschen entstanden sind –
die Bundeskanzlerin hat ja zu Recht gesagt, dass Corona eine demokratische Zumutung für uns ist –, so dürfen wir in einer zivilisierten Gesellschaft nicht miteinander umgehen. Öffentlicher Diskurs kann nicht bedeuten, dass nur diejenigen gehört werden, die am lautesten schreien oder die die beste Lobbyarbeit machen
oder die das zackigste Statement zur Hand haben, egal ob es der Wahrheit entspricht oder eine bewusste Falschmeldung ist. Wir dürfen uns nicht wegducken vor den Lautschreiern und die Meinungsfreiheit nur für sie gelten lassen. Meinungsfreiheit gilt für alle.
[Beifall bei der SPD und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN – Georg Pazderski (AfD): Nicht nur für die Mehrheit!]
Wir müssen klar sagen, was richtig und was falsch ist. Politik hat die Aufgabe, Orientierung zu geben, und wir haben die Aufgabe, rote Linien aufzuzeigen.
Kritik an Coronamaßnahmen einer Regierung ist in unserer Demokratie berechtigt und selbstverständlich. Wir arbeiten mit Unsicherheiten, mit Zweifeln, mit sich ändernden medizinischen Erkenntnissen. Kritik ist normal. Sie darf aber nicht dazu führen, dass Verschwörungsfantasien Raum gegeben wird, an deren Ende antisemitische Ressentiments stehen – was auch in Berlin geschehen ist.
Digitalisierung, Globalisierung, Komplexität von politischen Entscheidungen – die Welt ist in den letzten Jahrzehnten nicht einfacher geworden. Das alles hat leider auch zum Verlust von Zwischentönen geführt, zur scheinbaren Unfähigkeit zur Differenzierung. Wir leben in Zeiten der Pandemie, es gibt eine unsichtbare Bedrohung durch das Coronavirus,
und es gibt zugleich eine Bedrohung durch ein Virus, das sich Populismus nennt. Der Impfstoff der Demokraten dagegen ist Haltung, und die Bestandteile dieser Haltung sind: Mut zur Wahrheit,
sagen, was ist, die Fähigkeit zum Widerspruch und die Gabe, Gräben zu überwinden. Diesen Impfstoff gibt es bereits. Er kostet manchmal Mut und Zivilcourage, aber vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte – gerade in der Weimarer Republik – sage ich, die Demokraten müssen für ihre Werte einstehen.
Wir müssen uns laut für unsere Demokratie starkmachen, und wir dürfen uns von der Lautstärke unserer Gegner nicht einschüchtern lassen. Lassen Sie mich zum Schluss noch eines sagen:
40 Reichsflaggen auf den Treppenstufen des Deutschen Bundestages sind ein beschämendes Bild, das habe ich bereits mehrfach gesagt.
Erst drei, dann viele Polizistinnen und Polizisten haben sich der Menge in den Weg gestellt und sie ganz schnell zurückgedrängt. Sie haben gezeigt, dass unser Rechtsstaat funktioniert, dass unsere Polizei die Symbole unserer Demokratie schützt. Das muss die Lehre vom Wochenende sein – mir ist es eine Lehre.