Man mag vielleicht denken, dass das Bild vom Haus Europa etwas abgedroschen erscheint. Dennoch überlegen wir, was wir von unserem eigenen Haus erwarten, was wir mit ihm assoziieren und was wir uns in unseren eigenen Häusern wünschen. Dann gibt es kaum ein besseres Bild. Das Haus steht für eine Einheit, für ein Zuhause, für ein Gefühl von Sicherheit, Wärme und Schutz, für das Miteinander seiner Bewohnerinnen und Bewohner, vielleicht auch für das Zucker-und-Eier-Ausborgen, für Hilfe und Unterstützung im Notfall, aber sicherlich auch für gemütliche und gemeinsame Partys und Gastgebersein, für Obdach und Lebendigkeit, für Generationen unter einem Dach. Aber ein Haus muss gebaut werden. Es muss gepflegt und unterhalten werden. Gemeinsam ist es dann, wenn in der Hausgemeinschaft Gegenseitigkeit, Gleichheit und Solidarität herrschen. Gefahr dagegen droht, wenn Probleme nicht gelöst werden, sondern sich verschärfen, wenn stattdessen das Gebäude in eine Wagenburg umfunktioniert wird. Ich kann nur sagen: Wenn ich die Töne vom Europa der Vaterländer höre, dann wünschte ich mir wieder mehr Europäerinnen und Europäer.
[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN – Zuruf von Georg Pazderski (AfD)]
60 Jahre Römische Verträge sind Anlass zurückzublicken, auch für Dankbarkeit gegenüber den Gründervätern der EG, die den Mut hatten, die nationalstaatlichen Beschränkungen zu überwinden, was damals ein radikal neuer Politikansatz war, getragen von den Erfahrungen des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Erinnern wir uns an das Manifest von Ventotene von 1941, bei dem der Antifaschist Altiero Spinelli gemeinsam mit anderen ein freies und einiges Europa gefordert hat!
Schuman, Gasperi, Spaak, Monnet – Herr Jupe hat die Namen vorhin genannt, auch sie gehören dazu. Wenn wir 60 Jahre Frieden und heute für die meisten Bürgerinnen und Bürger einen nach dem Krieg kaum für möglich gehaltenen Wohlstand sehen, dann zeigt sich, dass Dankbarkeit am 60. Jahrestag der Römischen Verträge tatsächlich angebracht ist.
Denn wie wenig selbstverständlich beides ist, zeigt ein Blick über die Außengrenzen in die Nachbarregionen der EU. Frieden und Wohlstand sind in einigen Regionen, die nur wenige Flugstunden von Berlin entfernt sind, nichts als ein Traum.
Jedoch ist Europa längst mehr als ein Wirtschafts- und mittlerweile Währungsraum. Europa muss heute mehr sein. Menschen wünschen sich in Europa eine Friedens-, Sozial- und Wertegemeinschaft. Es braucht ein soziales, politisches und demokratisches Europa. Wir haben als Kulturraum begonnen. Die EWG war ökonomisch grundgelegt, und bis heute herrscht das ökonomische Paradigma in der EU vor. Mitgliedsstaatliche Vorherrschaft und Machtdurchsetzung kennzeichnen den Politikverhandlungsprozess in der EU. Austeritätspolitik wurde genannt. Ich bin Frank Zimmermann dankbar, dass er noch mal die Korrespondenzen zwischen einem gemeinsamen Markt einerseits und nationalstaatlichen Wirtschaftspolitiken andererseits dargelegt hat. Der Wettbewerbsbezug des gemeinsamen Marktes einerseits und das Demokratiedefizit andererseits sorgen dafür, dass die Politik in der EU niemals besser sein kann als die Politik der einzelnen Mitgliedstaaten, denn die Mitgliedstaaten sind die Träger der Politik in der EU, und diese Politik ist so oft geprägt von nationalen Egoismen. Das gilt nicht zuletzt für Deutschland.
Lieber Herr Jupe! Ein gemeinsamer Markt macht nationalstaatliche Volkswirtschaften in gewisser Weise obsolet. Überschüsse und Schulden sind de facto vergemeinschaftet, ob wir das wahrhaben wollen oder nicht. Wer davor die Augen verschließt, wer die Fiktion hat, davon profitieren zu können, ohne die Folgen tragen zu wollen, der beteiligt sich daran, die EU zu zerstören.
[Beifall bei der LINKEN, der SPD und den GRÜNEN – Frank-Christian Hansel (AfD): Ihr macht sie kaputt!]
Wir sollten uns alle einig sein: Die Debatte über die Zukunft der EU ist von zentraler Bedeutung, denn die Krisen in der EU sind nicht überwunden. Die soziale Krise hat sich in vielen Mitgliedstaaten sogar verschärft.
Wenn Parallelinstanzen – nicht die europäischen –, die die starken Mitgliedstaaten der EU eingesetzt haben,
Griechenland Sozialabbau verordnen, statt eine europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik zu initiieren, so legen auch sie die Axt an die EU.
[Beifall bei der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN – Frank-Christian Hansel (AfD): Richtig!]
Auch die andauernde Flüchtlingskrise zeugt von Entsolidarisierung unter den Mitgliedstaaten. Die Terrorgefahr durch zurückkehrende Foreign Fighters oder in Europa radikalisierte Personen verlangt Lösungen mit Augenmaß, unter Wahrung der verfassungsmäßigen und Bürgerrechte. Die außenpolitische Sicherheitslage bleibt prekär. Die Zukunft des transatlantischen Verhältnisses ist angesichts der Trump-Administration ungeklärt. Der Ausgang der Brexit-Verhandlungen ist völlig offen. Ich glaube, die Mitgliedstaaten müssen sich entscheiden, welche EU sie für die Zukunft wünschen. Und sie sollten sich zügig entscheiden.
In den Mitgliedstaaten gibt es den Einflussgewinn von politischen Kräften, die eine Rückbesinnung auf ein völkisches Nationalverständnis fordern. Sie propagieren die Verheißung, die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts ließen sich durch Errichtung von Grenzen und Mauern oder Reetablierung ethnisch geschlossener Gesellschaften lösen.
Wissen Sie, Ihre Polemiken können Sie sich so lange klemmen, wie Frau von Storch noch jeden Monat brav die EU-Parlamentarierdiäten kassiert!
Herr Zimmermann hat darauf hingewiesen: Die Kommission hat ein Weißbuch mit fünf Szenarien vorgelegt und zu einer breiten Diskussion eingeladen. Die Debatte über die Zukunft der EU darf sich nicht auf Regierungsebenen beschränken. Wir brauchen eine breit angelegte Debatte unter Einschluss und aktiver Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in der EU,
der lokalen und regionalen Ebenen ebenso wie der Zivilgesellschaft. Wir brauchen vor allem eine engagierte Zivil- und Bürgergesellschaft, die ihre Stimme für ein vereintes und gemeinsames Europa erhebt. Nicht zuletzt muss diese Debatte parlamentarisch begleitet und unterstützt werden, durch das Europäische Parlament, aber auch durch die nationalstaatlichen und regionalen Parlamente.
Dass das Europathema mobilisieren kann, das sieht man auf den wöchentlichen Pulse-of-Europe-Kundgebungen. Es gehen mittlerweile jeden Sonntag in über 120 Städten
Tausende Menschen auf die Straße. Es gibt ja auch Leute, die meinen, das sei unpolitisch. Ich dagegen sehe darin ein Symbol für eine Bewegung für Europa. Ich bin und war froh, dabei zu sein, und ich bin und war froh, auch viele von Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen, auf diesen Demonstrationen zu sehen.
Es ist kein Zufall, dass Pulse of Europe in Berlin so stark ist. Berlin ist eine multinationale Metropole. Menschen kommen aus ganz Europa, aus der ganzen Welt hierher, um zu studieren, zu arbeiten, zu feiern, zu leben oder zu lieben.
Ihr Lebensmittelpunkt ist nicht nur Berlin, sondern ganz Europa, ihr Zuhause, ihr Haus. Ich wünschte mir, dass es noch viel mehr derartiger Initiativen gibt. Wir brauchen dieses Engagement in Deutschland und in der EU, um ein klares Zeichen gegen die rückwärtsgewandten, europafeindlichen Zeitgenossen und Parteien zu senden, um uns zu vergewissern, wo wir in Europa stehen, um uns in Erinnerung zu rufen, was wir in 60 Jahren europäischer Integration erreicht haben und um uns bewusst zu machen, was auf dem Spiel steht, wenn wir die europäische Integration aufgeben. Nur wenn man weiß, wo man herkommt, kann man den künftigen Kurs bestimmen. Das ist in der EU nicht anders als im richtigen Leben. Und wenn Sie mich persönlich fragen, ich wünschte mir, dass wir diskutieren, wie wir in 20 oder 25 Jahren Vereinigte Staaten von Europa als Ziel erreichen.
Dieses Szenario taucht im Weißbuch nicht auf. Ich finde, es gehört als ein sechstes Szenario zu der Debatte.
[Beifall bei der LINKEN und den GRÜNEN – Beifall von Raed Saleh (SPD) – Zuruf von Gunnar Lindemann (AfD)]
Wir haben als Berlinerinnen und Berliner allen Grund, uns über die Unterstützung der EU zu freuen. Nach der Wiedervereinigung hat Berlin in erheblichem Umfang die finanzielle Solidarität der EU erfahren. Noch heute erhält Berlin in der laufenden Förderperiode 2014 bis 2020 852 Millionen Euro aus den EU-Strukturfonds.
[Georg Pazderski (AfD): Aber das Geld bezahlen wir doch als Deutsche! – Anja Kofbinger (GRÜNE): Sie haben nichts kapiert, Herr Pazderski!]
Die Mittel werden eingesetzt, um mit EFRE Forschung und Innovation zu unterstützen, z. B. im Wissenschafts- und Technologiepark Adlershof, und um mit ESF Ausbildung und Integration zu fördern. Leider prangt nicht hinter jedem mit EU-Fördermitteln geschaffenen oder gesicherten Arbeitsplatz in Berlin der europäische Sternenkranz. Wir sollten uns aber bewusst sein, dass der
Die EU darf sich nicht aus Bereichen zurückziehen, in denen europäischer Mehrwert für Bürgerinnen und Bürger sichtbar und erfahrbar ist. Deswegen muss zum Beispiel die Regionalpolitik erhalten bleiben und im mehrjährigen Finanzrahmen angemessen ausgestattet werden. Wir werden in der kommenden Woche im Senat ein Eckpunktepapier beschließen und dann dem Abgeordnetenhaus übermitteln. Wir möchten Sie auch um die Unterstützung durch das Parlament für diese für Berlin so wichtige Thematik bitten. Deswegen ist in Berlin Europapolitik auch mehr als eine Politik der großen Gesten und Symbole. Wir müssen uns aktiv einmischen und uns an Prozessen und Diskussionen beteiligen.
Die Europäische Kommission hat für April bis Juni 1017 fünf Reflektionspapiere angekündigt, um die Debatte um die Zukunft der EU zu strukturieren. Es geht um die soziale Dimension, um Globalisierung als Chance, um die Zukunft der Wirtschafts- und Währungsunion, um die Zukunft der Verteidigung und um die Zukunft der EUFinanzen. Der Senat – das kann ich Ihnen versichern – wird diese Debatte aktiv begleiten und eigene Standpunkte einbringen, insbesondere zum Thema soziales Europa. Es ist notwendig, die gemeinsamen Werte der EU, besonders die Solidarität, die Freiheit, die Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte, aktiv zu stärken. Die Europäische Union braucht Solidarität im Inneren bei der Gestaltung gemeinsamer sozialer Standards, beim Umgang mit den Krisenfolgen in Griechenland und anderen EU-Staaten, und sie braucht die innere Solidarität bei der Verteilung und Integration von Geflüchteten.
Die Europäische Kommission will der EU eine stärkere soziale Dimension verleihen. Gemessen daran – da hat Herr Zimmermann recht – ist die kürzlich vorgeschlagene Säule der sozialen Rechte noch zu kurz gesprungen, obwohl sie viele wichtige und bedeutende Grundprinzipien und Rechte für einen fairen und gut funktionierenden Arbeitsmarkt, für ein Wohlfahrtssystem, für Aspekte zur Chancengleichheit und zum Arbeitsmarktzugang, für faire Arbeitsmarktbedingungen, für die soziale Inklusion und den sozialen Schutz umfasst. Aber sie dokumentiert bisher lediglich den vorhandenen sozialen Besitzstand, ohne neue legislative Maßnahmen zu ergreifen oder vorzuschlagen. Auch hier gilt: Europa muss wieder mehr als nur ein Symbol werden. Es muss real und lebenswert werden.
Wir müssen ein bisschen ehrlicher über Europa reden. Das ewige Spiel, die Erfolge gingen auf die Mitgliedsstatten zurück und für das Negative sei Brüssel verantwortlich, ist verlogen. Das muss schnellstmöglich aufhören.
Wohin solche Desinformationskampagnen führen, ist am britischen EU-Referendum ablesbar. Entscheidungen der EU brauchen dringend mehr demokratische Legitimation, wenn wir wollen, dass sie tatsächlich auf Akzeptanz stoßen. Wir tun das in Berlin auf unsere Art. Wir wählen bewusst Veranstaltungsformate, wo wir uns in den Diskurs mit Leuten begeben, die vermutlich bisher nur ein vages Bild von der EU hatten. Aber wir zeichnen auch besonders gelungenes europäisches und bürgerschaftliches Engagement aus.
Es gibt weitere Felder, die wir ausbauen müssen – da hat Herr Czaja völlig recht. Wir müssen Austauschprogramme wie ERASMUS+ tatsächlich auch in der neuen Förderperiode nach 2020 dringend stärken, statt sie abzubauen.
Aus unserer Sicht ist auch eine weitere Stärkung der städtischen Dimensionen in den EU-Politiken erforderlich. Chancen und Herausforderungen der EU konzentrieren sich in den Städten, und die Städte sind auch Schrittmacher für eine soziale Politik innerhalb der EU. Es waren die großen Metropolen, die zum Teil gegen die eigenen mitgliedstaatlichen Regierungen gefordert haben, Flüchtlinge fairer zu verteilen. Sie haben angeboten, diese Flüchtlinge aufzunehmen und ihnen eine Perspektive zu bieten, wie beispielsweise in Barcelona. Ich finde, das ist der europäische Geist im besten Sinne.