Protocol of the Session on June 13, 2013

Herzlichen Dank, Herr Kollege Goiny! – Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen erteile ich jetzt dem Kollegen Esser das Wort. – Bitte sehr, Herr Kollege!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Stimmt der Zensus, oder stimmt er nicht?

[Uwe Doering (LINKE): Wat denn nun?]

Darüber könnten wir uns jetzt stundenlang die Köpfe heiß reden. Herr Goiny hat es schon gesagt: Der Senat will prüfen, ob die Erhebung methodisch auch allen Gesetzesvorgaben entsprochen hat. – Nur zu, sagen wir! Prüfen Sie! Wenn Sie da was finden, ohne gleich bis zum Europäischen Gerichtshof laufen zu müssen, kann das ja nicht schaden. Für heute bleiben wir aber besser beim unmittelbar Praktischen.

Bis auf Weiteres gilt wohl: Berlin hat ein paar Einwohner weniger als angenommen, wächst etwas weniger schnell als von manchen erhofft und erhält in den nächsten Jahren weniger Geld als gedacht. Ist jetzt hier jemand im Saal, der deswegen in tiefe Depressionen verfällt? Dann soll er sich melden. Die meisten sind eh draußen und haben das abgehakt. Wir Grünen gehören jedenfalls nicht zu denen, die deswegen den Glauben an die Zukunft Berlins verlieren.

[Beifall bei den GRÜNEN]

Ja, Herr Finanzsenator! Auch haushaltspolitisch bringt der Zensus mich nicht so richtig aus der Fassung. Da haben wir ganz anderes hinter uns. Die neue Finanzverteilung schränkt unseren Ausgabenspielraum ein, aber sie ist auch keine Zäsur, die eine Rückkehr in die heroischen Zeiten der Haushaltssanierung vor 2007 erfordert. Die wäre auch gar nicht mehr wiederholbar.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN]

Der gute Herr Nußbaum ist dennoch in der letzten Woche durch die Stadt getingelt und hat am ersten Tag Blut, Schweiß und Tränen samt Haushaltssperre heraufbeschworen, um dann nach zwei Tagen kritischer Nachfragen zuzugeben, dass er die von ihm auf 940 Millionen Euro bezifferten Spätfolgen des Zensus auch ohne weitere Einsparungen aus dem Haushalt 2013 bezahlen kann. Die Folge ist: Im Augenblick steht die Öffentlichkeit ratlos vor der Frage, ob Herr Nußbaum demnächst heftig sparen muss oder im Geld schwimmt, und darf sich was aussuchen. Zu dieser blamablen Vorstellung hat der Kollege Udo Wolf zu Recht von Voodoo-Zahlen gesprochen. Und ich habe gesagt, der Finanzsenator sei eine durch die Stadt wandelnde Desinformationsagentur.

[Beifall bei den GRÜNEN – Vereinzelter Beifall bei der LINKEN – Beifall von Heiko Herberg (PIRATEN)]

Denn es ist ja in der Tat ein Problem, wenn der Finanzsenator unserer Stadt, dem von der Verfassung die strikte Beachtung von Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit aufgetragen ist, die Öffentlichkeit im Stich lässt, statt sie zu orientieren. Aber Sie haben ja gleich die Gelegenheit, das nachzuholen.

(Christian Goiny)

Der Kollege Schneider hat da ja mit dem Satz assistiert, es bliebe nun in der Haushaltspolitik kein Stein mehr auf dem anderen.

[Torsten Schneider (SPD): Nee! Ich habe gesagt: kein Auge mehr trocken!]

Nun gucken Sie doch mal, lieber Kollege Schneider: Die Augen sind noch trocken, und es sind noch alle Steinchen da, fein säuberlich aufeinander geschichtet. Grundstein sind 600 Millionen Euro Steuermehreinnahmen. Die sind unter Haushältern wohl unstrittig. Dazu kommen rund 300 Millionen Euro weniger Zinsausgaben als veranschlagt. Das dürfte unter Haushältern ebenfalls unstrittig sein, auch wenn Herr Nußbaum in Pressekonferenzen nur 100 Millionen Euro davon zugibt. Das ist halt Herr Nußbaum! Zusammen macht das 900 Millionen Euro, und die Zensusrückzahlung ist fast schon aus dem Bunker bezahlt.

Aber es sind ja noch weitere Steinchen da: unterschlagene Kommunalentlastungen durch den Bund, Einsparungen aus dem Thema alter sozialer Wohnungsbau in erheblicher Größe, dazu nicht veranschlagte EU-Mittel, Mehrreinnahmen vom Liegenschaftsfonds, die üblichen Kostenunterschreitungen etwa beim Personal plus die wie immer liegengebliebenen Investitionen. Am Ende haben wie so Stein für Stein fast 1,5 Milliarden Euro zusammen und sind einer roten Null in diesem Jahr schon ziemlich nahe.

Wir Grünen machen gern dabei mit, den Haushalt vorsichtig zu planen, damit für die unvorhersehbaren Wechselfälle des Lebens etwas in der Kasse ist. Aber heimlich milliardenschwere Bunker anzulegen und die Öffentlichkeit darüber hinwegzutäuschen, das muss hier in der Berliner Politik ein Ende haben!

[Beifall bei den GRÜNEN und der LINKEN – Vereinzelter Beifall bei den PIRATEN]

Erfreulicherweise kommt jetzt auch aus den Fraktionen von SPD und CDU die Forderung nach Kassensturz und einer wahrheitsgemäßen Finanzplanung. Da rennen Sie bei uns offene Türen ein. Ja, wir brauchen einen Kassensturz, aber nicht irgendeinen. Wir brauchen einen ehrlichen und wahrhaftigen Kassensturz, der Nußbaums Zahlensalat ein Ende setzt und zu Einnahmen und Ausgaben führt, die realistisch veranschlagt sind.

Nun wird uns vom Senator gestern gesagt: Leute, macht euch da mal keine Sorgen. Wir liefern ja den üblichen Statusbericht zum 30. Juni. – Da wird mir angst und bange. Denn da erinnere ich mich, wie eingangs Frau Pop, an das letzte Jahr. Da kam auch ein Statusbericht zum 30. Juni, der zum Jahresende ein Defizit von 807 Millionen Euro prognostizierte. Und was passierte dann, nur ein halbes Jahr später? – Da hatte sich das Defizit in einen Überschuss von 671 Millionen Euro verwandelt. Das ist eine Verbesserung um sage und schreibe 1,478 Milliarden Euro. Deshalb sollte sich niemand allzu

sehr wundern, wenn wir auch dieses Jahr ähnlich gut abschneiden.

Damit sind wir beim Thema einer ehrlichen Haushaltsplanung für die Zukunft. Es ist ja klar, dass jetzt mittelfristig Geld fehlt, ob das nun 450 oder 350 Millionen Euro werden, lassen wir mal dahingestellt. Fest steht: Die Wegstrecke, die bis 2020, dem Jahr der Schuldenbremse, vor uns liegt, wird nach dem Zensus holpriger. Aber wir gehen auf diese Strecke – wie gezeigt wurde – mit etwas Speck. Wir starten da nicht ausgemergelt und fast verhungert, sondern wir haben etwas zuzusetzen. Und wenn wir dazu, liebe CDU, noch die Grunderwerbsteuer erhöhen und die City-Tax einführen, wird die Wegzehrung noch etwas größer. Genug Verpflegung ist da. Die werden wir auch brauchen, denn es sind ja bedeutsame Fragen in der Stadt ungelöst.

Wir müssen den Verfall der Infrastruktur stoppen. Wir müssen die Energiewende auch in Berlin endlich auf den Weg bringen.

[Beifall bei den GRÜNEN]

Wir brauchen eine soziale Wohnungspolitik, wie in anderen deutschen Städten längst üblich. Wir dürfen unsere Beamten nicht schlechter behandeln als unsere Angestellten. Wir müssen unsere Krankenhäuser und unsere Hochschulen leistungsfähig halten, und wir können es uns ganz bestimmt nicht leisten, auf Investitionen in Bildung und Chancengerechtigkeit für alle unsere Kinder zu verzichten.

[Beifall bei den GRÜNEN]

Das geht dann nicht alles auf einmal. Wir müssen unsere Ausgaben an den Einnahmenpfad anpassen, der uns zur Verfügung steht. Das muss man Grünen nicht erklären. Aber eines muss endlich aufhören: Milliardenschwere Einnahmen verschweigen und für die eigenen, zumeist sozialdemokratischen Zwecke bunkern und alle anderen Anliegen mit Verweis auf die Haushaltsnotlage oder den bösen Zensus abbügeln, diese demokratiefeindliche Methode haben Sie in unseren Augen schon viel zu lange praktiziert.

[Beifall bei den GRÜNEN]

Politisch ist diese Methode nämlich ein Angriff – ein Angriff auf die Vielfalt in unserer Stadt mit ihren vielfältigen Bedürfnissen. Sie folgt dem Motto: Alleine wir von der SPD wissen, was gut für die Stadt ist, und dulden da nichts neben uns – ungern eine andere Meinung und auf gar keinen Fall Haushaltsmittel für Bedürfnisse, die nicht die unsrigen sind. Nur ein Argument scheuen Sie deswegen wie der Teufel das Weihwasser, irgendjemandem offen und ehrlich zusagen: Ihr kriegt kein Geld, weil wir das nicht wollen. Da verstecken Sie sich lieber hinter Haushaltsnotlage, Zensus und falschen Finanzplanungen. Ich finde, Sie haben die Bevölkerung lange genug an der Nase herumgeführt.

Wir haben in Berlin alle miteinander ein Stück Normalisierung der Haushaltslage erreicht. Das zieht logischerweise eine Normalisierung der Haushaltsdebatte nach sich. Alle Fraktionen – auch die SPD – werden in Zukunft auch in Berlin ihre politischen Prioritäten offenlegen und begründen müssen – wie in anderen Landesparlamenten oder im Bundestag auch. Das nennt man Transparenz und demokratischen Wettbewerb. In dem Sinne freuen wir uns mit Ihnen auf die Haushaltsberatungen nach den Sommerferien. Erholen Sie sich gut, sie werden es brauchen!

[Beifall bei den GRÜNEN– Vereinzelter Beifall bei der LINKEN – Beifall von Heiko Herberg (PIRATEN) und Gerwald Claus-Brunner (PIRATEN)]

Danke schön, Herr Kollege Esser! – Für die Fraktion der SPD erteile ich jetzt dem Kollegen Schneider das Wort. – Bitte, Herr Kollege Schneider!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vielen Dank für die Vorschusslorbeeren. Wir haben eine Rede vom Kollegen Esser gehört, die ich als rückwärtsgewandt begreife, weil sie nicht in die Zukunft projiziert. Sie haben den Glauben an Berlin nicht verloren, wir wollen Berlin auch in der Zukunft gestalten.

[Dr. Manuela Schmidt (LINKE): Sie verwechseln da was!]

Das ist das, was uns von Ihnen unterscheidet.

[Beifall bei der SPD]

Hier erleben wir gerade einen rhetorischen Kunstgriff, nämlich die Behauptung: Es sind überschüssige Gelder da, und seht ihr, wir, die Grünen, die Opposition, wussten es sowie so besser. –, um die Debatte zu verstellen und sich zu ersparen, wie man die Antwort auf die drängenden Zukunftsfragen formuliert. Das ist eine altbekannte Methode.

Deswegen möchte ich auch gern über die Zahlen reden. Wir haben im Hauptausschuss über die Steuerschätzung 2012 eine offene Debatte geführt, wie wir mit den prognostizierten Steuermehreinnahmen von 206 Millionen Euro verfahren. Der Senat hat zur Vorsicht gemahnt, denn die von uns auch in den Blick genommene Alternative, die Neuverschuldung zu senken, wäre eine Möglichkeit gewesen. Es war der Senat, der hier mit Blick auf den Zensus ausdrücklich gesagt hat: Das werden wir noch brauchen. – Wenn ich jetzt sehe, wie sich die Prognosen verstärkt haben, werden wir aufgrund dieser klugen Senatsvoraussicht eine Punktlandung hinlegen. Das ist die Wahrheit.

[Vereinzelter Beifall bei der SPD – Joachim Esser (GRÜNE): Sage ich doch!]

Das, was jetzt passiert, ist die Offenlegung von strategischen Reserven, und das ist völlig bekannt – jedem Finanzpolitiker.

[Lachen bei den GRÜNEN und den LINKEN]

Das sind die gerade von mir angesprochen 206 Millionen Euro Steuermehreinnahmen. Wir wissen, dass wir im Zinstitel – ich glaube nicht, dass es 300 Millionen Euro werden, ich glaube, da trifft eher die Prognose des Senats zu, ich rechne mit 170 Millionen Euro – eine stille Reserve haben.

[Udo Wolf (LINKE): Strategische Reserve!]

Herr Kollege Wolf! Kluge, vorausschauende Politik kann nur der Ahnungslose für Zauberei halten, das muss ich Ihnen auch einmal sagen.

[Zurufe von der LINKEN]

Na, ob das nun Voodoo geheißen wird oder Zauberei. – Wir haben von vornherein mit Blick auf die Risiken im Haushalt Vorsorge getroffen. Wir werden, wenn wir großes Glück haben, ohne eine Neuverschuldung, ohne einen Nothaushalt und ohne eine Haushaltssperre auskommen. Das wäre die Alternative gewesen, wenn wir diese Reserven verbraucht, konsumiert hätten. Das wäre Ihr Weg gewesen. Dann hätten wir heute das Chaos und den Nothaushalt. Das muss man dann einmal klar so aussprechen.

[Beifall bei der SPD und der CDU]

Was jetzt allerdings im Jahr 2013 passiert, ist kein Haushalt auf Kante, sondern ein Haushalt auf der Rasierklinge. Deswegen kann auch keiner sicher sagen, dass man ohne haushaltswirtschaftliche Maßnahmen für die restliche Legislaturperiode wird aussteuern können. Das drängendere Thema jenseits Ihres rhetorischen Kunstgriffes, die Veranschlagung in der Vergangenheit zu thematisieren, ist die Gestaltungsvielfalt in der Zukunft.

[Joachim Esser (GRÜNE): Ja, eben! Da wollen wir die Reserve ein bisschen angreifen!]

Da liegen doch die Dinge, die Risken, Herr Kollege Esser, so handgreiflich auf der Hand, dass ich gar nicht verstehe, dass Sie das gar nicht thematisieren. Wenn wir die Personalkosten – was wir alle wollen, übrigens auch die SPD sieht da deutlichen Justierungsbedarf und zwar ausdrücklich auch bei den Beamten – nur mit 2 Prozent linear fortschreiben – ich kenne niemand in diesem Haus, der eine tiefere Prognose ansetzt –, dann zahlen wir in sieben Jahren 1 Milliarde Euro für Personal mehr als jetzt. Das ist die Realität. Das prognostizierte Zinsrisiko, und zwar nach allen finanzpolitischen Instrumenten der Messung, die ich je gehört habe, beträgt eine weitere Milliarde Euro – das ist noch nicht einmal das WorstCase-Szenario –, ohne dass es irgendeiner Mehrver

(Joachim Esser)