Liebe Frau Scheeres! Sehr geehrte Frau Dr. Tesch! Dieser Lobhudelei möchte ich gerne etwas entgegensetzen. Da müssen wir mal genauer hinschauen.
Seit 15 Jahren – Herr Statzkowski, nicht seit 20, wir müssen es korrigieren – stellt die SPD den Schulsenator.
Seit dem PISA-Schock Ende 2001 befindet sich Berlin immer ganz weit hinten in allen Bildungsvergleichen. Leider, sage ich ausdrücklich! Hier und heute stellen Sie
sich nun als Vorreiter in Sachen Chancengleichheit und Durchlässigkeit dar. Tatsache ist, spätestens seit 2001 reiten Sie der ganzen Bildungsrepublik hinterher. Und auch dazu sage ich: Leider!
Frau Scheeres! Bei Ihnen ging es um die Investition in frühkindliche Bildung – Bertelsmann-Stiftung. Ich möchte zwei Zitate aus einer dpa-Pressemitteilung zu diesem Thema nennen – erstens:
Berlin ist nach einer Studie der BertelsmannStiftung bundesweit Spitzenreiter bei den Ausgaben für seine Kindertagesstätten.
Über die Qualität der Erziehung sagen die Zahlen aber noch gar nichts aus. Investiert wird hier in die Quantität und in die Beitragsfreiheit.
[Beifall bei der FDP – Beifall von Emine Demirbüken-Wegner (CDU) – Zuruf von Dr. Felicitas Tesch (SPD)]
Schade, dass der Finanzsenator nicht mehr da ist! Und dann wird der Finanzsenator auch noch kritisiert, wenn er kontrollieren will, ob das Geld korrekt ausgegeben wird. Das ist nicht nur sein gutes Recht, das ist seine verdammte Pflicht und Schuldigkeit. Das zu skandalisieren, Frau Scheeres, das ist der eigentliche Skandal.
Kolleginnen und Kollegen der Koalition, hören Sie endlich auf, das Hohelied der Beitragsfreiheit und Quantität zu singen! Das hat mit Bildungsqualität nichts zu tun. Die eigentliche Frage muss lauten: Was soll eine möglichst flächendeckende frühkindliche Bildung und Betreuung leisten?
Ich beginne noch einmal: Was soll eine möglichst flächendeckende frühkindliche Bildung und Betreuung leisten? – Die Antwort lautet: Bessere Startchancen für die Kinder, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft. Doch Jahr für Jahr – und das nicht erst seit gestern oder vorgestern – nehmen wir zur Kenntnis – –
Sehr verehrte Frau Senftleben! Ich gebe Ihnen vollständig recht, dass Qualität wichtig ist, aber da Sie Qualität und Quantität in einen solchen Widerspruch zueinander stellen, geben Sie darüber Auskunft, an welcher Stelle Sie denn die Quantität im Bereich der frühkindlichen Bildung zurückfahren wollen, um mehr Qualität zu erreichen!
Sehr geehrter Herr Kollege Zillich! Es geht hier zunächst einmal darum, dass Sie sich hier ausschließlich dafür loben, dass Berlin viel Geld für frühkindliche Bildung ausgibt.
Das haben wir doch eben von Frau Scheeres und Herrn Zillich gehört. Sie loben sich über das Ergebnis der Bertelsmann-Studie, und das kritisiere ich.
Denn das ist das Lob für die Quantität und die Beitragsfreiheit. Und darum geht es nicht. Ich sage hier noch einmal deutlich, Herr Finanzsenator, schön, dass Sie da sind, es ist absolut richtig, es ist Ihre Pflicht zu kontrollieren, wohin das Geld geht. Es muss in die Quantität gehen, da gebe ich Ihnen recht. Aber vergessen wir die Qualität nicht! Die ist mindestens genauso wichtig.
Vielen Dank! – Ich würde jetzt gerne weitermachen, wir nehmen nämlich Jahr für Jahr Kenntnis, wenn es um Startchancen geht, rund ein Viertel aller angehenden Erstklässler spricht so schlecht Deutsch, dass es dem Unterricht nicht folgen kann. Und nach drei Jahren sieht das dann in einigen Schulen offenbar so schlecht aus, dass es Boykottdrohungen für bundesweite Vergleichsarbeiten gibt. Ich sage nur, die Debatte um VERA haben wir hier geführt. Der Grund dafür: Die Drittklässler, also diejenigen, die seit fast vier Jahren durch die bereits reformierte Berliner Bildungsinstitution marschiert sind, sie verstehen die Aufgaben nicht. Jetzt können Sie auch nicht auf die Stadtstaatenregelung verweisen, liebe Frau Dr. Tesch, Frau Scheeres!
Vor vier, fünf Jahren haben wir schon sämtliche Reformen, die hierfür notwendig sind, eingeführt. Und das Ergebnis ist gleich null. Das ist eine Katastrophe.
Dass wir uns mit diesem Ergebnis konfrontiert sehen, ist eine Katastrophe für die Kinder, Eltern und letztlich auch für unsere Stadt. Die braucht nämlich die gut ausgebildeten jungen Menschen. Darauf ist sie angewiesen, nicht auf künftige Hartz-IV-Karrieren, auf die sie dann aufbauen muss.
Nun schauen wir mal auf den KMK-Ländervergleich! Deutschkompetenzen der Berliner Neuntklässler, Lesekompetenz vorletzter Platz, Hörverstehen vorletzter Platz, Rechtschreibung viertletzter Platz im Bundesvergleich. Und das Schlimmste ist: Seit PISA geht es immer nur abwärts und nicht aufwärts. Also auch hier gibt es keinen Grund zum Jubeln, denn trotz hoher Investitionen, die hier kein Mensch abstreitet, sind die Ergebnisse völlig unzureichend. Aber Sie freuen sich ja ohne Ende auch noch mal zum Thema Chancengleichheit stolz wie Oskar, Herr Zillich, soeben, dass Berlin beim Übergang aufs Gymnasium nicht nach sozialer Herkunft selektiert. Das stimmt, das finde ich auch in Ordnung. Aber, Herr Zillich, Sie dürfen die Bedingungen nicht vergessen. Das sagt uns auch die Studie, denn die lautet: In Berlin wird nicht nach sozialer Herkunft selektiert, wenn die Schüler die gleichen Fähigkeiten mitbringen. – Verstehen Sie mich richtig! Ich trete vehement dafür ein, dass Kompetenzen über die Bildungskarriere entscheiden und nicht die soziale Herkunft.
Aber noch einmal: In Berlin wird nicht nach sozialer Herkunft selektiert, wenn die Schüler die gleichen Fähigkeiten mitbringen. Und dieses Wörtchen „wenn“, das hat es in sich. Das niederschmetternde Ergebnis lautet nämlich: Wenn Kinder mit einer niedrigen sozialen Herkunft es in Berlin schaffen, die damit verbundenen Hindernisse zu überwinden, erst dann werden sie in Berlin beim Übergang aufs Gymnasium nicht diskriminiert. Also wenn sie die gleichen Fähigkeiten mitbringen! Und wenn wir denn bei diesem „wenn“ bleiben, dann ist Berlin in Wahrheit die Hauptstadt der Bildungsungerechtigkeit, denn in keinem anderen Bundesland entscheidet die soziale Herkunft der Schulkinder derart stark über erreichte Kompetenzen. Das ist das rot-rote Armutszeugnis.
Wenn Sie hier und heute das Hohelied der Chancengleichheit singen, dann ist das zynisch und nichts anderes. Ich frage Sie auch mal ganz deutlich: Was heißt eigentlich Chancengleichheit? Was heißt Chancengerechtigkeit? – Ich nehme an, bei der Antwort sind wir uns einig: Unser Schulsystem soll den Kindern unabhängig von ihrer Herkunft die Kompetenzen für das spätere Leben vermitteln, die sie brauchen, um ihr Leben eigenverantwortlich meistern zu können. Das nenne ich Chancengleichheit, Chancengerechtigkeit. Und da schwillt mir dann schon der Kamm oder ich kriege so einen Hals – kann man auch sagen –, denn genau diese Kompetenzen werden mit den
KMK-Bildungsstandards gemessen, und das Berliner Ergebnis lautet: Die Kinder in Berlin haben am Ende der 9. Klasse sehr viel weniger Kompetenzen als anderswo. Beim Lesen, bei der Rechtschreibung hinken Neuntklässler dem Bundesdurchschnitt um ein halbes Schuljahr hinterher, beim Hörverstehen um ein dreiviertel Schuljahr. Was soll die Durchlässigkeit, wenn sich unsere Schüler nichts davon kaufen können, wenn vorn lediglich das Wort Gymnasium draufsteht? Begreifen Sie es endlich: Es geht um die vermittelten Kompetenzen, es geht nicht um die Schulform!
Und wenn wir schon einmal dabei sind: Wie steht es eigentlich um die Kompetenzen der Berliner Gymnasiasten? – Auch hier: Lesen, Hörverstehen, Rechtschreibung liegen ein halbes Jahr hinter dem Bundesdurchschnitt. Das sind die bitteren Ergebnisse – Herr Kollege Mutlu hat eben schon zu Recht darauf hingewiesen.
Die Kompetenzen werden entscheidend durch individuelle Förderung mit beeinflusst, und da müssen wir uns fragen: Wie steht es mit der individuellen Förderung? – Hier lautet die Antwort: Schlecht, egal, ob bei den Schwachen oder den Leistungsstarken! Die schlechtesten 5 Prozent der Berliner hinken den schlechtesten 5 Prozent der Baden-Württemberger hinterher. In allen getesteten Kategorien macht das zwischen eineinhalb und zwei Schuljahren aus. Bei der Spitzenförderung sieht es ähnlich aus. Da geht es beim Hörverstehen und bei der Rechtschreibung wieder um ein halbes Schuljahr.
Wie war noch mal dieser schöne Slogan aus BadenWürttemberg? – „Wir können alles. Außer Hochdeutsch!“ – Ich werde Ihnen sagen, was die von Ihnen so viel gescholtenen unsympathischen Sozialsektierer in BadenWürttemberg noch können: Sie können Durchlässigkeit! In Baden-Württemberg gibt es eine Studienberechtigtenquote von 48 Prozent, in Berlin sind es 45 Prozent. Es kommt also nicht auf die Struktur an, sondern es kommt darauf an, wie kompetent ich die Kompetenzen vermittle, die unsere Jugendlichen brauchen.