Für die Besprechung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redebeiträge aufgeteilt werden kann. Es beginnt die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. – Herr Kollege Lux, Sie haben das Wort.
Vielen Dank! – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Vor einem Jahr sind die grausamen Verbrechen des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds rund um die Terrorzelle Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt bekannt geworden. Über die Dauer von gut einem Jahrzehnt exekutierten sie insgesamt zehn Mitbürgerinnen und Mitbürger, sprengten Bomben, verübten viele Banküberfälle und unterstützten die gewaltbereite rechtsextreme Szene. Das taten sie im Verborgenen, aber doch am helllichten Tag vor den Augen der Öffentlichkeit, teilweise vor den Augen der Sicherheitsbehörden selbst.
Seit einem Jahr, angesichts dieser beispiellosen rechtsextremen Mordserie, sind die Grundfesten der Bundesrepublik Deutschland erschüttert. Unser Land wollte allen Menschen Sicherheit geben und zumindest die Straftaten an ihnen zielstrebig und konsequent verfolgen. Stattdessen wurden Verfehlungen der Sicherheitsbehörden in erschreckendem Ausmaß deutlich. Sie fangen damit an, dass man zunächst das Umfeld der Opfer, die fast alle einen Migrationshintergrund hatten, verdächtigte. Immer mehr Umstände werden bekannt, die einem den gruseli
gen Eindruck vermitteln, wie nah der Verfassungsschutz oder der polizeiliche Staatsschutz am Umfeld der Zelle dran war, ohne es zu merken.
Es sind nicht nur Hinweise auf die Terrorzelle verschwunden oder falsch bearbeitet worden, es wurden in den Behörden selbst auch Akten oder Informationen, es wurde widerrechtlich das vernichtet, was für die Aufarbeitung notwendig gewesen wären. Das darf sich nie wieder wiederholen.
Das Abgeordnetenhaus von Berlin hat sich in seiner Entschließung vom 23. November 2011 zu seiner Verantwortung für ein Zusammenleben frei von Bedrohung und Rassismus bekannt und den Hinterbliebenen der Mordopfer die Aufarbeitung der menschenverachtenden Taten versprochen. Heute müssen wir feststellen, dass das Vertrauen in die Sicherheitsbehörden des Landes Berlin noch mehr in Frage steht, auch, weil der Innensenator die gebotene parlamentarische Aufklärung behindert hat und damit dem Ansehen des Landes Berlin Schaden zugefügt hat.
Erst im September 2012 wurde auf öffentlichen Druck hin bekannt, dass das Berliner Landeskriminalamt zwölf Jahre einen mutmaßlichen Helfer des Nationalsozialistischen Untergrunds als V-Person, als Spitzel, führte, der im Jahr 2002 auch Hinweise lieferte, die zum Aufenthalt der Terrorzelle hätte führen können. Der Senator für Inneres und Sport wusste hiervon bereits seit Anfang März, unterrichtete aber über ein halbes Jahr lang nicht zu der V-Person Thomas S., obwohl der Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags ihn mehrmals dazu rechtlich verpflichtet hat. Herr Senator! Sie unterrichteten auch das Abgeordnetenhaus über ein halbes Jahr lang nicht.
Vor Kurzem wurde bekannt, dass einschlägige Akten des Verfassungsschutzes am 29. Juni 2012 vernichtet worden sind. Es waren Akten, die Aufschluss über das Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrundes hätten liefern können. Auch hiervon berichtete der Senator nicht umgehend, obwohl er nach dem Bekanntwerden der V-PersonGeschichte mehr Sensibilität versprochen hat. Der Senator versäumte es darüber hinaus, einen Vernichtungsstopp für sämtliche Vorgänge mit rechtsextremem Bezug zu verhängen. Auch das darf sich nie wieder wiederholen.
Auch wenn Sie, Herr Senator, und die Koalitionsfraktionen heute vielleicht meinen werden, das Thema sei abgeräumt, selbst wenn es einen Teil der Öffentlichkeit nicht mehr so interessiert wie zu dem Zeitpunkt, als es richtig heiß war, werden wir Grünen und auch weitere Teile der Opposition die Fragen weiter stellen, und seien es immer
die gleichen, bis wir zufriedenstellende und umfassende Antwort bekommen haben und der Berliner Senat zumindest den Eindruck macht, sensibel und klug seine Schlüsse aus der rechtsextremen Mordserie zu ziehen.
Der Innensenator scheint damit überfordert zu sein. Deswegen stehen wir heute nicht nur vor dem Aufklärungsversagen in Sachen NSU, das Sie, Herr Innensenator, angerichtet haben. Wir stehen auch vor der Frage, was in einem Jahr als CDU-Innensenator getan wurde: Wie ist es um die Sicherheit in der Stadt insgesamt bestellt? Gemessen an Ihren Erwartungen, Herr Innensenator, müssen wir auch heute feststellen, dass Berlin nicht sicherer geworden ist. Sie haben sich nicht um die Sorgen und Nöte der Menschen gekümmert, die sich in bestimmte Ecken der Stadt zu einer bestimmten Tageszeit nicht trauen, obwohl Sie es versprochen haben.
Können Sie nach einem Jahr im Amt den einfachen Berlinerinnen und Berlinern, zu deren Heilsbringer Sie sich aufschwingen wollten, noch in die Augen schauen, Herr Innensenator? Wie ist es um die Berliner Polizei bestellt? Hat es die Berliner Polizei verdient, der vor der Wahl noch so einiges bis alles versprochen wurde, hat sie nur eine Stelle mehr? Hat der Berliner Polizist im Vergleich zu seinen Kollegen im Bundesgebiet auch nur einen Euro mehr in der Tasche, obwohl Sie es versprochen haben? Sind die Zehntausende von Überstunden nicht nur beim Objektschutz auch nur um eine Stunde gesunken? Haben die Ermittlerinnen und Ermittler auch genug Personal und Know-how, um gesuchte Tatverdächtige aus dem Ausland auch wiederzuholen oder andere ungeklärte Verbrechen aufzuarbeiten? Wie ist es um die Bekämpfung der Kriminalität in dieser Stadt bestellt? Herr Innensenator! Sie machen nicht einmal den Eindruck, als hätten Sie aus den Informationspannen rund um Rockerrazzien und Rohrbomben etwas gelernt. Sie vertrauen den Sicherheitsbehörden und den Sprechzetteln Ihrer Untergebenen blind, aber das, Herr Innensenator, ist keine starke Leitung, sondern Ausdruck Ihres Versagens, Ihrer Leistungsverweigerung.
Nicht nur im Großen, sondern auch bei vermeintlich kleinen Problemen stellen sich täglich neue Fragen, und Sie geben ein zumindest widersprüchliches Bild ab. Gestern haben Sie den Ehrenamtlichen von Freiwilliger Feuerwehr und Katastrophenschutz zu Recht ein Abzeichen für ihr Engagement verliehen. Aber haben die Leute der Freiwilligen Feuerwehr die Gewissheit, dass sie weiterhin vom Land Berlin von der Schule für Feuerwehr ausgebildet werden, Herr Innensenator? Wo sind Sie, wenn vor Ort Wachen und Abschnitte dichtgemacht werden? Verteilen Sie dann weiter Ehrenzeichen? Kümmern Sie sich darum, dass vor Ort die Lage der Sicherheit nicht ausgedünnt wird? Was sagt also ein Innensenator, der Law and Order versprach, aber keine Kraft hat für nur eine einzige Maßnahme, für mehr öffentliche Sicherheit?
Wir Grünen haben Ihr Null-Toleranz-Gerede nie ganz für voll genommen, wenn Sie schwadronierten und dem damaligen SPD-Innensenator vorwarfen, er würde nichts gegen Autobrandstiftungen und Gewalt tun. Wir sind erschüttert von Ihrer Tatenlosigkeit und Lähmung. An Ihren Taten wollten wir Sie messen. Solange Sie aber nichts auf der Haben-Seite zu verbuchen haben, müssen wir Sie noch an Ihren Worten messen, die Sie beispielsweise noch vor etwas mehr als einem Jahr während der Plenarsitzung zum Besten gaben, in der Sie null Toleranz gegen Kriminalität statt Ignoranz für die Betroffenen versprochen haben. Sie selbst haben viel Toleranz beim Aktenvernichten und darin, dass brisante Infos in Ihren eigenen Reihen nicht weitergegeben werden. Eines ist heute auch klar: Es sind nicht nur Linke, Grüne und Piraten, die ein Problem mit Ihnen haben. Es ist auch der ganz normale Berliner, die ganz normale Berlinerin, die sich auf funktionierende Behörden verlassen wollen. Auch die sind von Ihnen enttäuscht, Herr Innensenator.
Wenn Flüchtlinge am Pariser Platz auf ihre Situation aufmerksam machen, lassen Sie widerrechtlich jede Sitzpappe kontrollieren. Bei der Vernichtung von Akten über rechtsextreme Fälle in Ihrer Behörde nehmen Sie es nicht ganz so genau. Es passt ins Bild, Herr Bürgermeister und CDU-Vorsitzender Henkel, dass Sie ganz interessante Kameraden um sich geschart haben.
Bei einigen wie dem Sozialstaatssekretär Herrn Büge, der offen für völkische Burschenschaften eintritt, sind die Schmisse immer noch ganz frisch.
Der Sozialsenator sprach davon, dass mehr Asylbewerber in die Stadt kommen, weil die deutschen Sozialleistungen so hoch seien. Die CDU in Neukölln schafft es nicht, sich von der NPD abzugrenzen. Herr Kollege Dregger darf hier beseelt seine völkischen Träume träumen, und Herr Juhnke vergleicht die Aufklärer der NSU-Mordserie mit Brandstiftern.
Der Fraktionsvorsitzende der CDU nimmt es mit Promotionsregeln nicht so genau. Ich frage Sie, Herr Henkel, wie viel Toleranz, wie viel organisiertes Wegsehen dulden Sie in den eigenen Reihen? Wie viel genehmigen Sie sich selbst? Während Sie den Berlinerinnen und Berliner null Toleranz verordnen wollen, sind Sie die Großzügigkeit in Person, wenn es um eigene Verfehlungen geht. Das ist also Ihre moderne Großstadt-CDU in einer stabilen Koalition. Nicht einmal in den Achtzigern wäre man so dreist gewesen, diese Selbstetikettierung und diesen Selbstschwindel zu dulden.
Wir finden, dass die Stadt einen Innensenator verdient hat, der für die öffentliche Sicherheit seriös arbeitet und keine falschen Erwartungshaltungen wecken darf, einen Innensenator, der Freiheits- und Bürgerrechte in dieser Stadt achtet, der auch kritische Fragen stellen kann und der unsere Hauptstadtpolizei auch von manchen sinnlosen Aufgaben befreit. Wir brauchen eine kritischere innere Führung, die nicht wie Sie alles kalt weglächelt, sondern anpackt, auch wenn es Missstände in den eigenen Reihen gibt. Und wir wollen mehr Frauen in den Führungspositionen und nicht deren Verschleiß.
Nach alledem kann ich nur sagen: Berlin hat kein Vertrauen in Ihre Amtsführung. Sie beschädigen das Amt des Innensenators! Sie haben nichts für die öffentliche Sicherheit getan und bei der Aufklärung der NSUMordserie das Bild eines heillos überforderten Senators abgegeben. Wir haben kein Vertrauen mehr, dass Sie als Innensenator zum Wohle der Stadt agieren. Viel schlimmer noch: Sie haben in unserer Stadt das Vertrauen verloren. Wir sehen nicht, dass Sie noch in der Lage sind, diesen Vertrauens- und Ansehensverlust wiedergutzumachen. Herr Innensenator! Tun Sie sich und der Stadt das nicht länger an! Allen wäre geholfen, wenn Sie Verantwortung übernähmen und zurückträten.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Was war das gerade für eine Rede? – NSU, Aufarbeitung!
Ich habe den Eindruck, Herr Lux, das war eher eine Rede nach innen, an Ihre Fraktion gerichtet, damit Sie da überhaupt noch einen Zusammenhalt haben!
Ich möchte in meiner Rede auf drei Punkte eingehen. Das eine Thema ist die Vertrauenskrise, das zweite Thema ist das V-Leutewesen und das dritte ist die Frage der Verantwortung. Wir müssen in der Tat feststellen, dass nach der NSU-Mordserie in Deutschland eine massive Vertrauenskrise gegenüber den Sicherheitsbehörden des
Staates eingesetzt hat. Es gab fahrlässige Aktenvernichtungen seitens des Bundes und einzelner Bundesländer.
Sie haben auch zu Recht zum einen das Thema nach dem V-Mann Thomas S. angesprochen und zum anderen, was im Amt des Berliner Verfassungsschutzes in Bezug auf die Aktenvernichtung gelaufen ist. In der Tat werden hier – das will ich deutlich sagen, was das Land Berlin betrifft – Einzelfälle ein Stück weit generalisiert. Das mag so sein, das mag auch im politischen Geschäft so sein. Auf der anderen Seite muss man immer klar und deutlich machen: Das, was öffentlich geäußert wird – auch seitens verschiedener Institutionen bzw. auch von Opposition und anderen –, lässt Raum für Spekulationen, keine Frage. Es werden teilweise Behauptungen aufgestellt, die nicht belegt oder auch widerlegt werden können. Das ist die Situation, die wir hinsichtlich der Aufklärung NSUKomplex in Deutschland, aber auch im Land Berlin haben.
Ich möchte eins hinzufügen, Herr Lux: Man kann nur dann einen Vertrauensverlust haben, wenn man vorher auch Vertrauen in Sicherheitsinstitutionen hatte.
Zum Thema V-Leute möchte ich deutlich sagen: Wir Sozialdemokraten stellen nicht das Fundament der Sicherheitsarchitektur infrage, aber wir sehen erheblichen Bedarf bei der Frage: Es muss Veränderungen im Umgang mit der Vernichtung von Akten geben und in einigen Punkten mehr. Ich möchte nur zwei Beispiele nennen. Das eine sind die Richtlinien zur V-Mannführung – das ist ein Thema, das man sich ganz klar auch im Land Berlin noch einmal vornehmen muss – und zum anderen das sogenannte Wohnortprinzip von V-Leuten. Für mich ist es nicht verständlich, dass Berliner Beamte in Sachsen den V-Mann führen mussten. Da muss es ganz konkrete Veränderungen geben.
Ich möchte deutlich machen – weil das in der Öffentlichkeit immer durcheinandergewürfelt wird –: 80 Prozent der Erkenntnisse des Verfassungsschutzes stammen aus offenen Quellen, 20 Prozent stammen von verdeckten Quellen, und zwar von V-Leuten. Es ist immer der Spagat
zwischen der Information auf der einen Seite und, völlig richtig, der klaren Grenzziehung zu Straftaten und Straftätern. Das ist ein wichtiger Punkt in der Auseinandersetzung mit dem V-Leutewesen.