Protocol of the Session on June 22, 2017

[Zuruf von Benedikt Lux (GRÜNE)]

Herr Senator!

Lieber Herr Friederici! Ich hatte vor zwei Tagen die Gelegenheit, das Berliner Konzerthausorchester in die Elbphilharmonie zu begleiten. Dort hat man mit vielen Menschen zu tun, die in Hamburg leben, die als Kulturschaffende versuchen, Hamburg zu so einer Kulturstadt zu machen, wie es Berlin schon lange ist. Da blickt man mit großer Bewunderung nach Berlin. Da beneidet man uns um die kulturelle Vielfalt, auch um die wirtschaftliche Dynamik in unserer Stadt. Man beneidet uns auch darum, dass wir hier durchaus in der Lage sind, mit der Investitionsoffensive in den nächsten zehn Jahren ganz enorm viel in die Stadt zu stecken und damit auch etwas für die Infrastruktur zu tun.

Woher Sie es haben, dass hier ein schweres Erbe von zehn Jahren Rot-Grün aufzuarbeiten sei, das bleibt Ihr Geheimnis.

[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN]

Vielen Dank! – Weitere Nachfragen gibt es nicht.

Dann hat Herr Kerker die nächste Frage.

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Ich frage den Senat: Am 30. Mai 2017 berichteten mehrere Medien von einem Betrug im großen Stil im Pflegebereich. Dabei sollen 230 Pflegedienste nicht erbrachte Leistungen abgerechnet haben. Der Schaden beläuft sich nach ersten Schätzungen auf ungefähr 1 Milliarde Euro. Berlin ist maßgeblich davon betroffen. Welche Maßnahmen wird der Senat ergreifen, um so etwas zukünftig im Vorfeld zu verhindern? Und natürlich auch: Was wird getan, um hier möglichst schnell aufzuklären?

Frau Senatorin Kolat, bitte!

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Dieser Bericht ist nicht einfach vom Himmel gefallen, sondern ist durch das Engagement auch des Landes Berlin in Zusammenarbeit mit dem Bundeskriminalamt entstanden. Wenn Sie diesen Bericht genau gelesen haben, werden Sie sehen, dass Berlin als einziges Bundesland auch Input geleistet hat. Das heißt, das, was dort im Bericht öffentlich geworden ist, ist für das Land Berlin leider nicht neu. Das Thema Bekämpfung von Betrug in der Pflege hat sich Berlin schon seit vielen Jahren auf die Fahne geschrieben. Wir sind bundesweit Vorreiter bei der Bekämpfung von Betrug in der Pflege.

Deswegen bin ich froh, dass mit diesem Bericht das, was wir seit längerer Zeit beobachten, hier offenkundig geworden ist und auch klar geworden ist, dass nicht Berlin oder ein anderes Bundesland allein betroffen ist, sondern dass es sich hier ein bundesweites Netzwerk von kriminellen Strukturen handelt. Ja, die großen Köpfe dieser kriminellen Strukturen sind häufig in Berlin oder auch in NRW.

Dass die Zahl in Berlin besonders hoch ist, deute ich, auch wenn das zuerst einmal widersprüchlich klingt, als positiv, denn in Berlin spüren wir Missbrauch auf. Wir kooperieren sehr eng mit den Ermittlungsbehörden. Es gibt in Berlin – das ist auch ein Novum – eine Schwerpunktstaatsanwaltschaft, sodass sich Berlin das groß auf die Fahne geschrieben hat und wir deswegen auch vermehrt diese Fälle haben. Das heißt nicht, dass es diese Betrugsfälle in anderen Bundesländern nicht gibt. Das ist nun einmal so, wenn man sich hier die Bekämpfung auf die Fahne schreibt, spürt man die Fälle auch eher auf.

Was tut Berlin? – Berlin wird hier die Aktivitäten weiter fortführen und intensivieren. Wir hatten pro Bezirk zwei Beschäftigungspositionen zur Verfügung gestellt, die genau die Prüfungen im Rahmen der Möglichkeiten, die der Kostenträger gesetzlich hat, vornehmen. Diese Stellen waren befristet. Diese Stellen werden wir jetzt entfristen – mit Unterstützung des Herrn Finanzsenators. Wir haben tatsächlich gemerkt, dass stärkere Prüfungen auch zu Kosteneinsparungen führen können. Da spart das Land Berlin mit diesem zusätzlichen Personal Ausgaben im Bereich Hilfen zur Pflege. Die Entfristung dieser Beschäftigungspositionen ist eine gute Nachricht für die Bezirke, auch eine gute Nachricht für Berlin, dass wir hier diesen Kampf gegen Missbrauch konsequent fortführen.

Was ich ganz persönlich voranbringe, ist, dass ich mit den Kassen sehr intensiv darüber spreche, damit sie auch

(Oliver Friederici)

wie das Land Berlin ihre Aktivitäten verstärken. Das Land Berlin hat sich bei der letzten Reform des Pflegestärkungsgesetzes aktiv dafür eingesetzt, dass mehr Prüfrechte eingeräumt werden. Für die Sozialhilfeträger – das sind wir als Land Berlin – ist die Bundesregierung unserer Empfehlung nicht gefolgt. Wir haben nicht mehr Prüfrechte bekommen, aber die Pflegekassen. Deswegen bin ich sehr enger Abstimmung mit den Pflegekassen, dass diese ihr erweitertes Prüfrecht auch aktiv nutzen und wir Hand in Hand noch mehr Betrugsfälle in Berlin aufklären können. Ich will aber an dieser Stelle auch sagen, auch wenn sich das Berlin auf die Fahne geschrieben hat und wir bei der Bekämpfung von Betrugsfällen sehr erfolgreich sind, gibt es auch sehr viele Pflegeeinrichtungen, die ordentlich arbeiten und tagtäglich gute Arbeit leisten für die vielen pflegebedürftigen Menschen in unserer Stadt.

Vielen Dank! – Eine Nachfrage von Herrn Kerker, bitte sehr!

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Vielen Dank, Frau Senatorin Kolat! Noch einmal die Nachfrage: Sie haben von der Entfristung der Verträge des Prüfpersonals gesprochen. Den Medien war zu entnehmen, es gibt insgesamt 24 Prüfer in Berlin, wenn das richtig ist, das heißt, zwei pro Bezirk. Sind dann irgendwelche Aufstockungen in Sicht? Es ist letztlich keine Personalaufstockung, wenn man erst einmal die Verträge auf unbestimmte Frist verlängert.

Frau Senatorin!

Wir haben erst einmal keine Meldungen, dass diese Kapazitäten nicht reichten. Sie arbeiten schon, sie leisten gute Arbeit. Wir sehen das schon an den Ausgaben, die dadurch reduziert werden. Ich sehe es aber auch nicht so, dass nur der Sozialhilfeträger hier in der Pflicht ist. Deswegen wäre es auch falsch, wenn wir diese Verstärkung allein fortführen. Meine Strategie ist eher, das, was wir tun, gut tun und verstetigen und natürlich auch verstärken, aber vor allem auch die Pflegekassen stärker in die Pflicht nehmen.

Vielen Dank!

Dann hat die Möglichkeit zur letzten Frage die Kollegin Burkert-Eulitz.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Ich frage den Berliner Senat: Was hat der Senat unternommen, um die Kinderschutzfälle in der Kita Gleimstraße aufzuarbeiten? Und welche Maßnahmen wurden gemeinsam mit dem Träger ergriffen, um in Zukunft insbesondere den Kinderschutz für die besonders kleinen Kinder zu gewährleisten?

Frau Senatorin Scheeres, bitte!

Sehr geehrte Präsidentin! Sehr geehrte Frau BurkertEulitz! Einführend möchte ich erst einmal sagen, dass ich sehr erschüttert war, als ich im Detail erfahren habe, was dort vor Ort in der Kita stattgefunden hat. Der Auftrag unserer Kindertageseinrichtungen ist klar und deutlich im Rahmen unseres Bildungsprogrammes beschrieben, dass Kinder liebevoll betreut werden sollen bzw. dass sie unbelastet dort aufwachsen und Bildung erfahren können. Es ist im Berliner Bildungsprogramm auch genau beschrieben, welche Sicht wir auf jedes individuelle Kind haben, dass wir jedes Kind als Persönlichkeit akzeptieren, respektieren und würdevoll behandeln. Deswegen war ich sehr entsetzt.

Vonseiten der Kitaufsicht ist direkt Kontakt aufgenommen worden. Wir begleiten diesen Prozess engmaschig. Auch beraten externe Partner die Einrichtungen und arbeiten diese Dinge auf. Es ist uns wichtig, dass der Dachverband des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes ausgewählt wurde, die Einrichtungen zu begleiten und entsprechende Maßnahmen zu entwickeln. Ich fand sehr problematisch: Die Kita hatte ein eigenes Kinderschutzkonzept, und trotzdem haben diese Dinge dort stattgefunden. Diese Frage muss auch geklärt werden. Woran lag es, dass man ein Kinderschutzkonzept hatte, das letztendlich nicht funktionierte, oder wie geht man mit Beschwerden von Eltern um?

Das sind Dinge, die gerade aufgearbeitet werden und wo bestimmte konkrete Punkte vereinbart wurden, die auch engmaschig kontrolliert werden. Regelmäßige Gespräche finden zwischen dem Träger und der Kitaaufsicht statt. Auch in den Leitungsstrukturen ist etwas verändert worden, damit es dort letztendlich andere Aufklärungs- oder Austauschstrukturen gibt. In diesem Zusammenhang ist also viel zu tun. Sie wissen, dass uns das Thema Kinderschutz sehr am Herzen liegt – also insgesamt, ob das jetzt das Thema Kinderschutz im Bereich von Familien oder aber auch in Einrichtungen angeht. Wir legen in unseren Einrichtungen der Jugendhilfe Wert auf Führungszeugnisse. Also ich war sehr betroffen, wir nehmen das Thema sehr ernst, und es wird aufgearbeitet.

[Beifall bei der SPD]

(Senatorin Dilek Kolat)

Weitere Nachfragen gibt es nicht. Damit ist die Fragestunde beendet.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 3:

Prioritäten

gemäß § 59 Abs. 2 der Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses von Berlin

lfd. Nr. 3.1:

Priorität der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen

Tagesordnungspunkt 39

a) Einsetzung eines Untersuchungsausschusses: „Der Anschlag vom 19.12.2016 am Breitscheidplatz. Vorgeschichte, Abläufe und Folgerungen für das Land Berlin“

Antrag der AfD-Fraktion Drucksache 18/0371

b) Einsetzung eines Untersuchungsausschusses zur Untersuchung des Ermittlungsvorgehens im Zusammenhang mit dem Terroranschlag am Breitscheidplatz am 19. Dezember 2016

Antrag der Fraktion der SPD, der Fraktion der CDU, der Fraktion Die Linke, der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und der Fraktion der FDP Drucksache 18/0392

In der Beratung beginnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Bitte, Kollege Lux!

Vielen Dank, Frau Präsidentin! – Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Beim Terroranschlag vom 19. Dezember 2016 auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz wurden zwölf Menschen ermordet und über 50 weitere Menschen teils schwer verletzt. Es war der schlimmste Anschlag in der Berliner Nachkriegsgeschichte. Die Öffentlichkeit, die Überlebenden, die Angehörigen der Verstorbenen erwarten die Aufklärung aller Umstände, die zu dem Terroranschlag führen konnten. Es wurde bereits vieles an Ermittlungen geleistet, doch längst nicht alles ist aufgeklärt. Deswegen haben sich fünf Fraktionen im Abgeordnetenhaus von Berlin darauf verständigt, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzurichten. Wir wollen gründlich und fair das aufklären, was wir als Land Berlin aufklären können.

Der Untersuchungsausschuss ist ein scharfes Schwert der Opposition, sagt man eigentlich. Ich möchte hier aber betonen, dass er auch ein scharfes Schwert des gesamten Parlaments ist. Auch die Regierungsfraktionen haben federführend diesen Untersuchungsauftrag hier einge

bracht. Der Untersuchungsausschuss kann Zeugen vernehmen und Informationen einfordern. Nach dem Gesetz ist jeder verpflichtet, den Aufforderungen des Untersuchungsausschusses zum Zweck der Beweiserhebung Folge zu leisten. Wenn jemand dem nicht Folge leistet, kann das sanktioniert werden. Aber wir sind kein Strafgericht. Wir bestrafen nicht, wir verfolgen keine Tat. Das können die Gerichte und die Strafverfolgungsbehörden besser. Wir müssen politisch aufklären, und wir reden ja auch nachher über die Vorschläge von Grünen, SPD und Linken zur besseren Terrorbekämpfung.

Aber ich will noch mal sagen: Ein Untersuchungsausschuss ist schon eine Angelegenheit, die sich nur in die Vergangenheit richtet, aber aufklären soll – und vor allem aufklären soll. Laut Johann Gottfried Herder soll Aufklärung nie Zweck, sondern immer Mittel sein – Mittel, um die Wahrheit herauszufinden oder der Wahrheit zumindest etwas mehr auf den Grund gehen zu können. Das geschieht auch, um die Lehren aus diesem schrecklichen Fall ziehen zu können. Wie können wir unsere Sicherheitsarchitektur verbessern? Welche Fehler müssen wir in Zukunft vermeiden? Wo hat die Organisation – Staat, Sicherheitsbehörden – versagt? Wo und warum haben Einzelpersonen Fehler gemacht? Sind diese vorwerfbar?

Schon heute gibt es etliche Hinweise darauf, dass der mutmaßliche Täter hätte abgeschoben werden können. Er war den Behörden bekannt, und in Berlin haben sich einige Fragen in die Haut aller Sicherheitspolitiker eingebrannt. Warum wurde der spätere Attentäter in Berlin im Herbst letzten Jahres nicht weiter beobachtet und nicht abgehört? Warum wurde er wegen des Verdachts etlicher Straftaten nicht festgenommen und nicht verurteilt? Hatte er ein Umfeld, das ihn unterstützte? Welche Rolle spielte er für die Informationsgewinnung der Berliner Sicherheitsbehörden? Spielte er eine solche Rolle? Haben die involvierten Bundes- und Landesbehörden effektiv zusammengearbeitet und Informationen richtig ausgetauscht – oder mal wieder nicht?

Genauso wichtig wie diese Fragen sind auch die Fragen nach der politischen und organisatorischen Verantwortung. Es ist immer allzu leicht – und wir unterliegen der Versuchung auch manchmal –, die Verantwortung bei jemand anderem zu suchen – häufig ganz unten in der Befehlskette. Deswegen sage ich ausdrücklich: Es geht auch um die Verantwortung der jeweiligen politischen Führung. Was hat sie gewusst, und was hat sie getan, damit die Behörden ihrer Arbeit nachgehen können? Es geht auch um eine nachgelagerte unabhängige Kontrolle. Wieso können nicht nach einem so schweren Anschlag einfach alle Fakten auf den Tisch, damit wir verstehen und auch verarbeiten können, wie sich der Anschlag ereignete? Fehler werden gemacht, aber sie dürfen nicht vertuscht werden.

Es ist zum Verzweifeln. Ausgerechnet beim Berliner Staatsschutz, der nach dem Skandal um einen V-Mann im Bereich des Nationalsozialistischen Untergrunds schon schwer unter Beschuss und in der Kritik war – auch zu Recht –, und wo wir hier mit allen Fraktionen, die damals im Parlament waren, eine umfangreiche Reform vereinbart haben! Warum waren diese Reformen nicht erfolgreich? Warum hat das nicht zu einer professionelleren Arbeit in diesem Fall geführt?

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN]