Protocol of the Session on May 7, 2015

Hier müssen wir unsere Stimmen erheben und gegebenenfalls auch politisch und rechtlich standfester handeln. Ich will nicht erleben, dass Juden in diesem Land wieder in zunehmendem Maße ungestraft beschimpft und attackiert werden.

Es ist unsere Aufgabe, jeden Tag aufs Neue den Menschen vor Augen zu führen, in welchem Hort der Glückseligkeit in der Welt sie eigentlich leben angesichts der zahlreichen weltweiten Krisen und Bedrohungen, die so weit weg ja gar nicht sind. Wir müssen auch den Mut haben, Staaten zu brandmarken, die die Menschenrechte mit Füßen treten und auch unseren Beitrag zur Bekämpfung der neuen Barbaren in dieser Welt gemeinsam mit den zivilisierten Völkern leisten. Und natürlich müssen wir gepeinigten Menschen unter Beachtung unserer Rechtsordnung und im Rahmen unserer Möglichkeiten Schutz bieten. Nur so können wir an Glaubwürdigkeit gewinnen.

[Allgemeiner Beifall]

Und auch wir Abgeordnete sollten als Vorbilder dazu dienen, dass im Ringen um den richtigen Weg der Diskurs und nicht die Skandalisierung und bewusste Verletzung des Gegners aus kleinlichem politischen Kalkül im Vordergrund stehen. Anderes übertriebenes Verhalten wird die Menschen sich langfristig von der Demokratie abwenden lassen.

Nun gestatten Sie mir zum Ende dann doch den Abschluss der Rede von Richard von Weizsäcker zu zitieren,

bei dem er sich zunächst an die jungen Menschen mit dem Aufruf zur Toleranz wendet und dann wie folgt endet:

Ehren wir die Freiheit. Arbeiten wir für den Frieden. Halten wir uns an das Recht. Dienen wir unseren inneren Maßstäben der Gerechtigkeit. Schauen wir am 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge.

Ich danke Ihnen!

[Allgemeiner Beifall]

Vielen Dank, Herr Kollege! – Für die Piratenfraktion hat jetzt der Kollege Delius das Wort.

Vielen Dank, Herr Präsident! – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Gäste! Der Tag der Befreiung, an dem wir der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa gedenken, jährt sich morgen zum 70. Mal. Wovon wurde an diesem Tag die Welt befreit? – Sie wurde befreit von Hitlers zwölfjährigem Reich des Schreckens, das Millionen Menschen zu Sklaven erniedrigte und die Welt zum Objekt seiner Ausbeutung machen wollte. Deutsche ermordeten über 13 Millionen Menschen im Verlauf des Krieges durch Massenvernichtung. Sechs Millionen Jüdinnen und Juden, über drei Millionen sowjetische Kriegsgefangene, über drei Millionen nichtjüdische Zivilistinnen und Zivilisten, KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Deportierte, darunter Kommunisten, Sozialisten, Anarchisten und Homosexuelle, Hunderttausende Sinti und Roma, Hunderttausende Opfer der sogenannten Euthanasie. Über 60 Millionen Menschen wurden Opfer des eigentlichen Krieges. Sie wurden Opfer des deutschen Wahns von Weltherrschaft, des deutschen Wahns von rassischer Überlegenheit, des deutschen Wahns von historischer Sendung. Für sie alle kam die Befreiung zu spät. Es sind unvorstellbare Zahlen über Menschen mit ihren Hoffnungen, ihren Geschichten, ihrer Liebe, ihren Träumen. Sie sind ausgelöscht für immer.

Für uns – das ist meine tiefe Überzeugung – muss der Tag der Befreiung bedeuten: Erinnerung, Dankbarkeit und Verantwortung.

[Beifall bei den PIRATEN, der CDU und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN]

Die Erinnerung bleibt nicht zuletzt wach durch den Mut und die Arbeit der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Dafür bin ich sehr dankbar – gerade meine Generation. Doch auch wir müssen uns an die von den Nationalsozialisten abgeschlachteten Menschen und ihr unaussprechliches

Leid erinnern. Diese Erinnerung ist oft das Einzige, was von ihnen geblieben ist. Mit jedem Stolperstein, mit jedem Gedenken, mit jeder Blume an den Gleisen, auf denen die Nazis ihre Opfer in die Gaskammern brachten, erweisen wir diesen Menschen die Ehre, die ihnen in ihrem Leben und Sterben versagt geblieben ist.

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD, der CDU und den GRÜNEN]

Wir müssen uns an den Wahn und den Hass erinnern, die so viele Menschen dazu brachten, entsetzliche Verbrechen zu begehen oder gut zu heißen. Wir müssen uns an die Selbstverständlichkeit erinnern, mit der das ungeheuerliche Verbrechen des Holocausts verwaltet und organisiert worden ist, diese schauerliche Bürokratie des Bösen. Wir müssen uns an die Millionen Kriegstoten erinnern, und das nicht nur am Tag der Befreiung, sondern immer.

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD, der CDU und den GRÜNEN]

Diese Erinnerung kann uns davor bewahren, so zu werden, wie viele unserer Vorfahren, und sie kann die Welt davor bewahren, durch unsere Hand jemals wieder solches Leid zu erfahren.

Der Tag der Befreiung ist aber auch ein Tag, an dem wir dankbar sein dürfen – das wurde schon gesagt –, dankbar dafür, dass die Alliierten die Gnade und die Menschlichkeit besaßen, den Deutschen in der Bundesrepublik ein Leben in Freiheit und bald auch in wirtschaftlichem Wohlstand zu ermöglichen, dankbar für die Möglichkeit, nach der friedlichen Revolution 1989 in einem Land zusammenzuwachsen, und dankbar für die freundschaftlichen Beziehungen in Europa und der Welt.

[Beifall bei den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD, der CDU, den GRÜNEN und der LINKEN]

Thomas Mann nennt in seiner letzten Rede an die deutschen Hörerinnen und Hörer am 10. Mai 1945 den Moment der Befreiung eine große Stunde. Er sagt: „Die Rückkehr Deutschlands zur Menschlichkeit“ hat stattgefunden. – Das ist die Verantwortung, die ich meine, das ist die Verantwortung, die wir haben: Menschlichkeit. Ein Ausdruck dieser Verantwortung findet sich auch im ersten Artikel des Grundgesetzes – ich zitiere mit Ihrer Erlaubnis, Herr Präsident –:

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

steht da.

Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.

Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.

(Andreas Gram)

Ich frage Sie: Werden wir dieser Verantwortung gerecht? Werden wir diesen Zielen, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt, gerecht? – Manche finden schnell eine Antwort.

Der NSU, der „Nationalsozialistische Untergrund“, war eine rechtsterroristische Gruppierung, die sich – so die Generalbundesanwaltschaft – zum Ziel gesetzt hatte, aus einer fremden- und staatsfeindlichen Gesinnung heraus vor allem Mitbürgerinnen und Mitbürger ausländischer Herkunft zu töten. Die Mitglieder dieser Gruppe zogen jahrelang raubend und mordend durch das Land. Die Mordserie wurde zunächst als „Dönermorde“ bezeichnet. Die Mordopfer, ihre Familien und ihr Umfeld waren über Jahre hinweg rassistischen Verdächtigungen ausgesetzt. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Thüringer Landtags kam zu dem Ergebnis, dass Verfassungsschutz und Polizeibehörden nicht nur schwere Fehler gemacht und Versäumnisse begangen haben, sondern:

Die Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen … den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu.

Ein ungeheuerlicher, aber gut belegter Verdacht!

Der Untersuchungsausschuss stellt außerdem fest: Man hatte sich in weiten Teilen der Gesellschaft auf ein gemeinsames Wegschauen und Verharmlosen verständigt. Wegschauen, Verharmlosen, Bequemlichkeit, das Dulden rechter Hetze im Namen der Meinungsfreiheit, die Diskreditierung von Engagement gegen rechts und Hetze gegen Geflüchtete – das passiert jeden Tag, heute, jetzt. Wir werden als Gesellschaft unserer Verantwortung gerecht? – Nein! Und es reicht auch nicht, dass wir die Opfer des NSU um Verzeihung bitten, wir müssen ernsthaft dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert, passieren kann.

[Beifall bei den PIRATEN, der LINKEN und den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und der CDU]

Eine Gelegenheit dazu haben wir heute. Auf der heutigen Tagesordnung steht der Antrag „Kein Einsatz von V-Leuten bei Polizei und Verfassungsschutz in Berlin“. Hunderte von V-Leuten haben über ein Jahrzehnt nicht dazu beigetragen, dass die NSU-Mordserie aufgeklärt oder gestoppt werden konnte. Im Gegenteil, auf das Konto des V-Leute-Systems geht ein Großteil des Behördenversagens beim NSU. Lassen Sie uns diesen gefährlichen Unsinn – zumindest in Berlin – heute beenden!

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

Wie steht es sonst um unsere Verantwortung? – In diesem Jahr sind bereits über tausend Geflüchtete jämmerlich im Mittelmeer ertrunken, Menschen mit ihren Hoffnungen, ihren Geschichten, ihrer Liebe, ihren Träumen, ausgelöscht für immer. Hier können und müssen wir zeigen,

wie menschlich wir wirklich sind, wie verantwortungsbewusst. Wir müssen die Asyl- und Abschiebepraxis in Europa und in Berlin grundlegend ändern. Wir können und dürfen uns nicht abschotten gegen die Menschen, die zu uns kommen in der Hoffnung auf ein würdiges Leben, auf Menschlichkeit. – Herr Innensenator! Insbesondere Sie haben jeden Tag die Möglichkeit, menschlich zu sein. Nutzen Sie sie, anstatt sich hinter Verwaltungsprozessen vor der Verantwortung zu verstecken!

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN]

175 rassistisch motivierte Angriffe auf Unterkünfte für Asylbewerberinnen und Asylbewerber zählt die Polizei bundesweit im vergangenen Jahr. Das sind dreimal so viele, wie im Jahr davor. Letztes Jahr wurde in Deutschland in 864 Fällen wegen antisemitischer Straftaten ermittelt. Die Dunkelziffer ist wahrscheinlich wesentlich höher. Hier bei uns in Marzahn marschiert seit letztem November praktisch jede Woche der rassistische Mob auf, um gegen geplante Containerlager zur Unterbringung von Geflüchteten zu protestieren. Wir werden als Gesellschaft unserer Verantwortung nicht gerecht, wenn man sich diese Zahlen anguckt.

55 Prozent der Deutschen – das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – ärgern sich darüber, dass ihnen heute noch die Verbrechen an den Jüdinnen und Juden vorgehalten werden. Das ergibt eine Studie der FriedrichEbert-Stiftung aus dem letzten Jahr. Ein befreundeter Rabbiner erzählte mir vor Kurzem, dass er seine Kinder von der öffentlichen Schule nehmen musste – wegen ständiger antisemitischer Anfeindungen.

Wir werden unserer Verantwortung leider nicht gerecht. Wir müssen erkennen, dass antisemitische und rassistische Ansichten, dass vernichtender Hass viel verbreiteter sind, als viele wahrhaben wollen. Wir müssen Haltung zeigen, ob in der großen Politik oder durch Zivilcourage im Alltag. Es ist zwar beruhigend, dass es 5 000 Gegendemonstrantinnen und -demonstranten gelingt – darunter der Bundesjustizminister –, sich gegen Bärgida zu stellen und diese am Marschieren zu hindern, aber es reicht nicht. Wir müssen vielmehr dem Gedankengut entgegenwirken, das durch Hass Menschenleben vernichtet. Wir müssen ein positives Menschenbild und ein positives Weltbild entgegenstellen. Wir brauchen mehr politische Bildung.

Wir müssen anfangen, Migration als die Bereicherung zu empfinden, die sie ist. Wir müssen Integration als Daueraufgabe für uns verstehen und nicht als Prüfung für Menschen aus anderen Ländern, die hierherkommen und hier leben wollen. Wir müssen aufhören, die Armen gegen die noch Ärmeren auszuspielen, und wir müssen uns gegen jeden rechtspopulistischen Unsinn wehren.

[Beifall bei den PIRATEN, den GRÜNEN und der LINKEN – (Martin Delius) Vereinzelter Beifall bei der SPD und der CDU]

Kurz: Wir müssen den Artikel 1 des Grundgesetzes als ständigen Auftrag verstehen, um dem Tag der Befreiung gerecht werden zu können. Die Befreiung der Welt von Nazideutschland eröffnete die Möglichkeit, hier eine auf unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten beruhende menschliche Gemeinschaft in Frieden und Gerechtigkeit zu schaffen. Daran sollten wir uns erinnern. Dafür sollten wir dankbar sein, und dafür sollten wir Verantwortung übernehmen.

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN]

Und ja, das bedeutet auch – zumindest für meine Fraktion –, dass wir am besten heute die Gelegenheit wahrnehmen sollten, den 8. Mai zum Gedenktag zu erklären, unter anderem, damit Rassistinnen und Rassisten diesen Tag nicht für ihre Propaganda nutzen können. – Vielen Dank!

[Beifall bei den PIRATEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN]

Danke schön! – Für den Senat hat nunmehr der Regierende Bürgermeister das Wort. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir heute über das weltoffene Berlin reden, das Berlin, das Flüchtlingen hilft und aufsteht gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus, Rassismus, dann fallen einem viele Daten, Worte, Gegebenheiten ein, an die man erinnern kann, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen. In diesen Tagen jährt sich die Einweihung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas zum zehnten Mal. Heute findet dazu der Festakt statt. Hunderttausenden Besucherinnen und Besuchern jährlich ist es ein Bedürfnis, die Erinnerung wachzuhalten und an diesem besonderen Denkmal mitten im Herzen Berlins zu gedenken. Bürgerinnen und Bürger rund um Lea Rosh und viele andere haben sich dafür stark gemacht. Bürgerinnen und Bürger, Menschen aus aller Welt halten hier inne. Das ist gelebte Erinnerungskultur, und sie verbindet sich mit einem entschiedenen: Nie wieder! Nie wieder dieses Unrecht!

[Starker allgemeiner Beifall]

Wir haben am Sonnabend hier im Plenarsaal des Abgeordnetenhauses an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren und an die Befreiung vom Nationalsozialismus erinnert. Der 2. Mai markiert die Einstellung der Kampfhandlungen in Berlin. Es war ein grausamer und verbrecherischer Krieg, mit dem Nazideutschland die Welt überzogen hatte, und der schließlich auch mit voller Wucht seine Urheber traf. Mit dem Sieg der Alliierten endete das Menschheitsverbrechen der Shoah. Wir wollen