Generell ist die Situation so gewesen, dass der Anstieg der Aufforderungen zum Senken der Mietkosten nach Aussage der Präsidentin des Berliner Sozialgerichts im letzten Jahr exorbitant war – von 340 im Jahr 2010 auf 3 000 bis Dezember 2011, das ist eine Steigerung um 882 Prozent. Insofern hat auch die Präsidentin des Berliner Sozialgerichts an den Senat appelliert, durch Rechtssicherheit sehr schnell diesen Bescheiden des Jobcenters Einhalt zu gebieten, denn die alte AV Wohnen wird von den Jobcentern gar nicht mehr berücksichtigt. Schon wenn die Heizkosten steigen – und das war im vergangenen Winter der Fall – und dann diese Richtwerte überschritten werden, wird so ein Bescheid erstellt, ohne sich mit der Situation der Betroffenen genau zu befassen, was aber eigentlich im Sinne des Sozialgesetzbuches wäre.
Ich hoffe, dass sich die neue Rechtsverordnung Wohnen mehr auf die Lebenswirklichkeit der Menschen beziehen wird. Es gibt einmal die abstrakte Prüfung, d. h. die Prüfung, ob die Angemessenheit der Wohnung noch vorliegt oder nicht. Dann gibt es eine tatsächliche Prüfung, d. h. ob es überhaupt möglich ist, innerhalb des Raumes, der Region eine Wohnung zu finden, die diesen Angemessenheitsstandard erfüllt. Hierzu müsste man erst einmal statistische Daten ermitteln. Wenn nämlich klar ist, dass es in dem entsprechenden Raum gar nicht genügend verfügbare Wohnungen gibt, dann sollte eben auch keine Aufforderung zum Senken der Mietkosten ausgesprochen werden. Das muss immer auch wirtschaftlich möglich sein. Im Moment ist es so, dass Menschen, die diese Aufforderung erhalten, lieber noch von dem Geld, was sie bekommen, also von dem Alg II, etwas für die Miete aufwenden, was ihr Existenzminimum weiter mindert. – Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit!
Es wird die Überweisung des Antrags an den Ausschuss für Gesundheit und Soziales und an den Hauptausschuss empfohlen. Gibt es dazu Widerspruch? – Ich stelle fest, dem ist nicht so. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die erste Lesung. Für die Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt die Fraktion Die Linke. Das Wort hat die Abgeordnete Frau Kittler. – Bitte sehr!
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Verschiedenheit ist normal. Jeder Mensch muss dazugehören können. Darum geht es, und dafür müssen wir die Voraussetzungen schaffen. Die UNKonvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung manifestiert die inklusive Bildung als Menschenrecht. Sie gilt für uns seit der Unterzeichnung durch die Bundesregierung im März 2009. Ihre Zielstellung ist es, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung zu erleichtern und Diskriminierung und Ausgrenzung zu verhindern. Artikel 24 der UN-Konvention formuliert das Recht von Menschen mit Behinderung auf Bildung mit den Worten:
Um dieses Ziel ohne Diskriminierung und auf der Grundlage von Chancengleichheit zu verwirklichen, gewährleisten die Staaten ein inklusives Bildungssystem auf allen Ebenen.
Die von der Bundesrepublik unterzeichnete Konvention muss nun durch den Bund und die Länder umgesetzt werden – also auch durch uns in Berlin. Der hier vorliegende Vorschlag auf Gesetzesänderung soll nun endlich im dritten Jahr nach Unterzeichnung als einen ersten Schritt einen individuellen Rechtsanspruch für Schülerinnen und Schüler mit Behinderung beziehungsweise mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf gemeinsamen Unterricht mit Schülerinnen und Schülern ohne solche an allgemeinen Schulen im Schulgesetz verankern. Wir haben hier über Rechte von Kindern und Jugendlichen zu entscheiden, die eine körperliche, sinnliche oder geistige Behinderung haben, die Autisten, lern- oder sprachbehindert oder emotional-sozial gestört sind.
Berlin hat mit der Vorlage des Gesamtkonzepts „Inklusive Schule – Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung“ vom Januar 2011 schon einige mutige Vorschläge gemacht. Gehen wir nun einen Schritt weiter. Mit der unter Punkt 1 des Antrags vorgeschlagenen Änderung von § 36 Abs. 2 Satz 3 wird aus der Möglichkeit eine verbindliche Form, sodass sonderpädagogische Förderung vorrangig im allgemeinen Unterricht erfolgt. So wird Rechtssicherheit für die betroffenen Schülerinnen und Schüler, ihre Eltern, aber auch für Pädagoginnen und Pädagogen geschaffen.
Die bisherige Formulierung sieht eine Option vor, die zur Folge hat, dass sie auch haushalterischen Zwängen unterworfen ist. So sind die im Haushalt eingestellten Mittel für die personelle, sächliche und räumliche Ausstattung, die für einen gemeinsamen Unterricht notwendig sind, seit 2004 begrenzt. Nun ist die Zahl der Schülerinnen und Schüler mit Behinderung im gemeinsamen Unterricht in den letzten Jahren aber deutlich gestiegen. Durch die Deckelung der Haushaltsmittel haben sich jedoch die Bedingungen für sie verschlechtert. Es ist deshalb mehr als an der Zeit, dass der Rechtsanspruch auf gemeinsamen Unterricht als verbindlicher Grundsatz aufgenommen wird.
Der in Punkt 2 a in § 37 neu einzufügende Absatz 1 enthält den individuellen Rechtsanspruch von Schülerinnen und Schülern mit Behinderung auf gemeinsamen Unterricht bis zum Abschluss der Schule, wenn sie oder ihre Eltern dies wünschen.
Nach den Punkten 2 c und 3 des Antrags soll nun gelten, dass, wenn eine allgemeine Schule, bei der ein Antrag auf Aufnahme vorliegt, die für eine angemessene Förderung notwendigen Bedingungen nicht erfüllen sollte, mindestens ein anderes Angebot für den Besuch einer allgemeinen Schule unterbreitet werden muss. Kein Kind darf mehr zwangsweise in eine Sonderschule ein- oder umgeschult werden.
Ohne dass ich es bestellt habe, erreichte uns dieser Tage die Hamburger Erklärung zur Inklusion in der Bildung der Beauftragten des Bundes und der Länder für die Belange von Menschen mit Behinderung. Darin fordern sie
die Landesparlamente auf, sowohl eine Anpassung ihrer Schulgesetze als auch aller weiteren landesgesetzlichen Regelungen vorzunehmen, die für die Umsetzung eines inklusiven Bildungswesens Voraussetzung sind.
Ein inklusives Bildungssystem ist die Grundvoraussetzung für eine gelingende inklusive Gesellschaft.
Gehen wir einen ersten, entscheidenden, gesetzgebenden Schritt hin zur Inklusion! Handeln wir jetzt!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Fast jedes zweite Schulkind mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf wird bereits jetzt gemeinsam mit Kindern ohne
sonderpädagogischen Förderbedarf in den Regelschulen unterrichtet. Seit 2009 ist die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung auch für Deutschland verbindlich. Die UN-Konvention räumt Kindern mit Behinderung das Recht auf inklusive Bildung ein. Berlin steht nun vor der Aufgabe, die Schulgesetze entsprechend der neuen gesetzlichen Grundlage weiterzuentwickeln und den Anspruch auf einen inklusiven Unterricht schrittweise umzusetzen. Die verantwortungsvolle Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung ist eine der wesentlichen bildungspolitischen Aufgaben dieser Legislaturperiode.
Das bestehende Inklusionskonzept der Bildungsverwaltung soll gemeinsam mit den Betroffenen und Akteuren der Sonderpädagogik weiterentwickelt werden. Gemeinsam an Umsetzungsideen und flexiblen Lösungen zu arbeiten, wird auf jeden Fall lohnen. Wir alle und die verschiedenen Akteure stehen in der Pflicht. Wir stehen in der Pflicht, mit den Akteuren überzeugende Maßnahmen zu besprechen und umzusetzen – für eine gerechte, chancengleiche und diskriminierungsfreie Gesellschaft.
Die Umgestaltung von einer integrativen zu einer inklusiven Schule bedarf angesichts ihrer Komplexität, der Fülle an Details, vielfältiger Wechselwirkungen und der noch nicht abschließend zu beurteilenden organisatorischen, personellen und finanziellen Auswirkungen einer in sich stimmigen Gesamtlösung. In diesem Prozess zur Inklusion geht es nicht nur um organisatorische und strukturelle Fragen. Es geht um viel mehr. Es geht darum, dass wir Menschen mit Behinderung in unsere Mitte nehmen, dass sie einfach da sind im normalen Leben, dass sie uns bereichern mit ihrem Anderssein, dass wir voneinander lernen können, wir von ihnen, sie von uns – auch im alltäglichen, normalen Schulleben. Lernen ist nicht nur gemeinsames Sitzen in einem Klassenraum.
Wir wollen ein optimales Bildungsangebot für alle umsetzen, das sich an den Bedürfnissen und Fähigkeiten der jeweiligen Lerngruppen ausrichtet. Damit uns dies gelingt, müssen wir unsere Lehrkräfte für neue, bislang vielleicht unbekannte pädagogische Konzepte öffnen, die Lehrkräfte aus den Regelschulen für die Konzepte aus den Förderschulen genauso wie die Lehrkräfte aus den Förderschulen für die Konzepte aus den Regelschulen.
Natürlich benötigen unsere Lehrkräfte in dieser neuen inklusiven Schule Unterstützung, damit sie für diese Aufgaben weiterqualifiziert werden. Wir benötigen ein Bildungsangebot in der Lehreraus- und -fortbildung. Alle Lehrkräfte sollen Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Voraussetzungen unterstützen können. Aber natürlich braucht es weiterhin speziell ausgebildete Lehrkräfte der Sonderpädagogik, die mit ihren besonderen Kenntnissen die Lernprozesse von Schülerinnen und
Schülern mit Behinderung begleiten und andere Lehrkräfte anleiten. Ziel ist es, den Anteil der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die am gemeinsamen Unterricht an Regelschulen teilnehmen, zu erhöhen.
Die Möglichkeit für Eltern, ihr Kind an einer Schule mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt anzumelden, soll erhalten bleiben.
Der Vorschlag der Linken zur Gesetzesänderung formuliert das Recht von Schülerinnen und Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf Teilnahme am gemeinsamen Unterricht als uneingeschränkten Anspruch. Die bisherige Regelung, die ebenfalls den Vorrang einer integrativen Beschulung postuliert, führt in der Praxis fast immer zum gleichen Ergebnis, ermöglicht aber in seltenen Einzelfällen auch eine Überweisung in eine Schule mit sonderpädagogischem Förderschwerpunkt gegen den Willen der Erziehungsberechtigten. Eine isolierte Änderung der Zugangsvoraussetzungen in die Regelschule ohne die flankierenden Begleitmaßnahmen und ohne die Meinung von Betroffenen und Akteuren einzuholen, sehe ich als wenig hilfreich und gar nicht nachhaltig an. Der vorgelegte Änderungsvorschlag wird jedoch im Rahmen des Umgestaltungsprozesses als Grundlage für weitere Überlegungen bei der Änderung des Schulgesetzes dienen.
Wie Sie hören, ist dieses Thema ein emotionales. Meine Schwester ist auch behindert. Lassen Sie uns den Antrag ausführlich im Ausschuss beraten! – Vielen Dank!
Vielen Dank! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat der Abgeordnete Mutlu das Wort. – Bitte sehr!
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Liebe Frau Kittler! Ich mache Ihnen keinen Vorwurf. Sie waren schließlich die letzten zehn Jahre nicht hier im Haus. – Mir ging es aber genauso wie meinem Kollegen Beck. Ich habe mich gefragt: Wo waren Sie die letzten zehn Jahre? Wo waren Sie, liebe Linksfraktion, als wir 2004 in diesem Haus ein Schulgesetz reformiert haben, wo wir Grünen genau die Punkte, die Sie heute fordern, auf die Agenda gesetzt haben und Sie das gemeinsam mit der SPD abgelehnt haben? Wo waren Sie 2010, als wir in Berlin eine der umfangreichsten Schulstrukturreformen des Landes vorgenommen haben und wir erneut gesagt haben: Wir können das Thema Inklusion nicht ausblenden; schließlich ist seit 2009 die UN-Konvention von der Bundesrepublik ratifiziert, und deshalb müssen wir diese umsetzen! Auch 2010 haben Sie unseren Vorstoß abgelehnt, die Inklusion endlich gesetzlich zu verankern. – Aber man ist ja lernfähig bei der Linksfraktion. Auch
Wir unterstützen das Ansinnen dieses Antrags gerne, weil auch wir der Meinung sind, so kann das nicht weitergehen. Da reicht es eben nicht aus, lieber Kollege Özışık, sich hier hinzustellen und zu sagen: Fast jedes zweite Kind bekommt in Berlin sonderpädagogische Förderung. – Es geht um die Qualität, nicht um das Etikett. Es geht nicht darum, was wir an das Türschild schreiben, sondern darum, dass Inklusion, sonderpädagogische Förderung vor Ort in den Schulen praktiziert wird.
Dafür muss zuerst diese unsägliche Deckelung aufgehoben werden. Dafür muss es endlich genug ausgebildetes Personal geben, das diese Aufgabe wahrnehmen kann. Dieser Aufgabe haben Sie sich, liebe SPD, gemeinsam mit der Linken bisher entzogen. Ich hoffe, unter RotSchwarz weht ein anderer Wind in dieser Frage. Ich erinnere mich sehr gut an die Reden von Herrn Steuer in diesem Haus, in denen er immer, wenn wir dieses Thema auf der Tagesordnung hatten, gebetsmühlenartig wiederholt hat: Inklusion gibt es nicht zum Nulltarif. – Da sind wir voll Ihrer Meinung. Inklusion wird es nicht zum Nulltarif geben können, wenn wir keine Qualitätseinbußen hinnehmen wollen. Da die Kinder mit Behinderungen auch ein Recht auf qualitativ gute Bildung haben, dürfen wir nicht zulassen, dass es zulasten der Qualität geht, wenn man Inklusion in die Berliner Schule bringen möchte.
Wir haben demnächst Haushaltsberatungen. Im zuständigen Ausschuss beginnen wir damit Anfang März. Das ist eine Chance. Lassen Sie uns gemeinsam an einem Strang ziehen! Lassen Sie uns aufhören, das übliche Spiel von Opposition und Regierung zu spielen! Lassen Sie uns gemeinsam für die Rechte von Kindern mit Behinderung einsetzen! Sorgen wir gemeinsam dafür, dass auch Herr Nußbaum endlich kapiert, dass es Inklusion nicht zum Nulltarif gibt und auch in diesem Bereich Investitionen notwendig sind, weil die Berliner Schule in den letzten zehn Jahren durch die Deckelung und den Anstieg der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf immer mehr an Qualitätsabstrichen hinnehmen musste! Damit muss Schluss sein. Dieser Antrag könnte ein erster Schritt dazu sein. Die Haushaltsberatungen sind ein zweiter Schritt. Wir wollen gerne mit Ihnen gemeinsam für Inklusion in der Berliner Schule kämpfen. Packen wir es gemeinsam an!