Protocol of the Session on April 22, 2010

Für die gemeinsame Besprechung bzw. Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu zehn Minuten zur Verfügung, die auf zwei Redebeiträge aufgeteilt werden kann. Es beginnt die antragstellende Fraktion in Person von Herrn Steuer. – Bitte, Herr Steuer, Sie haben das Wort.

[Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion): Helm aufsetzen!]

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Senat hat eindeutige Prioritäten in der Bildungspolitik gesetzt. Er konzentriert sich auf das Gemeinschaftsschulprojekt, und es folgten die Sekundarschulen und damit die größte Schulstrukturreform in der jüngeren Geschichte. Hinten runter fielen erneut die Grundschulen.

[Wolfgang Brauer (Linksfraktion): Ich denke, die Gymnasien!]

Es ist aber ein Irrglaube, dass man bei zwölf- oder sechzehnjährigen Schülern durch Strukturreformen noch die Basis verändern kann. Nein! Die Grundlagen für den weiteren Bildungsweg werden vor Schuleintritt und in den ersten Schuljahren gelegt. Was hier nicht passiert ist, kann man später nicht mehr nachholen. SPD und Linkspartei ignorieren leider diese Binsenweisheit, und die Grundschulen werden stattdessen mit ihren Problemen alleingelassen und dauerhaft unterfinanziert.

[Beifall bei der CDU]

Und die Probleme sind enorm: Lehrermangel – vor allem zu wenige Fachlehrer –, ganze Grundschulen ohne einen einzigen ausgebildeten Musiklehrer, veraltete Lernmittel, kaum digitale Medien in Berliner Schulen, Sanierungsstau. Es fehlt an einem schlüssigen Personalmanagement für alle Schulformen.

[Dr. Felicitas Tesch (SPD): Wann waren Sie mal in einer Grundschule?]

Wie kann es sein, dass in einem Quartal 250 Lehrer pensioniert werden, aber gleichzeitig nur acht Lehrer unbefristet eingestellt werden?

[Beifall bei der CDU]

So motiviert man Lehrer und Schulen gerade nicht, mit den besonderen Herausforderungen Berlins konstruktiv und mit großer Leidenschaft umzugehen. Rot-Rot demotiviert die Lehrer in Berlin.

[Beifall bei der CDU]

Dieser Personalmangel wirkt sich natürlich in den Grundschulen stärker aus als in der Oberschule, denn gerade die Kleinsten brauchen Personalkontinuität. Hier ist der Lehrer mehr als nur Fachlehrer, er ist vor allem Bezugsperson. Ein ständiger Wechsel oder lange Unterbrechungen stören die notwendige pädagogische Kontinuität. Deshalb brauchen wir ein Personalkonzept, das für ein Jahrzehnt tragfähig ist. Jeder Lehrer, der pensioniert wird, muss durch einen Lehrer ersetzt werden, der einen unbefristeten Vertrag erhält, denn Berlin kann auf keinen einzigen guten Lehrer verzichten.

[Beifall bei der CDU]

Zu allen Problemen kam 2003 die Schulreform hinzu. Wie so oft bei Rot-Rot wurde das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Das jahrgangsübergreifende Lernen wurde als Pflicht für alle Schulen eingeführt. – Einmalig übrigens in der Bundesrepublik Deutschland! – Gleichzeitig wurden die Rückstellungen von den Einschulungen nicht mehr möglich gemacht, das Grundschulalter gesenkt und die ersten beiden Klassen an den Sonderschulen abgeschafft. Die Quittung erhielten Sie bald: Die Wiederholerquote in der Eingangsphase stieg unaufhörlich. Mittlerweile sind es knapp 20 Prozent. Jedes fünfte Kind also wiederholt die zweite Klasse oder – wie Rot-Rot es verbrämt ausdrückt – jedes fünfte Kind „verweilt“ in der flexiblen Schulanfangsphase.

[Dr. Felicitas Tesch (SPD): Das ist ja auch der Sinn! Kurz darauf schreiben die Schüler dann VERA, ein bun- desweiter Vergleich der Schülerleistungen. Hier setzt sich der Trend leider fort: Die Berliner Schüler schneiden wesentlich schlechter ab als die anderer Bundesländer. Wer ehrlich ist, muss eines feststellen, Frau Dr. Tesch: Ihre Hoffnungen und Versprechungen zu der flexiblen Schulanfangsphase konnten nicht erfüllt werden. [Beifall bei der CDU]

Die JÜL-Pflicht hat nichts genützt. Die Schüler sind dadurch kein Stück besser geworden. Wir fordern Sie deshalb heute erneut auf, die Schulen aus der Pflicht zu ent

lassen, JÜL freiwillig zu machen und dort zu unterstützen, wo die Lehrer es wollen, motiviert sind und es auch etwas bringen kann.

[Beifall von Marion Kroll (CDU)]

Die CDU hat zu Anfang des vergangenen Jahres mit ihrem Masterplankonzept „Aufstieg durch Bildung“ einen anderen Weg gewählt. Wir haben darin nämlich alle Schulformen und Schulstufen angepackt – nicht nur die Oberschulen – und haben uns auch mit der Grundschule und dem Vorschulbereich intensiv befasst. Denn es ist klar: Vor der Einschulung werden die Grundlagen für den weiteren Bildungsweg eines jeden Kindes gelegt. Angesichts immer schlechter werdender Voraussetzungen vieler Kinder, mangelnder Grundfähigkeiten und Grundkenntnisse muss das Bildungssystem früher ansetzen. Zum Ende des vierten Lebensjahres sollte deshalb zukünftig die Sprachfähigkeit und Motorik aller Kinder überprüft und bei Bedarf ein Förderplan erstellt werden. Wir fordern, dass Kinder mit diagnostizierten Defiziten in Sprache und Motorik zum Besuch der zwei Vorschuljahre verpflichtet werden.

[Steffen Zillich (Linksfraktion): Machen wir doch!]

Die Berliner Kindertagesstätten müssen aber hierzu qualifiziert und besser ausgestattet werden, damit das Bildungsprogramm tatsächlich umsetzbar ist.

Es war doch abenteuerlich, meine Damen und Herren, wie das Volksbegehren „Kita“ und mit ihm zehntausend Eltern erst kämpfen mussten, um eine Personalausstattung möglich zu machen, die eigentlich für das Bildungsprogramm von Anfang an notwendig gewesen wäre.

[Beifall bei der CDU]

Jeder Schulanfänger muss über ausreichende Grundkompetenzen und Sprachkenntnisse verfügen, um den Unterricht folgen zu können. Direkt vor Schuleintritt muss daher künftig die Sprachfähigkeit erneut überprüft werden und bei Defiziten eine konzentrierte sprachliche Förderung in einer Sprachförderklasse erfolgen. Wir fordern die Einrichtung von solchen Sprachförderklassen, in die ein Schüler so lange geht, bis er dem regulären Unterricht wieder folgen kann. Damit wird weniger verpasst, als wenn ein Schüler jahrelang in jeder Schulstufe die Sprachdefizite mit sich herumschleppt und in keinem Fachunterricht richtig nachkommt.

Die Diagnose eines sonderpädagogischen Förderbedarfs ab Schulbeginn muss wieder eingeführt werden. Sie muss verbunden sein mit gezielter Förderung durch zusätzliches Personal – in der Grundschule bereits ab der ersten Klasse. Heute bleiben die Kinder mit Förderbedarf sich selbst überlassen. Sie sollen gar von Mitschülern unterrichtet werden. Das ist doch absurd!

Neben einer adäquaten Förderung in der Grundschule müssen die Förderzentren erhalten und wieder gut ausgestattet werden, denn dort ist heute der Lehrermangel am massivsten.

Herr Kollege Steuer! Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin Schillhaneck?

Gern, nach den nächsten zwei Sätzen. Dann habe ich nämlich das Thema abgeschlossen.

Also, an der Regelschule und an der Förderschule. Nur so kann eine echte Alternative zwischen eigenständiger und integrativer Förderung ab der ersten Klasse garantiert werden. Nur dieses wäre auch im Sinn der UNKonvention, zu deren Unterstützung der Senat nichts, aber auch gar nichts getan hat.

[Beifall bei der CDU]

Frau Schillhaneck! Sie haben das Wort zu einer Zwischenfrage. – Bitte sehr!

Vielen Dank! – Es ist schön, dass Sie jetzt mit diesem Thema fertig sind. Ich glaube, der Zusammenhang zu Ihren Sätzen vor ungefähr 30 Sekunden ist noch erkennbar. – Verstehe ich Sie recht, Herr Kollege Steuer, dass Ihre pädagogische Vorstellung und die Ihrer Partei und Fraktion immer noch darin besteht, dass das Kind passend für die Schule gemacht werden muss und nicht die Schule das Kind aufnehmen muss?

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Da haben Sie mich falsch verstanden, Frau Kollegin Schillhaneck. Wir sind vielmehr der Auffassung, dass im Zentrum das Wahlrecht der Eltern stehen sollte. Ich gehe davon aus, dass Eltern grundsätzlich eher in der Lage sind als der Staat, zu entscheiden, was für ihre Kinder das Beste ist. Und wenn Eltern entscheiden, ihr Kind soll in einer Regelschule beschult werden, dann ist das gut, und dann müssen dafür die notwendigen Mittel und personellen Voraussetzungen zur Verfügung gestellt werden. Und wenn Eltern der Auffassung sind, ihr Kind sollte besser auf eine Förderschule gehen, weil die Probleme größer sind als bei anderen Kindern, dann muss auch das möglich sein. Also Wahlrecht der Eltern im Mittelpunkt, um das Beste für das Kind zu erreichen, und nicht vom Staat vorgeschrieben bekommen: Nur der eine Weg ist gut für dein Kind oder nur der andere. – Das ist das, was wir für richtig halten.

[Beifall bei der CDU]

Der Senat hat keine Antworten auf die drängenden Fragen des Berliner Bildungssystems. Zur aktuellen Debatte um VERA und den Brandbrief erklärt Senator Zöllner nur, man werde an VERA festhalten.

Na gut, daran hatte niemand gezweifelt, aber die Frage ist doch, Herr Zöllner: Was wird der Senat tun, damit die Berliner Kinder in Zukunft auch die Aufgaben verstehen und besser abschneiden? – Herr Senator! Sie müssen die Probleme endlich ernst nehmen und Ihr Versprechen nach dem ersten und zweiten Brandbrief, die ich vorhin zitiert habe, einlösen. Die Unterfinanzierung des Berliner Primarschulwesens muss endlich beendet werden!

[Beifall bei der CDU]

In den letzten Tagen fokussierten sich einige auf die Frage, ob VERA nun geschrieben oder boykottiert werden solle. Diese Diskussion geht an der eigentlichen Fragestellung vorbei. Niemand will in erster Linie einen Vergleichstest abschaffen, weil er die Hauptstadtkinder per se für dümmer hält als die Kinder anderer Bundesländer. Nein, es ist vielmehr so, dass wir bei der Bevölkerungsstruktur vor besonderen Herausforderungen stehen. Deshalb brauchen wir auch besondere Antworten, damit die Vergleichstests überhaupt vergleichbar sind. Wir müssen die Frage beantworten, wie wir die Berliner Kinder wieder fit machen können, den Test gut zu bestehen. Den Test aufzugeben, wäre ein völlig falsches Signal und eine Kapitulation vor den Problemen der Stadt.

[Zuruf von Dr. Felicitas Tesch (SPD)]

Damit würde der Staat seinen Bildungsauftrag an die Eltern zurückgeben. Nein, wir haben eine Pflicht zu erfüllen, wir wollen den Schülern helfen, besser zu werden und aufzusteigen. VERA muss bleiben, die Schulen müssen besser ausgestattet und unterstützt werden. Das Signal muss lauten: Kein Kind wird aufgegeben!

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank! – Das Wort für die SPD-Fraktion hat die Kollegin Dr. Tesch.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Diese sogenannte Aktuelle Stunde ist überhaupt nicht aktuell, hier sollen olle Kamellen verhandelt werden.

[Zuruf von Alice Ströver (Grüne)]

Sie benutzen einen sogenannten Brandbrief, um einen Rundumschlag gegen unsere Reformen der Grundschule zu machen.

[Björn Jotzo (FDP): Zu Recht!]

Gestatten Sie mir, dass ich das Wort „Brandbrief“ bzw. dessen inflationären Gebrauch kritisiere.

[Beifall bei der SPD]

Das ist auch rein etymologisch nicht haltbar – vielen Dank meinen Kollegen von der SPD.