ach ja, und auch der Deutschen-Bahn-Politik in Berlin, sage ich mal in Ihre Richtung, Herr Friederici. Mit Großprojekten kann die SPD auch nicht mehr richtig punkten, die große Koalition insgesamt nicht mehr. Da brauchen wir nur einen Blick auf die Kostenexplosion bei der Staatsoper oder beim Irgendwann-Hauptstadtflughafen BER zu werfen. Der Finanzsenator hat das ja schon richtig formuliert: Man kann sich zwei Großprojekte in der Legislaturperiode leisten. Sie leisten sich die immerwährende Staatsoper und den Nimmermehr-Flughafen und nichts Vernünftiges, nach vorne Gerichtetes für die Stadt.
Doch das größte Desaster – ich finde es schon erbärmlich, dass Sie dazu nichts gesagt haben, Herr Saleh –, weil es eben keine Frage von Geld oder Image alleine ist, sondern weil das Menschen betrifft, die vor Krieg und Gewalt geflohen sind und bei uns Schutz und Hilfe suchen, das größte Desaster findet in der Turmstraße 21 am LAGeSo statt.
Es ist nicht wirklich was zum Klatschen, aber es ist tatsächlich die traurige Wirklichkeit in Ihrer Aufzählung, wo Sie überall gewesen sind, nicht vorgekommen. Und wenn Sie von Stabilität und gemeinsamem Handeln hier so schön gesprochen haben, da frage ich mich, wo das gemeinsame Handeln eigentlich in der Frage ist. Der Regierende Bürgermeister hat vor vier Wochen hier eine sogenannte Rücktrittsrede – das war der freudsche Versprecher – als Ruckrede wurde sie bezeichnet, eine Rücktrittsrede wurde dann daraus, gehalten. Das Bauernopfer folgte gestern mit dem Rücktritt des LAGeSo-Präsidenten Allert. Heute Morgen folgte schon auf dem Fuße die Reaktion der CDU-Fraktion, das sei eine öffentliche Hinrichtung gewesen. So ist also der Stil in Ihrer Koalition. Besser wird die Lage dadurch aber alleine nicht.
Denn nach wie vor drängen Tag und Nacht Hunderte Menschen auf das Gelände, und besonders am späten Abend und am frühen Morgen spielen sich dort dramatische Szenen ab. Familien mit Kindern, erschöpft von den Strapazen der Flucht, müssen bis tief in die Nacht warten, um überhaupt in eine Unterkunft zu finden. Völlig übermüdete, weinende Kinder, erschöpfte Helferinnen und Helfer, die trotz allem noch die Menschen mit Decken und Essen versorgen – das sind Zustände, die man in der deutschen Hauptstadt nicht für möglich gehalten hätte. Flüchtlinge übernachten im Freien, in der Kälte, weil sie schlichtweg keine Kostenübernahmen mehr für eine Unterkunft bekommen, obwohl sie vorgeladen worden sind. Und morgens, wenn man 2 Uhr überhaupt als morgens
bezeichnen kann, stellen sich schon wieder die Ersten an, manche mit Terminzetteln, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie vermerkt sind. Und wenn dann morgens um 4 Uhr geöffnet wird, kommt es regelmäßig zum totalen Chaos. Alle drängen verzweifelt rein, in der Hoffnung, möglichst weit vorne anzukommen. Vorgestern Nacht musste ein Mann mit Herzproblemen wiederbelebt werden – leider kein Einzelfall! Knochenbrüche und andere Verletzungen sind ebenfalls nicht selten.
Heute, am Tag der Menschenrechte, gilt, glaube ich, umso mehr: Das LAGeSo ist eine Schande für Berlin und Deutschland, meine Damen und Herren von der Koalition! Die Zustände am LAGeSo sind menschenunwürdig, das grenzt inzwischen an eine humanitäre Katastrophe. Inzwischen ist das LAGeSo in den bundesweiten Medien, in den „Tagesthemen“, im „Morgenmagazin“ nahezu täglich Thema. Selbst die „New York Times“ berichtet über die chaotischen und inzwischen lebensgefährlichen Zustände. Die Liste der Probleme kennen wir alle. Wir kennen sie alle, wir kennen auch alle die Zitate der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am LAGeSo, die vom Chaos sprechen, die davon sprechen, dass sie wissentlich 500 Terminzettel ausstellen, obwohl nur 200 bearbeitet werden können. Wir wissen um die Rechnungen für die Träger, die liegengeblieben sind. Die Träger arbeiten inzwischen an den Grenzen ihrer finanziellen Kapazitäten. Neuerdings hat sich noch hinzugesellt, dass man Weihnachten zumacht und die Flüchtlinge nicht registriert und dass Duschen in Tempelhof auch über Weihnachten ausfallen soll.
Das ist wahrlich nicht christlich, da hat der Kollege Birk recht. Vielleicht sollten Sie sich mal klar machen, Herr Czaja, Herr Müller: Da kommen Menschen und keine Verwaltungsvorgänge!
Wenn bald auch noch das Thermometer unter null Grad sinkt, dann stehen erst recht Menschenleben auf dem Spiel. Ich frage mich: Will man es eigentlich so weit kommen lassen? Warum gibt es dagegen eigentlich noch keinen Plan?
Sie müssen mit der Legende der andauernden Überforderung aufhören. Niemand hier hat jemals behauptet, dass es eine leichte Aufgabe ist. Wir alle wissen um die große Herausforderung in der Flüchtlingsfrage. Doch es war seit Anfang des Jahres bekannt, dass die Zahlen steigen. Andere Bundesländer haben Vorsorge getroffen. Ich möchte den THW-Chef Brömme, den ehemaligen Branddirektor des Landes Berlin, also gut mit der Stadt vertraut, zitieren. Er sagte vor einigen Tagen: „Wir hätten uns besser vorbereiten können. Praktisch hat Berlin auf ganzer Linie versagt.“
Über die Posse rund um Tempelhof, das Gesetz, das dringlich war und jetzt nicht mehr dringlich ist, und den Blindflug bei der Gründung des neuen Landesamtes will ich hier gar nicht mehr sprechen. Desaströs ist das alles. Was wir hier erleben, ist ein unerhörtes Regierungs- und Verwaltungsversagen, und dafür muss man als zuständiger Senator auch die Verantwortung übernehmen, Herr Czaja!
Bayern ist nicht deswegen besser als Berlin in der Registrierung, weil es ein Flächenland ist, Bayern ist besser, weil man dort kein halbes Jahr braucht, um neue Menschen einzustellen und eine Stelle zu besetzen, wie es in Berlin immer noch der Fall ist.
Berlin hat mit Abstand die meisten Altfälle in der Bundesrepublik, mindestens 15 000 Flüchtlinge, die noch nicht mal registriert sind. Dadurch kann die Verteilung der Flüchtlinge auf andere Bundesländer nach dem Königsteiner Schlüssel nicht stattfinden. Die nicht registrierten Flüchtlinge bleiben in Berlin und erhöhen den Druck auf die Notunterkünfte. Das kann und das darf nicht sein, da kann man nicht sagen: Über Weihnachten machen wir eine Registrierungspause.
Das Traurige ist – jetzt kriegen Sie auch Ihren Seehofer –: Berlin liefert inzwischen die Bilder für all diejenigen, die die Geschichten von der Überforderung in der Flüchtlingspolitik erzählen wollen. Es gibt nur eine dünne Linie zwischen dem „Wir schaffen das“ und dem „Wir schaffen das nicht“. Wir dürfen es nicht zulassen, dass aus der international hoch gelobten deutschen Hilfsbereitschaft die deutsche Überforderung wird.
Herr Regierender Bürgermeister! Welche Haltung Sie haben, haben wir vor vier Wochen sehr deutlich erfahren. Für Ihre Klarheit, an der Seite derjenigen zu stehen, die diese Herausforderung mit Mut und Zuversicht anpacken wollen, wurde Ihnen hier im Haus große Unterstützung zugesagt. Nun haben Sie gestern selbst eingegriffen und den Präsidenten des LAGeSo des Amtes enthoben. Auf der anderen Seite haben Sie selbst auch versprochen, für eine Besserung der Situation zu sorgen. Wenn Sie die Lage am LAGeSo tatsächlich verbessern wollen und wenn es schon so weit ist, dass der Regierende Bürgermeister in eine einzelne Verwaltung eingreifen und dort
für Ordnung sorgen muss, dann muss man sich fragen, ob es nicht an der Zeit wäre, denjenigen zu entlassen, der politisch für diese Situation verantwortlich ist. Wenn Sie die Zustände am LAGeSo verbessern wollen, dann reicht das Bauernopfer Allert nicht, dann muss auch die politische Führung, nämlich der Sozialsenator Czaja, entlassen werden, wenn es besser werden soll.
Wir stehen vor großen Herausforderungen, und nicht allein die Keilerei der letzten Tage rund um das LAGeSo hat gezeigt, dass die Gemeinsamkeiten von Rot-Schwarz längst aufgebraucht sind. Wenn Sie nicht mehr gemeinsam agieren – wie soll das denn überhaupt noch in der Stadt funktionieren? Sie praktizieren Regieren auf kurze Sicht und sind nicht mehr in der Lage, große Aufgaben anzupacken.
Es ist illusorisch, dass eine Regierungskoalition, in der der eine Partner auf das Ende im September hofft und der andere sich vor dieser Wahl fürchtet, noch Visionen für unsere Stadt entwickelt.
Die wichtigste neue Aufgabe für die kommenden Jahre ist zweifellos, die Integration und Aufnahme all der Menschen zu organisieren, die zu uns kommen. Wir dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen und die Integration in Bildung, Ausbildung, Arbeitsmarkt und Wohnungsmarkt auf die lange Bank schieben.
Aber auch für die Jugendlichen, die zu uns kommen, ist eine zügige Unterbringung an Schulen für Schulabschlüsse, an die sich eine Berufsausbildung anschließen kann, dringend notwendig. Die Berliner Wirtschaft hat zugesagt, dass sie uns, die Politik, dabei unterstützt, was gut und richtig ist. Andererseits muss Politik dann aber auch ihre Hausaufgaben machen und endlich dafür sorgen, dass aus der Schule, aus der Ausbildung heraus keine Jugendlichen mehr abgeschoben werden, die gerade dabei sind, hier bei uns ein neues Leben anzufangen.
Berlin hat in den vergangenen Jahren genügend Haushaltsüberschüsse aufgebaut, um die Kosten für die Unterbringung und Integration der Geflüchteten ohne Steuererhöhungen und ohne neue Schulden zu bewältigen. Wir können und wir wollen das schaffen, und wir tragen das
Konzept der Koalition auch mit, jährlich mindestens 600 Millionen Euro aus dem Landeshaushalt für Unterbringung, Lebensunterhalt, Bildung und Integration für Neuankömmlinge zur Verfügung zu stellen. Allerdings glauben wir, dass die zusätzlich bereitgestellten 22 Milli- onen Euro für die Integration der Geflüchteten nicht ausreichend sind. Um die gesellschaftliche, die schulische und die berufliche Integration der Geflüchteten und ihrer Kinder zu gewährleisten, erhöhen wir die dafür vorgesehenen Mittel um weitere 50 Millionen Euro.
Unser Anspruch ist auch in dem vorliegenden Antrag zum Haushalt formuliert. Wir glauben, dass wir eine wichtige Aufgabe vor uns haben. Wir müssen beweisen, dass wir uns den Schutz der universellen Menschenrechte nicht nur auf die Fahnen geschrieben haben, sondern diesen auch wirklich leben, und dass wir unsere Versprechen unter allen Umständen auch einlösen werden. Wir wissen zudem aus historischer Erfahrung – Herr Saleh, da gebe ich Ihnen recht –: Die Strahlkraft von Demokratie und Freiheit zu erhalten und auszubauen, ist der wichtigste Beitrag, um Diktatur und Terror nachhaltig zu bekämpfen.
Doch nicht nur Flüchtlinge kommen in unsere Stadt. Wie kaum eine andere Stadt zieht Berlin bis heute Menschen aus aller Welt an, die hier ihre neue Heimat finden. „Berlin ist zweigeteilt“, kommentierte allerdings kürzlich der „Tagesspiegel“ und fuhr sogar fort mit der Überschrift: „Berlin – Hauptstadt des Versagens“. Und weiter:
Wie paradox: Jedes Jahr ziehen Zehntausende in das weltweit ausstrahlende, attraktive Berlin – um hier eine geteilte Stadt zu finden. Hier das vor Kreativität und Lebenslust vibrierende Berlin, dort grauester DDR-Amtsstubensozialismus.
Spätestens bei diesen Gegenüberstellungen muss jedem klar werden, dass es nicht reicht, sich auf dem Ruf der Stadt und der guten wirtschaftlichen Entwicklung, auf der Kreativität der Menschen und dem ungebremsten Zuzug nach Berlin auszuruhen. Berlin wächst und verändert sich täglich. Wie kaum eine andere Metropole in Europa bietet unsere Stadt noch die Möglichkeiten, sich auszuprobieren und noch Freiräume zu haben. Daraus erwachsen Kreativität und Engagement vieler Menschen, Initiativen und Start-ups, auf die wir zu Recht stolz sind. Dieses Potenzial gilt es zu fördern und zu heben und nicht auszubremsen. Kultursenator Müller hat versprochen, diese Freiräume zu erhalten. Getan hat er dafür wenig. Genauso verhält es sich mit der hochgelobten vielfältigen Kultur
Unsere Stadt profitiert von den Berlin-Machern, also von denjenigen, die einfach loslegen und Berlin besser machen. Deswegen sagen wir ganz deutlich: Unser Berlin, unsere Stadt, muss eine Stadt der Möglichkeiten bleiben.