Protocol of the Session on May 7, 2015

Wir müssen mit dem Erinnern an das grauenhafteste Kapitel deutscher Geschichte Aufklärung betreiben. Wir müssen uns NPD-Kameradschaften und Pegida, Bärgida – und wie der ganze Spuk sich schimpft – immer wieder entgegenstellen – jeder und jede, so gut er oder sie kann.

[Allgemeiner Beifall]

Das ist oft anstrengend, aber es muss getan werden – am Stammtisch, wenn rassistischer Unsinn über Flüchtlinge gesprochen wird, im persönlichen Umfeld, wenn geschichtsvergessene Dummheiten erzählt werden, auf Demonstrationen, wenn Nazis versuchen zu provozieren und einzuschüchtern. Und nebenbei: Es wäre schön, wenn bei den jährlichen Kranzniederlegungen am 8. und 9. Mai wieder mehr Politikerinnen und Politiker teilnähmen, denn der Kreis derjenigen, die in den letzten Jahren z. B. am polnischen Ehrenmal oder an den sowjetischen Ehrenmalen im Treptower Park oder an der Straße des 17. Juni des Tages der Befreiung gedachten, war sehr überschaubar. Ich finde das beschämend. Vielleicht hilft ja der Hinweis von Götz Aly, dass man an diesen Tagen an diesen Orten der Opfer und der Befreier gedenkt und nicht der aktuellen Regierung.

Wer heute über das Ende des Zweiten Weltkrieges und die Befreiung vom Faschismus spricht, muss auch über

(Raed Saleh)

Flucht und Asyl in diesen Tagen reden. Das haben Sie getan, Herr Regierender Bürgermeister. Man muss aber auch darüber reden, dass derzeit die UN die Bundesrepublik auf Rassismus und auch staatlichen Rassismus untersucht und besorgniserregende Befunde hat. Man muss darüber reden, weshalb so etwas wie der NSUSkandal in Deutschland passieren konnte und wie es dazu kommen konnte, dass sich Mitarbeiter des bundesdeutschen Staates im Umgang mit Rechtsextremisten in Komplizenschaft begeben haben. Ja, Komplizenschaft! Während ein Teil der Sicherheitsbehörden über V-Leute am Aufbau von militanten und terroristischen Strukturen im rechtsextremen Bereich mitgewirkt hat, hat ein anderer Teil der Sicherheitsbehörden bei den Mordtaten einen rechtsextremen Hintergrund schnell ausgeschlossen und die Familien der Opfer unter Verdacht genommen. Das sind bittere Fakten, die nur von Leuten bestritten werden können, die die Augen ganz fest verschließen. Dass sich jetzt nach dem Ende des Bundestagsuntersuchungsausschusses schon wieder eine Haltung breitmacht, die da sagt: So, ist ja alles aufgeklärt, das Thema wird abgehakt –, das finde ich erschütternd.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN]

Gleichzeitig radikalisiert sich wieder die rechtsextreme Szene in Berlin. Sie sagen, dass die V-Leute unverzichtbar sind, um die Szene wirksam zu bekämpfen, aber Sie kriegen in Berlin die Nazis schlicht nicht in den Griff. Die Nazis bedrohen Flüchtlinge, sie bedrohen Unterstützerinnen und Unterstützer von Flüchtlingen, sie verüben Anschläge, die bedrohen Politikerinnen und Politiker, sie demonstrieren vor der Haustür der Bundestagsvizepräsidentin. Das alles ist unerträglich und nicht hinnehmbar.

[Allgemeiner Beifall]

Lieber Herr Regierender Bürgermeister! Ich weiß, dass Sie das persönlich auch so sehen. Aber Sie müssen sich fragen lassen, was Ihr Innensenator tut. Was tut er, damit rechtsextreme Straftaten und Bedrohungen schnellstmöglich ermittelt werden und dass die Opfer Schutz bekommen? Und last, not least: Tut er wirklich alles, damit das erneute NPD-Verbotsverfahren nicht gefährdet wird? – Es wird Sie sicher nicht beruhigen, wenn ich Ihnen sage, dass der Innensenator bisher nicht den zweifelsfreien Nachweis erbracht hat, dass in den Führungsstrukturen der NPD keine V-Leute mehr unterwegs sind, wie es das Bundesverfassungsgericht gefordert hat. Wir wüssten übrigens auch ganz gern, was der Innensenator vorhat, um Provokationen von Nazis am Kapitulationsmuseum in Karlshorst oder jetzt am 9. Mai vor dem Reichstag zu verhindern.

Der deutsche Faschismus hat nicht wenige Flüchtlinge und Migranten produziert, und großartige Berliner wie Ernst Reuter, Willy Brandt, Bertolt Brecht oder Marlene Dietrich – diese nicht als Flüchtling, aber als Migrantin – waren dabei. Marlene Dietrich würde vielleicht heutzuta

ge als Fluchthelferin gelten, denn sie hat Flüchtlinge unterstützt. Das Asylrecht hielt als Lehre aus dem Faschismus Einzug ins Grundgesetz, aber Anfang der Neunzigerjahre hat der Bundestag quasi als Kapitulation vor dem Stammtisch das Asylrecht auf einen kümmerlichen Rest reduziert. Das zeigt sich jetzt ganz deutlich, da wieder mehr Menschen auf der Flucht sind. Unser neuer Ehrenbürger Michael Blumenthal, selbst als Kind geflohen – Sie, lieber Michael Müller, haben ihn dankenswerterweise mehrfach zitiert –, hat die Flüchtlinge als Schatz für die Gesellschaft bezeichnet, und er hat gesagt, dass Berlin, um diesen Schatz zu heben, auch mehr Geld in die Hand nehmen müsste. Recht hat der Mann.

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Herr Innensenator! Berlins neuer Ehrenbürger hat nicht gesagt: Ignoriert die Empfehlungen der Härtefallkommission! – so, wie Sie es bei zwei Dritteln der Fälle tun und gegen den humanitären Wunsch der Kommission abschieben. Wer vor Krieg, Verfolgung und Tod auf der Flucht ist, dem muss geholfen werden. Punkt!

[Beifall bei der LINKEN, der SPD, den GRÜNEN und den PIRATEN – Beifall von Andreas Gram (CDU)]

Wer es bis hierher schafft, dem muss ein Weg in ein normales Leben eröffnet werden. Alles andere ist inhuman und geschichtsvergessen. Leider ist der demokratische Konsens, den es bei den Vätern des Grundgesetzes zum Thema Flüchtlinge gab, löchrig geworden. Das ist ein trauriger Befund. Der 8. Mai sollte Anlass sein, auch darüber nachzudenken.

Vor 70 Jahren hat die Rote Armee unsere Stadt vom Faschismus befreit, und 89 Prozent der Deutschen betrachten den 8. Mai heute als Tag der Befreiung und nicht als Niederlage. Das ist schön. Wir sind sehr dankbar, dass Richard von Weizsäcker vor 30 Jahren mit seiner berühmten Rede diese Erkenntnis im Bewusstsein der bundesdeutschen Gesellschaft befördert hat. Herr Saleh! Das geschah damals nicht ohne Gegenwind. Der Mann musste sich in der bundesrepublikanischen Gesellschaft einiges anhören. Dass es heute einen solchen Konsens gibt – 30 Jahre danach –, ist die Errungenschaft einer ausführlichen Debatte, die der Mann angestoßen hat, und dafür noch mal danke!

[Beifall bei der LINKEN, den GRÜNEN und den PIRATEN – Beifall von Andreas Gram (CDU)]

Gleichzeitig ist es mehr als besorgniserregend, dass rechtsextreme Einstellungsmuster, dass Rassismus und Antisemitismus bis weit in die Mitte der Gesellschaft verbreitet sind. Wer es nicht glaubt, lese die aktuellen Studien. Auch deshalb sollte Berlin dem Beispiel von Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Thüringen

folgen und den 8. Mai als Tag der Befreiung zum Gedenktag machen.

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN]

Noch haben wir das Glück, Zeitzeugen hören zu können – Überlebende des Holocaust, Menschen, die Widerstand geleistet haben. Es werden leider von Jahr zu Jahr weniger. Frau Pop hat es schon angesprochen. Um die Erinnerung daran, was den Ereignissen vorausging, wachzuhalten, ist es manchmal auch notwendig, Gedenken zu institutionalisieren. Wir haben der Zeitung entnehmen können, dass es jetzt endlich in der Stadt eine politische Mehrheit dafür gibt, den Tag der Befreiung zum Gedenktag zu machen. Nach 70 Jahren – und 30 Jahre nach der Weizsäcker-Rede – wird es endlich Zeit. Liebe CDU! Geben Sie sich einen Ruck, stimmen Sie unserem Antrag zu! – Danke schön!

[Beifall bei der LINKEN und den PIRATEN – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN]

Vielen Dank! – Für die CDU-Fraktion hat jetzt der Kollege Gram das Wort. – Bitte schön, Herr Kollege!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich wurde im Jahre 1955 geboren und bin somit kein Zeitzeuge für Deutschlands dunkelstes geschichtliches Kapitel. Vielmehr bin ich in den Genuss der von Helmut Kohl so zutreffend beschriebenen Gnade der späten Geburt gekommen. Dennoch rufen früheste Kindheitserinnerungen Bilder der Zerstörung in mir hervor. So waren einige Häuser in meiner Nachbarschaft noch vom Krieg schwer beschädigt und wurden erst im Laufe des Wirtschaftswunders nach und nach wieder aufgebaut. Wir spielten als Kinder noch auf Grundstücken, auf denen Trümmer lagen. Natürlich stellten sich mir damals wie heute immer drängendere Fragen nach dem Warum.

Es waren meine Eltern, die versuchten, mir kindgerecht die Schrecknisse jener Zeit zu erklären, und je älter ich wurde, desto klarer wurde mir, wie sehr Deutsche, angestiftet zur Barbarei durch das Böse schlechthin, Schuld auf sich geladen hatten. Mein Elternhaus versuchte nicht, etwas zu beschönigen, zu relativieren oder zu beschwichtigen, wofür ich ihm bis zum heutigen Tag dankbar bin. Für meine Eltern war es unendlich wichtig, meinen Geschwistern und mir eine Zukunft in Freiheit und Frieden zu ermöglichen und an dem Aufbau eines demokratischen Deutschland mitzuarbeiten. Es war auch die Zeit meiner politischen Prägung.

Heute nun wird mir die Aufgabe zuteil, meine Sicht zum 8. Mai kundzutun. Ich werde gar nicht erst erwägen, Richard von Weizsäckers Jahrhundertrede vom 8. Mai

1985 zu kopieren oder zu versuchen, es ihm gleichzutun. Mit dieser Rede hat er Maßstäbe gesetzt, Missverständnisse ausgeräumt und Deutschland eine Stimme zur Formulierung seiner geschichtlichen Verantwortung verliehen. Allen Relativierern und Beschwichtigern hat er den Wind aus den Segeln genommen, ja, er hat die Maste gekappt.

An dieser Stelle hat am letzten Samstag Bundesaußenminister Steinmeier eine nachdenkliche Rede zum 8. Mai und seinen Folgen gehalten. Im Zentrum stand für ihn das „Nie wieder“. Nie wieder darf von deutschem Boden Krieg ausgehen. Das ist ein Satz, den ich vollständig teile, den ich aber als Lehre aus der Nazi-Barbarei für alle Völker verstanden wissen will. Der 8. Mai 1945 hat für unser Land und letztlich auch für Europa die einmalige Chance eröffnet, in Wohlstand, Frieden und Freiheit zu leben. Ehemalige Feinde haben uns die Hand zur Versöhnung gereicht, und viele Völker haben die Chance zum Frieden und Wohlstand genutzt, wenngleich ich nicht verhehle, dass sich noch vieles zum Besseren wenden kann.

Gerade Berlin als Ort der einstigen Demarkationslinie zwischen den Weltblöcken hat die Aufgabe angenommen, die Erinnerung an ein Jahrhundert der Kriege, des Friedens und der Wiedervereinigung wachzuhalten.

[Beifall bei der CDU und der SPD – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Gerade in Berlin mit einem gelebtem Miteinander Hunderttausender Bürger mit Wurzeln in Frankreich, Großbritannien, Russland und den USA gab es viele Zeitzeugnisse der gemeinsamen Geschichte, und diese blieben erhalten und werden durch viele Institutionen und Organisationen tagtäglich mit Leben erfüllt.

Dennoch grenzt es an ein Wunder – und hier darf ich noch einmal Steinmeier zitieren –, dass eine solche Entwicklung stattfand, ein einmaliges Vorkommnis in der Geschichte, vor allem darin zu sehen, dass Deutschland und Israel heute enge Freunde sind. Deutschland ist zurück in der Gemeinschaft der zivilisierten Völker, und das, meine Damen und Herren, ist ein großes Glück.

[Allgemeiner Beifall]

Es gebührt an dieser Stelle großer Dank an Michail Gorbatschow, George Bush Senior und Helmut Kohl, dass und wie sie den Weg zur deutschen Einheit ebneten. Das ist eine wirklich große politische Leistung, die nicht zuletzt deshalb zustande kam, weil die Angst vor einem wiedererstarkten Deutschland der Gewissheit wich, dass Deutschland wieder zutiefst demokratisch und deshalb friedlich ist.

Freundschaft bedeutet, weitgehend zu verzeihen, jedoch nicht zu vergessen. Sich seiner Geschichte zu stellen heißt auch, sich nicht aus der historischen Verantwortung zu stehlen. Es klingt fast abgedroschen, aber es kann

(Udo Wolf)

nicht oft genug betont werden, bis es der letzte begreift. Ein Volk und ein Staat, die sich ihrer Werte bewusst sind und diese verteidigen wollen, müssen sich auch klar zu den dunklen Kapiteln ihrer Geschichte bekennen. Nur so können Demokratie und Stabilität erhalten bleiben und immer wieder neu erkämpft werden.

[Allgemeiner Beifall]

Niemals darf das Gedenken an die Millionen ermordeter und gepeinigter Menschen, Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle und andere Minderheiten sowie an die unzähligen Kriegstoten und Opfer von Vertreibung erlöschen. Es ist unendlich wichtig, dass dies bereits an vielen Gedenktagen so geschieht. Das ist ein sichtbares Zeichen für die Auseinandersetzung mit der Geschichte. Ich weiß, dass das viele nicht als genug erachten, aber will auch zum Ausdruck bringen, dass in Deutschland meines Erachtens sehr viel geleistet wird, was die Erinnerungskultur angeht.

Richard von Weizsäcker hat in seiner Rede anklingen lassen, dass Deutsche nicht das Büßerhemd überstreifen müssen, schon gar nicht die Nachgeborenen, aber historische Verantwortung haben uns die Täter aufgebürdet, ob wir das wollen oder nicht, und die müssen wir wahrnehmen.

[Allgemeiner Beifall]

Natürlich war der 8. Mai ein Tag der Befreiung, in jedem Fall für diejenigen, die danach ein wirklich demokratisches Deutschland und Europa aufbauen und erleben konnten. Diejenigen, die in erster Linie durch Hitlers Aggressionskrieg verursacht letztlich in der kommunistischen Zwangsherrschaft in der DDR und anderen Ländern Europas leben mussten, werden die Wirkung dieses Tages vielfach anders beurteilen. Ich werde nicht beide Diktaturen vergleichen, sie haben Gemeinsamkeiten und Unterschiedlichkeiten, und unbestritten war der NaziTerror einmalig grausam, aber auch die Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Unrecht und der damit verbundenen Unfreiheit gehört zur geschichtlichen Wahrheit und ist Aufgabe der Aufarbeitung.

[Allgemeiner Beifall]

Es besteht daher keine Notwendigkeit für einen neuen und damit weiteren gesetzlichen Gedenktag in der Bundesrepublik Deutschland. Insbesondere vor der historischen Teilung der deutschen Staaten und der Tatsache, dass die Bewohner der ehemaligen DDR erst ab 1989 die Chance erhielten, eine Demokratie aufzubauen, erscheint dies nicht schlüssig.

Dank des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog gedenken wir ferner am 27. Januar der Opfer des Nationalsozialismus. Im Besonderen ist es der Gedenktag zur Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und nachfolgend aller anderen Lager, in denen so unvorstellbares Leid Millionen Menschen zugefügt worden war. Hier begann nicht die Befreiung von Schuld und Verantwor

tung, sondern die Befreiung von Leid, bestialischer Unmenschlichkeit und Tod. Seit 2008 folgt übrigens die internationale Staatengemeinschaft diesem Beispiel weltweit.

Was nun lehrt uns heute der 8.Mai 1945? – Ich bin dankbar dafür – und für einen gewissen Zeitraum bin ich nun Zeitzeuge –, dass ich in einem freien und demokratischem Deutschland aufwachsen durfte, in dem Verfassung und Verfassungswirklichkeit doch sehr eng beieinander liegen. Ich bin unendlich froh, dass es der Nachkriegsgeneration gelang, ein unabhängiges Justizsystem zu schaffen, in dem es auch möglich ist, sich gegen etwaiges staatliches Unrecht zur Wehr zu setzen. Rede- und Gedankenfreiheit garantiert das Grundgesetz sogar für seine Gegner, von einer weltweit einzigartigen Pressefreiheit ganz zu schweigen.

Gerade deshalb dürfen wir Tendenzen von Rassismus und Antisemitismus in unserem Land nicht ignorieren oder kleinreden. Feinden der Demokratie, die versuchen, gewählte Repräsentanten oder staatliche Autoritäten zu bedrängen oder verächtlich zu machen, verdienen nicht Toleranz, sondern müssen mit allen Mitteln, die dem Rechtsstaat zur Verfügung stehen, in ihre Schranken gewiesen werden.

[Allgemeiner Beifall]

Hier müssen wir unsere Stimmen erheben und gegebenenfalls auch politisch und rechtlich standfester handeln. Ich will nicht erleben, dass Juden in diesem Land wieder in zunehmendem Maße ungestraft beschimpft und attackiert werden.