Wir haben am Sonnabend hier im Plenarsaal des Abgeordnetenhauses an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren und an die Befreiung vom Nationalsozialismus erinnert. Der 2. Mai markiert die Einstellung der Kampfhandlungen in Berlin. Es war ein grausamer und verbrecherischer Krieg, mit dem Nazideutschland die Welt überzogen hatte, und der schließlich auch mit voller Wucht seine Urheber traf. Mit dem Sieg der Alliierten endete das Menschheitsverbrechen der Shoah. Wir wollen
und wir dürfen diese Zeit nicht vergessen. Vor 70 Jahren wurden die Deutschen und weite Teile Europas von totalitärer Herrschaft befreit. Allerdings war es – auch das gehört zur Wahrheit – für einen Teil der Deutschen, für die Menschen im Osten des Landes, eine „Befreiung zu neuer Unfreiheit“, wie es Bundespräsident Gauck sagte.
Unser langer Weg hin zu Demokratie, Recht und Freiheit für alle fand seinen Abschluss erst mit den Menschenrechtsbewegungen der friedlichen Revolution der Ostdeutschen, dem Fall der Mauer und der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990.
Wenn wir heute über einen Gedenktag 8. Mai beraten, erinnere ich mich an Zeiten, in denen es großen Streit über die Bewertung der Ereignisse vor 70 Jahren gab. Heute, auch hier in der Plenarsitzung, stelle ich eine große Einigkeit über alle Parteien hinweg fest – gerade auch aufgrund der Wirkung der historischen Rede von Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985. Es gibt ein starkes Bedürfnis, an diesen historischen Einschnitt in würdiger Weise zu erinnern, an den Irrweg, der zur Katastrophe der Jahre 1933 bis 1945 geführt hat, an die Millionen Opfer, an die schreckliche Zerstörung unserer Stadt, aber auch an die Chancen, die wir zunächst im Westteil Berlins erhalten haben, als die Besatzer zu Freunden wurden und so nachhaltig beim Wiederaufbau und der Rückkehr in die Völkergemeinschaft geholfen haben.
Ich sehe in dieser großen Gemeinsamkeit ein hohes Gut. Gerade weil es darum geht, dass wir an diesem Tag ein gemeinsames Zeichen setzen, werbe ich dafür, dass wir auch im Hinblick auf das künftige Erinnern an diesen Jahrestag nicht einen Parteienstreit führen, sondern alle erkennen, dass der 8. Mai als Gedenktag für viele Menschen ein wichtiges Zeichen wäre.
Ich habe das, lieber Udo Wolf, ganz besonders am 2. Mai gespürt. Ich gebe zu, ich habe mir die Frage gestellt, ob wir mit der Gedenkveranstaltung am 2. Mai durchdringen werden, weil der 8. Mai das große historische Datum ist. Ich fand es auch sehr bewegend zu sehen, wie die Reaktionen auf diese Veranstaltung waren. Es ist eben doch so, dass viele Menschen solche Orte und Daten brauchen, um zusammenzukommen, um sich wieder einmal mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen, um wieder einmal gemeinsam nach vorn blicken zu können. Ich glaube, auch vor diesem Hintergrund wäre der 8. Mai als Gedenktag für viele Menschen ein wichtiges Zeichen, zurückzublicken, aber auch gemeinsam nach vorn zu schauen.
In der Gedenkstunde am Sonnabend haben mich auch die Erzählungen der Zeitzeugen von den letzten Tagen des Krieges berührt. Für mich ist das die wichtigste Lehre aus unserer jüngeren Geschichte: Nie wieder wegschauen, wenn anderen Menschen Unrecht geschieht! Nie wieder wegsehen, wenn Minderheiten ausgegrenzt, gedemütigt, verfolgt und ermordet werden! Sich berühren lassen vom Schicksal anderer Menschen, die in Not sind!
Dieses Sich-berühren-Lassen erleben wir zurzeit an vielen Orten auch in unserer Stadt, wo Flüchtlinge, die aus großer Not kommen, bei uns Zuflucht suchen. Frauen und Männer, viele Berlinerinnen und Berliner sind spontan bereit zu helfen. Darauf bin ich sehr stolz. Sie sind bereit, sich ehrenamtlich in den Flüchtlingsunterkünften zu engagieren. Es gibt Menschen, die zum Beispiel syrische und afghanische Flüchtlinge am Flughafen abholen, sie zu Behördenterminen begleiten und Schreiben übersetzen. Viele Mitglieder von Kirchengemeinden begleiten Flüchtlinge zu Veranstaltungen, bringen ihnen Deutsch bei oder organisieren Sportangebote für sie – oder es gibt Kinder, die ihren Altersgenossen in den Flüchtlingsheimen etwas von ihrem Spielzeug abgeben.
Wenn wir heute, 70 Jahre nach dem Ende des Krieges, über unsere Verantwortung für ein weltoffenes Berlin diskutieren, dann ist das keine abstrakte Frage, nichts Anonymes, sondern etwas sehr Konkretes. Es sind diese Berlinerinnen und Berliner, die mit ihrer Haltung, mit ihrem Einsatz Vorbilder sind und das Klima in unserer Stadt prägen. Ihnen allen möchte ich im Namen des Berliner Senats Danke sagen für ihr Engagement.
Wir erleben aktuell, dass viele Menschen ihre Heimat verlassen, weil sie in Not sind, Menschen, die alles verloren haben, und vor Kriegen und brutaler Gewalt fliehen, so, wie es in früheren Zeiten auch viele Deutsche taten. Mein Hamburger Kollege Olaf Scholz hat vor kurzem darauf hingewiesen, dass über den Hamburger Hafen Millionen ihr Glück in der neuen Welt suchten. Vergessen wir auch nicht, dass Auswanderung aus Deutschland für viele Juden die einzige Möglichkeit war, der Deportation und den Vernichtungslagern zu entgehen. Viele Menschen auf der ganzen Welt sind also heute wieder in der Situation, ihre Heimat verlassen zu müssen – wegen Krieg, Verfolgung oder auch Hunger. Nur die wenigsten schaffen den Weg bis zu uns nach Europa. Die allermeisten Flüchtlinge bleiben in ihrer Region, zum Beispiel im Libanon, in der Türkei, in Jordanien. Millionen wurden vor den Grenzen Europas schon aufgenommen. Das sollten wir nicht vergessen, wenn wir über den Umgang mit Flüchtlingen in unserer Stadt und unserem wohlhabenden Land sprechen.
Es stimmt, in Berlin hat die Zahl der neu angekommenen Flüchtlinge stark zugenommen. Im Jahr 2012 waren es 3 500, im Jahr 2013 dann 6 000, im letzten Jahr waren es gut doppelt so viele, über 12 000, und im laufenden Jahr sind bereits über 6 500 angekommen, wir rechnen damit, dass es rund 20 000 in unserer Stadt sein werden. Ich sage an dieser Stelle auch ganz deutlich: Das ist auch eine große Herausforderung, eine große Aufgabe. Viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Berliner Behörden, auf Landesebene und in den Bezirken, sind Tag und Nacht im Einsatz. Sie tun ihr Möglichstes für die Menschen, die ihnen anvertraut sind, und auch sie haben unseren Dank und unsere Anerkennung verdient.
Vor allen Dingen ist die Unterbringung der Flüchtlinge die schwierigste Aufgabe für alle Beteiligten. Derzeit sind etwa 15 000 Menschen in den 64 Berliner Flüchtlingsunterkünften untergebracht. Deshalb sage ich: Wenn Sporthallen als Notunterkünfte genutzt werden oder Traglufthallen und Containerdörfer installiert werden, dann sind das Notlösungen. Wir wollen sie nicht auf Dauer, wir werden sie aber vielleicht für eine Übergangszeit nicht ausschließen können. Unser Ziel muss es sein, dass die Flüchtlinge möglichst schnell in Wohnungen unterkommen.
Das ist das Ziel. Leider gibt es dafür viel zu wenige Wohnungen. Es gibt eben leider kaum Leerstand in unserer Stadt. Wir tun alles, um die Situation Schritt für Schritt auch für die Menschen, die hierher kommen und Unterkunft suchen, zu verbessern. Aber nebenbei gesagt, auch das ist mir an dieser Stelle wichtig –: Ich finde es unerträglich, dass gewissenlose Eigentümer diese Knappheit ausnutzen, um maximale Rendite für Bruchbuden zu erzielen, um sie als Unterkunft anzubieten.
Die Unterbringung ist die schlechthin drängendste Herausforderung, aber es geht, wenn wir über den Tag hinausschauen, auch um mehr. Machen wir uns keine Illusionen, viele Flüchtlinge werden für längere Zeit hierbleiben – oder dauerhaft. Sie wollen sich Einbringen, sie wollen nicht dauerhaft von staatlicher Unterstützung leben, sondern selbst für sich und ihre Familien sorgen können. Barbara John hat das vor Kurzem so ausgedrückt: Bleibeberechtigte Flüchtlinge müssen in der Gesellschaft ankommen und die Möglichkeit haben, nicht nur zu nehmen, sondern zu geben. – Und das heißt konkret, wir werden so schnell wie möglich mit der Integration beginnen, Kindern schnell den Zugang zur Bildung eröffnen, den Jugendlichen ermöglichen, eine Ausbildung zu machen, und den Erwachsenen zu arbeiten, damit sie ihr eigenes Geld verdienen können. Berufliche Integration ist entscheidend für gesellschaftliche Teilhabe und ein wichtiges Element einer humanitären Flüchtlingspolitik.
Auf diesem Feld der Integration im Alltag wird heute schon viel geleistet. An allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen werden derzeit rund 4 500 Schülerinnen und Schüler ohne Deutschkenntnisse in insgesamt knapp 400 Willkommensklassen beschult. Seit Oktober 2014 gibt es elf Integrationslotsinnen und -lotsen an Gemeinschaftsunterkünften. Das Projekt Arrivo wird aufgrund des großen Interesses der Wirtschaft nicht nur verstetigt, sondern erweitert. Es bietet den jungen Menschen eine Chance, zusammen mit Handwerksunternehmen in eine wirklich handwerklich-praktische Berufsvorbereitung einzutreten.
Ich könnte viele andere Beispiele nennen. Aber eins ist auch klar: Die Aufnahme der Flüchtlinge ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Berlin braucht wie alle anderen Länder und Kommunen auch hier noch deutlich mehr Unterstützung vonseiten des Bundes. Ich appelliere ganz klar an den Bund: Der Bund darf die Länder und Kommunen nicht mit den wachsenden Aufgaben allein lassen. Er kann und er muss an vielen Stellen helfen. Während wir Traglufthallen und Turnhallen benutzen, so wie es auch in anderen Städten der Fall ist, stehen Immobilien des Bundes leer, und ich finde den Appell an Minister Schäuble richtig: Helfen Sie schnell und unbürokratisch mit leerstehenden Immobilien der BImA! Die Menschen brauchen diese Immobilien.
Wir finanzieren darüber hinaus schon als Land jetzt ein breites Angebot an Sprachkursen für diejenigen, die bisher von Integrationskursen ausgeschlossen sind. Auch daher mein Appell an die Bundesregierung: Öffnen Sie die Integrationskurse für Flüchtlinge und Geduldete! Berlin erwartet vom Bund, dass er sich dauerhaft und substanziell an den Kosten der Kommunen beteiligt, insbesondere auch für die gesundheitliche Versorgung der Flüchtlinge. Wir brauchen mehr Rückenwind von der Bundesebene. Denn eines darf nicht passieren, da spreche ich auch nicht nur für Berlin, dass die Kommunen kein Geld mehr haben für ihre regulären kommunalen Aufgaben im Bereich der Kita, der Schul- und Sportstätten, der Jugendarbeit, der Sozialarbeit. Wir müssen aufpassen, dass wir so den Populisten nicht in die Hände spielen, die nur darauf warten, eine menschliche und angemessene Flüchtlingsunterbringung gegen die Belange der ansässigen Bevölkerung ausspielen zu können. Dieser Form von Entsolidarisierung dürfen wir gemeinsam keinen Vorschub leisten!
Ich möchte in diesem Zusammenhang auch etwas zur europäischen Politik sagen. Dass jetzt wieder mehr für die Seenotrettung getan wird, ist zu begrüßen. Viel zu lange wurde dem Sterben im Mittelmeer tatenlos zugesehen. Es muss jetzt um eine humanitäre Kraftanstrengung aller gehen.
Im Kleinen stellt sich Berlin seiner Verantwortung, auch bei der medizinischen Versorgung der aus Seenot geretteten Flüchtlinge. Die Charité Berlin hat sich auf meinen Wunsch hin bereit erklärt, bei Bedarf für medizinisch besonders schwerwiegende Fälle sofort Versorgungsmaßnahmen einzurichten. Wir haben das auch der Bundesregierung übermittelt.
Aber gerade in diesen Tagen, an denen wir an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 70 Jahren erinnern, sollten wir auch daran denken, dass Europa immer ein Projekt des Friedens war und auch für Gerechtigkeit und Solidarität steht. Diese 70 Jahre in Frieden und für die allermeisten in Freiheit sind doch keine Selbstverständlichkeit. Diese 70 Jahre wurden erstritten und erkämpft. Und dieses gemeinsame Europa ist eine großartige Basis für dieses Leben in Frieden. Wir vertreten gemeinsame Werte. Wir müssen eben auch gemeinsam solidarisch sein. Und deswegen sage ich auch hier ganz klar: Wir brauchen auch auf einer internationalen Ebene eine faire Verteilung der Flüchtlinge. Es geht nicht, dass nur fünf Staaten 50 Prozent der Flüchtlingslast tragen. Gemessen an der Situation in den Herkunftsländern sind wir in Europa alle wohlhabend, und wir alle können solidarisch sein und Menschen helfen, die alles verloren haben!
Für Berlin ist die Erinnerung an das Ende des Krieges vor 70 Jahren ein Anlass, um sich zu vergewissern. Wie organisieren wir ein gerechtes und solidarisches Miteinander in einer so vielfältigen Stadt wie Berlin? Menschen willkommen zu heißen, die hier leben wollen, die hier nach Berlin kommen, ist eine große Aufgabe, aber, wie ich finde, eben auch eine Selbstverständlichkeit. Die andere ist, dass wir Gesicht zeigen gegen all jene, die Hass und Gewalt verbreiten. Und die wichtigste Aufgabe ist es, dass wir uns immer wieder dafür einsetzen, eine weltoffene und demokratische Kultur im Alltag zu schaffen. Ich möchte an dieser Stelle all jenen danken, die sich so nachhaltig in Berlin in diesem Sinne engagieren in den vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen, in Gewerkschaften, Parteien, in Kirchen und Moscheegemeinden, im Dialog der Religionen, in Präventionsinitiativen zur Aufklärung über Rechtsextremismus und Antisemitismus, in den Bündnissen gegen Homophobie, in den Projekten zur Einbeziehung von Sinti und Roma, um nur einige Beispiele zu nennen.
In wenigen Tagen, zu Pfingsten, findet der Karneval der Kulturen statt. Es ist der 20. Karneval, und die Bilder dieses Festes werden wieder um die Welt gehen. Hunderttausende werden auf der Straße dafür stehen, dass Vielfalt eine Bereicherung für uns alle ist und dass wir alles tun müssen, um diejenigen aufzuhalten, die Hass und Gewalt gegen Andersdenkende und Andersgläubige verbreiten.
Berlin hat nach den Anschlägen von Paris und bei den Pegida-Demonstrationen gezeigt, wo wir stehen, nämlich auf der Seite derjenigen, die Unterstützung brauchen. Viele Berlinerinnen und Berliner sind gemeinsam aufgestanden und haben für etwas demonstriert. Es ging nicht nur darum, dagegenzuhalten gegen diese 300 oder 500 Hanseln bei dieser Pegida-Demonstration, sondern das starke Signal war, dass auf der anderen Seite Tausende Berlinerinnen und Berliner standen, die für etwas demonstriert haben, nämlich für Frieden und Freiheit, für Toleranz und Demokratie, für Meinungsfreiheit, für ein gutes und friedliches Zusammenleben in unserer Stadt und darüber hinaus. Und das ist eine gute Grundlage, um die anstehenden Aufgaben gemeinsam zu meistern. Und es ist eine gute Grundlage, um Lösungen zu erreichen, Lösungen im Sinne von Solidarität und einer Allianz der Mitmenschlichkeit. – Vielen Dank!
Vielen Dank, Herr Regierender Bürgermeister! – Weitere Wortmeldungen liegen nicht vor. Die Aktuelle Stunde hat damit ihre Erledigung gefunden. Es wird die Überweisung des Gesetzesantrags Drucksache 17/2243 federführend an den Ausschuss für Inneres, Sicherheit und Ordnung und mitberatend an den Ausschuss für Europa- und Bundesangelegenheiten, Medien vorgeschlagen. – Widerspruch höre ich nicht, dann verfahren wir so.
Bevor ich die erste Fragerunde aufrufe, appelliere ich noch mal an alle Beteiligten, sowohl kurz gefasste Fragen ohne Vorbemerkung und einleitendes Statement zu stellen als auch keine ausschweifende Beantwortung vorzunehmen. Ich mache auch noch einmal darauf aufmerksam, dass die Nachfragen sich auf die Beantwortung des Senats zu beziehen haben. Die Wortmeldungen beginnen wie immer in zwei Runden nach der Stärke der Fraktionen mit je einer Fragestellung an den Senat. Das Verfah
ren ist Ihnen bekannt. Die erste Frage steht der Fraktion der SPD zu. – Frau Kollegin Radziwill, bitte schön, Sie haben das Wort!
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Flüchtlinge brauchen unseren Schutz, Hilfe und Solidarität und finanzielle Unterstützung. Daher frage ich den Senat: Wie bewertet der Senat die Vorwürfe, die im Zusammenhang mit dem Gemeinschaftswohnheim in der Goerzallee in Lichterfelde gegen das Landesamt für Gesundheit und Soziales erhoben werden?