Protocol of the Session on January 28, 2010

Nutzen Sie das viele Geld, um Kitas und Schulen so zu gestalten, dass Kinder dort gern hingehen und Schulen zum Lernen einladen! Nur so legen Sie den Grundstein dafür, dass Berlin und seine armen Bürger aus dem Tal der Tränen herauskommen. – Herzlichen Dank!

[Beifall bei der FDP – Beifall von Frank Henkel (CDU)]

Für den Senat ergreift jetzt Frau Senatorin Carola Bluhm das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Schon der Titel der von der CDU beantragten Aktuellen Stunde ist sachlich falsch, denn um Armut geht es in der Bertelsmann-Studie am allerwenigsten. Die Studie hält lediglich fest, dass es in Berlin viele Transfergeldempfängerinnen und -empfänger gibt, und das ist nun wirklich keine neue Erkenntnis. Und Rot-Rot in Berlin, d. h. wir sind die Letzten, die dafür sorgen, dass Transfergeldempfängerinnen und -empfänger hierzulande tatsächlich arm sind, und zwar im materiellen Sinne, denn die Höhe der Regelsätze bei Hartz IV ist genauso wie Grundrente und Sozialgeld Sache der Bundesregierung. Die Regelsätze liegen zu niedrig. Das ist mittlerweile außer bei Schwarz-Gelb gesellschaftlicher Konsens.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Hartz IV, mittlerweile fünf Jahre alt, hat eine Zäsur der Sozialpolitik der Bundesrepublik markiert. Die Zahl der Kinder, die arm sind, hat sich verdoppelt, auch weil die Kinderregelsätze pauschal berechnet und viel zu niedrig sind. Das Bundesverfassungsgericht wird dem in wenigen Tagen, am 9. Februar, hoffentlich einen Riegel vorschieben.

Doch Hartz IV ist nicht der einzige Armutsfaktor. Viele ältere Menschen, vor allem Frauen, leben in Armut, weil gerade die unteren Renten zu niedrig sind, die Grundrente unzureichend und die Renten in den letzten Jahren, bis auf wenige Ausnahmen, trotz steigender Lebenshal

tungskosten stagnieren. Etliche Menschen, insbesondere mit Migrationshintergrund, aber auch Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen sind in die Transferabhängigkeit geraten, weil ihnen strukturelle Diskriminierungen immer noch Steine in den Weg zu einer eigenständigen Existenzsicherung legen. Das alles trifft natürlich auch Berlin, zumal die Berliner Bevölkerung mit den Folgen der einst geteilten Stadt in besonderer Weise betroffen ist und damit die Einschnitte nach der Vereinigung noch einmal heftiger ausfielen.

Ich nenne nur die hinlänglich bekannten Beispiele: Wegfall der Berlinförderung, den Zusammenbruch der industriellen Basis im Osten und den Metropolenwahn der frühen 90er Jahr. Hartz IV kam nicht allein. Verbunden damit ist eine immense Ausweitung des Niedriglohnsektors und der prekären Beschäftigung durch Mini- und Midi-Jobs, durch Leiharbeit und die sogenannten EinEuro-Jobs. Frau Pop weiß natürlich, dass es die rot-grüne Regierung war, die mit den Hartz-Gesetzen auch einen essentiellen Beitrag dazu geleistet hat, dass Lohndumping im Niedriglohnsektor durch die Vereinbarung zur Leiharbeit ermöglicht worden ist und hier eine erhebliche Ausweitung stattgefunden hat. Das nun nicht dem Land Berlin zuzuschieben, wäre schon ausgesprochen fair und sachlich gewesen.

[Joachim Esser (Grüne): Das war vorher auch schon so!]

Die Folge ist, dass Berlin nicht nur eine große Zahl armer Menschen hat, sondern auch die Hauptstadt der prekären Beschäftigung ist. Von den rund 440 000 Arbeitslosengeld-II-Empfängern sind über 120 000 sogenannte Aufstocker. Sie bekommen Hartz IV, obwohl sie arbeiten, Herr Lehmann. Mehr als sieben Prozent aller Erwerbstätigen in der Stadt sind trotz Arbeit auf Sozialleistungen angewiesen, darunter viele Vollzeitbeschäftigte und Selbständige. Die Dunkelziffer wird hoch sein, weil viele keine Mittel beantragen werden, obwohl sie Anspruch darauf hätten, weil sie die Stigmatisierung fürchten.

336 000 Berlinerinnen und Berliner, ein Viertel aller Erwerbstätigen, haben weniger als 900 Euro Nettoeinkommen. Dabei sind Frauen weitaus mehr betroffen als Männer. Das ist nicht die Folge von Rot-Rot, sondern die Folge von falscher Deregulierungspolitik auf der Bundesebene.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Aufspaltung regulärer Beschäftigung in Mini-Jobs, Honorarstellen, Ein-Euro-Jobs und Leiharbeit, da wundert es schon, wenn auch CDU- und FDP-Bundestagsabgeordnete angesichts des Schlecker-Skandals Krokodilstränen vergießen und gesetzliche Regelungen fordern. Doch da ist jetzt nicht Lamentieren, sondern Handeln gefragt. Für Maßnahmen, die Lohndumping verhindern, würden Sie Kolleginnen und Kollegen von Schwarz-Gelb immer eine breite Mehrheit im Bundestag erzielen. Wir werden einmal genau hinschauen, was Sie in den nächsten Wochen zum Mindestlohn im Pflegebereich vereinbaren oder auch nicht.

Doch tatsächlich war es Rot-Rot, der Senat von Berlin, der gegen den Dachverband der christlichen Gewerkschaften in der Zeitarbeit und Personaldienstleistung CGZP geklagt hat. Er ist es, der solche Tarifverträge zu Lohndumpingbedingungen immer wieder ausgehandelt hat. In zwei Instanzen haben wir gewonnen. Wir haben die Bundesregierung aufgefordert, jetzt bereits vorsorglich die durch diese Niedriglöhne entgangenen Sozialversicherungsbeiträge einzufordern, die Verjährung zu verhindern. Aber die Bundesregierung wartet erst einmal ab.

Niedriglohn und prekäre Beschäftigung treiben nicht nur dort die Beschäftigten in die Einkommensarbeit, sondern entziehen den Sozialversicherungssystemen und der öffentlichen Hand Beiträge und Steuern und befördern damit auch die öffentliche Armut. Diesen gesellschaftlichen Skandal kann man nicht hinnehmen. Wir werden das nicht tun.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Gute Arbeit, das heißt, dass man von seiner Arbeit leben kann, dass sie Freude macht und einen Sinn ergibt. Deswegen geht Rot-Rot einen anderen Weg als der Bund. Deswegen bekämpft Rot-Rot die Armut in der Stadt mit allen Mitteln, die uns als Land zur Verfügung stehen. Deswegen setzen wir auf Teilhabe und Partizipation statt Ausgrenzung und Marginalisierung. Öffnen wir die Stadt: Das Motto des Berlinpasses ist zugleich Leitschnur unserer Politik gesellschaftlicher Integration aller Berlinerinnen und Berliner. Dabei setzen wir sowohl auf Innovation, auf aktive Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsförderpolitik, auf eine integrative Bildungspolitik, soziale Wohnungspolitik, den Ausbau der sozialen Infrastruktur und den Abbau von Diskriminierung und Benachteiligung ganzer Berliner Bevölkerungsgruppen und die interkulturelle Öffnung von Staat und Gesellschaft.

Berlin ist das Bundesland mit dem stärksten Anstieg sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung – und das trotz der globalen Wirtschaftskrise.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Das ist in der Tat ein Verdienst. – Zwischen Oktober 2008 und Oktober 2009 ist die Zahl sozialversicherungspflichtiger Beschäftigter um 18 319 Menschen oder 1,9 Prozent gestiegen. Zum Vergleich: Im Bundesdurchschnitt ist die Zahl im gleichen Zeitraum um 0,8 Prozent zurückgegangen.

In den Forschungs- und Entwicklungsausgaben liegt Berlin an der Spitze aller Bundesländer. Das ist bereits gewürdigt worden. Wir sind das erste Land, das den Besuch der Kita für drei Jahre gebührenfrei stellen wird. Wir bauen die Kitas zu frühkindlichen Bildungseinrichtungen aus und haben dafür noch einmal 90 Millionen Euro für zusätzliches Personal bereitgestellt, damit das auch klappt. In keiner anderen Stadt gibt es ein solches flächendeckendes, wohnortnahes Angebot, das Quantität, Qualität und Gebührenfreiheit in einer Weise verbindet,

wo Sie sicherlich das Nennen von Beispielen aus anderen Regionen, Kommunen oder Städten schuldig bleiben müssen.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Auch mit der Schulreform haben wir den Weg bereitet, von Skandinavien zu lernen und das längere gemeinsame Lernen aller zu ermöglichen, in den Gemeinschaftsschulen, in den Sekundarschulen. Die am meisten stigmatisierte Schulform, die Hauptschule, schaffen wir ab, damit nicht die soziale Herkunft über den Bildungserfolg entscheidet, damit wir einen entscheidenden Schritt dazu gehen, diskriminierungsfreien Zugang zu Bildung und Ausbildung zu gewähren, und damit sich viele, gerade junge Menschen, aus dem Teufelskreis von Armut und Ausgrenzung befreien und ein eigenes selbstbestimmtes Leben anfangen können. Das will Rot-Rot.

Es ist Rot-Rot, das der Logik der Ein-Euro-Jobs einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor entgegenstellt, der nicht nur existenzsichernde Arbeit bietet, sondern auch gesellschaftlich sinnvolle und notwendige – auch wertschöpfende – Arbeit bietet. Es ist ganz schön harter Tobak, dass Sie 7 500 Leuten sagen, dass das, was sie tun und nicht nur sie, sondern viele, die Empfänger dieser Leistung sind, nicht wertschöpfend ist. Das sollten Sie sich noch einmal ganz genau überlegen, ob Sie in dieser Art und Weise die Debatte führen und was die Betroffenen im positiven Sinn dazu sagen.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Es geht nämlich darum, dass die Stadt und die Kieze sowie der soziale Zusammenhalt gefördert werde. Im ÖBS können 7 500 Stellen nicht 30 000 Ein-Euro-Jobs ersetzen. Das liegt aber nicht am mangelnden Willen des Senats, sondern an der Weigerung der Bundesregierung, endlich die Bündelung aller Hartz IV-Mittel zuzulassen und damit Arbeit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Berlin hat im bundesweiten Vergleich einen höheren Bevölkerungsanteil, der unter die materielle Armutsgrenze fällt. Berlin ist aber eine attraktive Stadt gerade auch für arme Menschen, die von Honorarjob zu Honorarjob, von Projekt zu Projekt und zwischen Job und Jobcenter pendeln müssen, auch, weil hier Kultur keine Luxusveranstaltung für wenige ist und weil es trotz des S-BahnDesasters immer noch einen öffentlichen Nahverkehr gibt, der die Stadt allen zugänglich macht, weil hier das Wohnen trotz steigender Mieten im bundesweiten Vergleich der Großstädte immer noch preiswert ist. Wir werden alle Anstrengungen unternehmen, dass auch die Innenstadtbezirke für Menschen mit wenig Einkommen bewohnbar bleibt.

Berlin ist attraktiv, weil wir hier mit den Stadtteil- und Nachbarschaftszentren, den Beratungsstellen und den lokalen Bündnissen eine soziale und wirtschaftliche Infra

struktur unterhalten, die möglichst vielen Menschen den Weg zur gesellschaftlichen Teilhabe öffnet. Das ist die Politik von Rot-Rot. Innovation und Gerechtigkeit, sozialökologischer Wandel, Demokratisierung und gleichberechtigte Teilhabe hin zu einer sozialen und solidarischen Stadtgesellschaft. Diesem Weg folgt der Senat ressortübergreifend, verpflichtend und als lernendes System.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Vielen Dank, Frau Senatorin! – Wir treten in die zweite Rederunde. Dann hat der Herr Abgeordnete Hoffmann noch einmal für die CDU-Fraktion das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist enttäuschend, von der Senatorin nur ein Klagen über den Bund zu hören und ein paar philosophische Anmerkungen, wie es denn sein müsste. Aber Sie regieren in Berlin, Sie haben die Verantwortung! Da nützt es nichts, in irgendwelchen Ideologien auf den Bund zu zeigen, sondern da heißt es ganz konkret: Wie sieht denn die Zahlenlage aus? – Datenbasis: Ihr Sozialstrukturatlas 2006/2007! Ein Jahr: 14 Prozent mehr Armut in der Stadt! Verantwortlich: Rot-Rot!

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Die Beschäftigungsentwicklung haben Sie positiv herausgestellt. Datenbasis: Sozialstrukturatlas 2007/2008: 100 000 Menschen in Berlin weniger sozialversicherungspflichtig beschäftigt! Verantwortlich dafür: Rot-Rot!

[Beifall bei der CDU]

Gibt es einen Zusammenhang zur wirklichen Politik? – Ja, vielleicht! Schauen wir uns mal den Bezirk MarzahnHellersdorf an! Er droht nämlich abzustürzen. Woran liegt das? – An einer deutlich roten Mehrheit im Bezirk! Ähnlich sieht es in Lichtenberg aus. Der Bezirk wird im Sozialstrukturatlas als ganz besonders gefährdet in der sozialen Infrastruktur angesehen. Verantwortlich: ganz klar die linke Politik, absolute Mehrheit dort!

[Zurufe von der Linksfraktion]

Es gibt Briefe vom Bezirk Mitte, die deutlich machen: Dieser Senat, Rot-Rot, gibt den Abgeordneten keine richtigen Antworten mehr. Warum gibt er den Abgeordneten keine richtigen Antworten mehr? – Weil er verschleiern will, dass er hier versagt!

[Zurufe von der Linksfraktion]

Das fängt bei den Wartezeiten für das Wohngeld an, und das hört bei der Entwicklung der Bezirke und der Stadt Berlin auf. Sie haben nicht eine Antwort auf die stadtpolitische Frage gegeben, nicht eine Antwort! Das müsste Ihnen zu denken geben.

Herr Hoffmann! Darf ich Sie darauf aufmerksam machen, dass Ihre Redezeit beendet ist?

Sie haben keine Lust mehr zu regieren. Lassen Sie es sein!

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP – Dr. Klaus Lederer (Linksfraktion): Der unterbietet ja selbst sein eigenes Niveau!]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Hoffmann! – Weitere Wortmeldungen liegen mir nicht vor. Die Aktuelle Stunde hat damit ihre Erledigung gefunden.

Ich rufe auf

lfd. Nr. 4 a:

Entschließungsantrag

Zukunft der Jobcenter – gemeinsame Betreuung und Förderung ermöglichen