Protocol of the Session on November 12, 2009

Aufarbeitung des Stasi-Unrechts beschleunigen: Auswirkungen von IM der Stasi auf Berlin prüfen

Beschlussempfehlungen InnSichO und Haupt Drs 16/2697 Antrag der FDP Drs 16/2494

Für die Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt die antragstellende Fraktion der FDP. Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Lindner.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Meine letzte Rede im Abgeordnetenhaus ist zum Thema Stasi. Dieser Antrag, den wir eingebracht haben, hatte den Zweck, von der Einzelfallbetrachtung wegzukommen und zu einer wissenschaftlichen, globaleren Betrachtung dieses Themas zu kommen. Ich finde, es war auch eine gute Gelegenheit – 20 Jahre Fall der Mauer –, und wir waren auch in der Fraktion guter Hoffnung, dass das Erfolg hat.

Wir hatten – ich darf Sie erinnern – in der ersten Rederunde von der SPD, insbesondere vom Kollegen Hilse, Ausführungen, die darauf schließen ließen, dass sich zumindest die SPD vorstellen könnte, dem Antrag näherzutreten. Wir haben Anregungen des Senators Körting im Innenausschuss aufgenommen, und jetzt hören wir, dass das offensichtlich von Ihnen nicht gewünscht ist. Jetzt könnte ich es mir einfach machen, ein billiges Schlussresümee ziehen

[Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion): Wir hatten von Ihnen nichts anderes erwartet!]

und sagen: Was können wir auch von Fraktionen – zumindest einer Fraktion – erwarten, die im Landtag von Brandenburg die Stasi gleich in Mannschaftsstärke ins Parlament und sogar an den Kabinettstisch gebracht hat.

[Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion): Kapaun!]

Wissen Sie, ein Kapaun, ist wenigstens jemand, der schon einmal etwas hatte. Sie gehören zu den Leuten, bei denen noch nie etwas war. Das ist der Unterschied, mein Lieber!

[Beifall bei der Linksfraktion – Zurufe von Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion)]

Ich bin gerade in ein neues Parlament gekommen, da sitzen ganz andere Kapaune. Das können Sie sich mal anschauen!

[Dr. Wolfgang Albers (Linksfraktion): Da sitzen Sie ganz hinten!]

Gott sei Dank sitzen Sie hier, dort haben Sie gar nichts zu melden, und das ist auch richtig so.

Ich bedauere, dass es zu dem Antrag tatsächlich keine Mehrheit gibt. Ich habe von Hubertus Knabe „Die unter

wanderte Republik. Stasi im Westen“ gelesen. Ich fand das ein sehr faszinierendes Buch, weil es deutlich gemacht hat, was es im Westen für Aktivitäten gab. Ich persönlich habe immer ein gewisses Problem damit, den Finger nach dem Osten zu richten und Schuld auf Menschen abzuladen, die in Verhältnissen lebten, die ich gar nicht nachvollziehen kann. Ich habe nie in einer solchen Drucksituation gelebt. Umso verwerflicher halte ich es allerdings, dass Menschen völlig ohne Not und ohne Druck, ohne die Gefahr, vielleicht berufliche oder auch persönliche bzw. familiäre Konsequenzen zu haben, für die andere Seite Spitzeldienste geleistet haben. Deswegen – übrigens meine Partei in Berlin hat unter diesem Phänomen besonders gelitten – hätte ich es auch richtig gefunden, hier zu einer wissenschaftlichen Untersuchung zu kommen, um auch dem Vorwurf zu begegnen, es ist eine reine West-Ost-Fingerzeiggeschichte, sondern wir nehmen uns auch einmal der Geschichte an, dass wir im Westen genauso dieses Phänomen hatten. Ich hätte es auch einen Punktausgleich in der Gerechtigkeit zwischen Ost und West gefunden, wenn dieser Antrag heute eine Mehrheit gefunden hätte.

[Beifall bei der FDP]

Eine Zustimmung zu unserem Antrag wäre natürlich auch ein Sahnehäubchen auf dem an sich schon so gelungenen heutigen Plenartag gewesen. Das muss man auch sagen.

[Beifall bei der FDP]

Es war kein schlechter Abschied.

Ich darf mich jetzt zum Schluss bedanken und Abschied nehmen. Es war eine sehr spannende Zeit. Als wir vor acht Jahren ins Parlament kamen – wir waren davor außerparlamentarisch, und die wenigsten von uns hatten parlamentarische Erfahrung –, war es auch für mich – als dann sofort ins Amt des Fraktionsvorsitzenden Gelangter – eine extreme Herausforderung, gleichzeitig den technischen Apparat einer Fraktion aufzubauen und auf der anderen Seite schon Reden zu halten. Das ging nicht ohne sehr gute Zusammenarbeit und gute Hilfe der Mitarbeiter des Hauses, die ich ausdrücklich erwähnen will. Morgen haben wir noch einen Abschied. Da werde ich das noch speziell an meine eigene Fraktion richten. Deswegen erlauben Sie mir, das heute mehr an die Runde hier zu richten, aber natürlich auch die Kollegen im Haus.

Mit Michael Müller, Volker Ratzmann und viele anderen, auch fraktionsübergreifend, hat es Freude gemacht, und ich bedanke mich ausdrücklich für die kollegiale Zusammenarbeit und die Geduld, die Sie mit mir hatten.

[Beifall bei der FDP – Vereinzelter Beifall bei der SPD und den Grünen]

Wenn Sie mir das ausnahmsweise gestatten, Frau Präsidentin, komme ich zu ein, zwei Schlussbemerkungen. Ich halte Polemik für eine zentrale und wichtige Angelegenheit des Parlaments. Ein lebendiges Parlament lebt von Polemik. Ich erinnere mich an eine Zeit in den Siebziger/Achtzigerjahren, da haben sich unsere Schulbusfahrer immer Plenardebatten des Deutschen Bundestages auf

Vizepräsidentin Karin Seidel-Kalmutzki

Mittelwelle angehört. Da waren eben noch Strauß und Wehner. Ich sagen Ihnen vollen Ernstes: Die political correctness ist der Totengräber einer lebendigen Debattenkultur. Wir müssen wieder mehr zu Klartext kommen. Das erwarten die Leute. Das bringt die Parlamente wieder näher ans Volk.

[Beifall bei der FDP]

Und die Polarisierung ist auch wichtig. Die Bürger haben einen Anspruch auf Auswahl im demokratischen Spektrum. Wenn wir eine Vermengung und Verbreiung machen, wird es allenfalls dazu führen, dass die Leute entweder gar nicht zur Wahl gehen oder sich an irgendwelche Ränder auf der rechten oder linken Seite wenden. Das sollten wir nicht tun. Wir sollten Klartext sprechen. Wir sollten uns klar abgrenzen und dann auch wieder zusammensetzen können, ein Bier trinken und wieder gemeinsame Sachen machen können. Das ist eine zentral wichtige Geschichte.

Dass ich im Einzelfall zu weit gegangen bin, das nehmen Sie mir bitte nicht zu krumm. Solle ich jemanden persönlich beleidigt haben, zu weit gegangen sein, entschuldige ich mich hier ausdrücklich dafür. Das war nicht meine Absicht. Es ging mir um lebendige Debatten, aber nicht um persönliche Beleidigungen.

[Zuruf von der SPD: Die Absolution können wir Ihnen aber nicht erteilen!]

Sie müssen mir keine Absolution erteilen. Wir werden uns wiedersehen, und da werden wir auch wieder aufeinanderprallen.

Zum Abschied: Es ist mir sehr wichtig: Ich möchte mich auch im Deutschen Bundestag für diese großartige Stadt einsetzen.

Herr Dr. Lindner! Bei allem Verständnis, aber ich werde schon von links und rechts angesprochen. Sie sind schon fast zwei Minuten über der Redezeit.

Lassen Sie mir bitte noch die zwei Sätze, dann erspare ich Ihnen nämlich die Rederunde zu dem letzten Antrag zum Verhältnis Bund-Berlin. Da können wir uns das sparen und früher rausgehen. Es ist aber wichtig: Wir sind in einer schwierigen Situation. Berlin, Brandenburg, Rheinland-Pfalz und Bremen sind die einzigen Länder, die keine Vertretung in der Bundesregierung haben. Das ist für das Verhältnis schwierig. Ich biete mich an, dafür zu sorgen, dass die Interessen Berlins nicht auf der Strecke bleiben. Schlagen Sie auf Schwarz-Gelb ein! Das ist überhaupt kein Problem, aber ich glaube, wir haben jenseits der Parteigrenzen ein Interesse, dass die Stadt Berlin, dass das Land Berlin in allen kulturpolitischen, infrastrukturpolitischen Fragen in parteiischen Auseinandersetzungen nicht auf der Strecke bleibt, sondern dass wir im Bund auch eine zentrale Rolle spielen.

Meine Damen und Herren! Alles Gute für Sie, das Abgeordnetenhaus! Wir werden uns über den Weg laufen. Lassen Sie es sich persönlich gut gehen! Lassen Sie den Parlamentarismus hier leben und lebendig sein! Für Sie alles Gute! – Herzlichen Dank! Bis bald!

[Beifall]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Dr. Lindner! Natürlich auch für Sie in Ihrer neuen Funktion, in Ihrem neuen Amt – wenn die Prognosen stimmen – alles Gute und viel Erfolg! Sie haben mit Ihrer Abschlussrede genau die Erwartungshaltung erfüllt. Wie wir Sie kennen, so haben Sie sich heute auch verabschiedet.

Wir fahren fort in der Tagesordnung. Für die SPDFraktion hat jetzt der Herr Abgeordnete Hilse das Wort. – Bitte sehr!

Frau Präsidentin! Meine Rede gebe ich zu Protokoll.

Ihnen, Herr Dr. Lindner, wünsche ich eine gute Zeit im Deutschen Bundestag. Viel Erfolg! Ich habe Ihnen gerne zugehört, auch wenn ich Ihre Argumente nicht immer geteilt habe.

[Allgemeiner Beifall]

[zu Protokoll gegebener Redeteil]

Ihr Antrag wurde sowohl im Innenausschuss als auch im Hauptausschuss abgelehnt. Wir werden der Empfehlung der Ausschüsse folgen und Ihren Antrag heute hier im Plenum gleichfalls ablehnen. Ehe ich die Gründe der Ablehnung nenne, möchte ich Ihnen Folgendes sagen:

Ich verhehle nicht, dass ich mir gewünscht hätte, dass vor 20 Jahren nicht nur die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes Ostberlins auf eine Stasi-Mitarbeit hin untersucht worden wären, sondern die gesamte Berliner Verwaltung. Heute wissen wir, dass auch die Westverwaltung von Stasi-Mitarbeitern unterwandert war. Einige spektakuläre Fälle haben großes Aufsehen erregt, zuletzt der Fall Karl-Heinz Kurras – Sie haben es erwähnt. Vor 20 Jahren wäre eine Überprüfung auch der gesamten Westberliner Verwaltung ein Signal gewesen – ein Signal für die Gleichbehandlung aller Beschäftigten der Stadt, zugleich aber auch ein Signal dafür, dass die Aufarbeitung der SED-Diktatur innerhalb der Stadt nicht an der Mauer Halt machen kann. Und nicht zuletzt hätte ein solches Vorgehen einen unbelasteten Neustart in die gemeinsame Zukunft der wiedervereinten Stadt signalisiert. Diese Chance wurde vertan. Man muss allerdings den Handelnden von damals zugute halten, dass sie es sich nicht vorstellen konnten, dass die Stasi so weit in die Westberliner Verwaltung hineinreichte. Und man muss auch anerkennen, dass die Aufgaben der Nachwende

Dr. Martin Lindner

monate dazu zwangen, andere Prioritäten und Handlungsschwerpunkte zu setzen. Insofern wäre es schön gewesen, wenn ein solcher Antrag wie der Ihre vor 20 Jahren gestellt worden wäre.

Heute jedoch kommt der Antrag zu spät. Es lässt sich aus den Einzelfällen, so spektakulär sie auch sein mögen, nicht nachvollziehbar begründen, weswegen mit 20 Jahren Verspätung Beschäftigte – wie bereits pensionierte oder verstorbene Mitarbeiter – der Berliner Verwaltung auf die Zusammenarbeit mit der Staatssicherheit hin überprüft werden sollen. Auch wenn Sie von einem Forschungsprojekt und einer wissenschaftlichen Untersuchung sprechen, so läuft das, was Sie hier beantragt haben, auf eine nachträgliche und umfassende Überprüfung aller Beschäftigten hinaus. Wir finden, eine verdachtsunabhängige Kontrolle mit 20-jähriger Verspätung ist unverhältnismäßig und stellt einen Aufwand dar, den niemand vertreten kann. Übrigens wurden in der Vergangenheit sehr wohl auch Beamte und Mitarbeiter in Schlüsselpositionen in ehemaligen Westberliner Behörden überprüft, so z. B. auch im Polizeidienst. Darüber hinaus arbeitet die Birthler-Behörde weiterhin daran, StasiVerstrickungen aufzuklären, und wenn es Fälle gibt, die noch nicht publik wurden, so können diese Personen noch heute nicht sicher sein, dass sie nicht doch noch enttarnt werden. Aus diesen genannten Gründen lehnen wir Ihren Antrag ab.

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Hilse! – Für die CDUFraktion hat jetzt der Abgeordnete Dr. Juhnke das Wort. – Bitte!

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich würde meine Rede auch gerne zu Protokoll geben, aber das kann keiner lesen. Deswegen erlauben Sie mir hier ein paar Sätze.

Der Kollege Lindner sprach bereits das Buch „Die unterwanderte Republik“ an. Das ist in der Tat eine spannende Lektüre, weil dort klar wird, wie systematisch Parteien, Kirchen und sämtliche Verbände auch im Westen unterwandert wurden. Der Arm der Stasi war lang. Es gab auch groß angelegte Desinformationskampagnen, um Menschen zu diskreditieren. Wir erinnern uns vielleicht noch an den Alt-Bundespräsidenten Lübke, der als KZBaumeister dargestellt werden sollte, oder an den SPDFraktionsvorsitzenden Herbert Wehner, der zum Verräter der Arbeiterklasse gestempelt werden sollte. Die Zeitschrift „konkret“ stellte sich als Zentralorgan der Studentenbewegung dar, war aber eigentlich eine Gründung der Freien Deutschen Jugend. Die sogenannte Friedensbewegung war zu großen Teilen von Moskau finanziert. – Das wussten wir von der CDU schon lange; heute gibt es Beweise dafür. – Wenn man dort einige Passagen ließt, fühlt man sich an eine Zeitreise erinnert.

Aber auch die öffentliche Verwaltung war davon nicht verschont. Dort gab es besonders perfide Methoden. Eine, die in dem Buch beschrieben wird, war die sogenannte Romeo-Methode, bei der Männer an alleinstehende Damen herantraten, die beispielsweise als Sekretärinnen an wichtigen Schaltstellen der Verwaltung saßen. Diese Männer haben ihr Leben der Sache gewidmet. Sie haben die Frauen geheiratet und sogar Familien gegründet, und das nur, um Informationen abzuzapfen und einem menschenverachtenden System zu dienen. Wie krank mussten diese Menschen sein?

Es gäbe also genug Anlass, über die Rolle der Stasi in der Berliner Verwaltung zu sprechen und sich darüber ein Bild zu machen, denn das ist weiterhin ein weißer Fleck auf der Landkarte. Deshalb ist der Antrag der FDP begrüßenswert. Ich finde es sehr schade, dass es zu keiner gemeinsamen Abstimmung kommt, zumal die Signale eindeutig waren. Herr Hilse hat sich dankenswerterweise bei der Einbringung des Antrags dafür ausgesprochen, und auch bei Frau Seelig habe ich keinen großen Dissens festgestellt. Ich bin deshalb jetzt umso trauriger. Wir haben hier eine Chance vertan, Licht in ein bisher dunkles Kapitel der deutschen Geschichte zu bringen. Das ist meiner Ansicht nach ein Rückschlag für die Demokratie. Wenn wir heute sehen, wie die Hilfsvereine der sogenannten Tschekisten und Kundschafter des Friedens, wie sie sich gerne nennen, unverschämt und unverhohlen die DDR glorifizieren und ihre eigene Rolle im Nachhinein verherrlichen, dann ist das beklemmende Fazit aus der Tatsache, dass sich hier keine zustimmende Mehrheit findet: Die Täter sind weiterhin unter uns. – Vielen Dank!