Protocol of the Session on September 24, 2009

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Vielleicht interessiert den einen oder anderen das Thema Mindestlohn und Vergabegesetz, das wäre vielleicht nicht schlecht. – Ich beginne mit drei Statements aus der Mitte der Gesellschaft, die unser Kollege Martin Lindner immer gern zitiert:

Selbst mit zwei Nachtschichten im Monat haben meine Familie und ich Anspruch auf Arbeitslosengeld II. Wir können uns kein Auto leisten oder andere größere Ausgaben, wie Familienurlaub. Mein Fazit: Wer eine 40-Stundenwoche im Dreischichtsystem arbeitet, sollte doch sich und seine Familie von diesem Job ernähren können und nicht mit weniger als 1 000 Euro nach Hause kommen.

Robert P., 31 Jahre alt, Leiharbeiter, derzeit Produktionshelfer, verheiratet, zwei Kinder, Bruttostundenlohn: 6,62 Euro, Aufstocker nach Hartz IV. – Zweitens:

Gerade heute ist wieder so ein Tag, an dem wieder nur wir zwei Aushilfen da sind. Wir hatten Ware da zum Einräumen, weil sie für den Folgetag beworben ist. Durch die minimale Besetzung ist es selbst schwierig, mal die Toilette aufzusuchen. Das alles für 6,82 Euro, und ich muss noch Fahrgeld zahlen.

Roswitha R., 43 Jahre alt, Aushilfsverkäuferin, Bruttostundenlohn: 6,82 Euro, Aufstockerin. – Drittens:

Unregelmäßige Schichtarbeit, kein Urlaub möglich. Trotz Vollzeitjob kein Anlegen von finanziellen Reserven möglich. Stetig steigende Kosten zur Gesundheits- und Altersvorsorge kaum finanzierbar.

Peter L., 48 Jahre alt, Sicherheitsdienst im Bewachungsgewerbe, verheiratet, drei Kinder, Bruttostundenlohn: 5,10 Euro.

Wissen Sie eigentlich, wie hoch der mit Verdi ausgehandelte Tariflohn im Wachgewerbe ist? – 5,50 Euro pro

Stunde, ohne Zuschläge. – Alles das, was ich hier nenne, sind keine Einzelbeispiele. Millionen von Menschen in unserem reichen Land bekommen einen Niedriglohn. Millionen von Menschen machen unfreiwillig Leiharbeit, gehen Minijobs oder Teilzeitarbeit nach. Und weil Herr Lindner immer die Menschen anspricht, die morgens aufstehen: Das alles sind Menschen, die jeden Morgen aufstehen, tagein, tagaus zur Arbeit gehen und nach ihrer anstrengenden Arbeitswoche zum Amt müssen, um Hartz IV zu beantragen, weil ihr Lohn zum Leben nicht ausreicht. Dass so etwas in Deutschland stattfindet, halten wir für einen gesellschaftlichen Skandal.

[Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den Grünen]

Dabei liegt die Antwort darauf auf der Hand. Der Kollege Stroedter hat vorhin bei der Begründung der Aktualität darauf hingewiesen: Wir müssten uns lediglich der europäischen Normalität anschließen. Gesetzliche Mindestlöhne existieren in 21 europäischen Ländern, und ähnliche Regeln existieren in weiteren vier Ländern. Nur zwei Länder in der europäischen Union haben solche Regelungen nicht, von denen eines Deutschland ist.

Dabei gäbe es gute Gründe, solche Regeln einzuführen. Selbst dann, wenn man einen niedrigen Mindestlohn von 7,50 Euro einführen würde, würden auf der Stelle 9 Millionen Menschen ein höheres Einkommen erhalten. Sie würden im Alter eine Rente bekommen, von der sie auch leben können, und insbesondere Frauen würden von Armut und Abhängigkeit befreit werden, weil sie sehr häufig in Niedriglohnbereichen tätig sind. Ich denke, dass das auch ein wichtiger Schritt in Richtung Gleichberechtigung wäre.

[Beifall bei der Linksfraktion, der SPD und den Grünen]

Migrantinnen und Migranten würden eine soziale Perspektive erhalten.

Dass das ein richtiger Weg ist, hat sich in Deutschland nur sehr schwer durchgesetzt. Herr Stroedter hat vorhin darauf hingewiesen, dass das die SPD schon sehr lange findet, aber mit dem Wort „lange“ ist das immer so eine Sache. Die Ersten, die sich dafür entschieden haben, waren die Gewerkschafter von Verdi, aber die Gewerkschafter der IG-Metall und des DGB waren damals noch dagegen. Die PDS hat sich dem damals angeschlossen und dann der DGB und dann auch die Grünen. Danach hat auch die SPD ihre Position geändert – das stimmt! Bei der letzten Bundestagswahl war sie noch der Auffassung, dass es keines gesetzlichen Mindestlohns bedarf, weshalb auch in der rot-grünen Regierung, in der die Grünen dafür waren, kein gesetzlichen Mindestlohn beschlossen wurde.

Nachdem man dann mit der CDU/CSU in einer Regierung war, hat man es dann versucht, und genau das ist das Problem. Wir haben im Deutschen Bundestag eine Mehrheit bestehend aus Grünen, SPD und der Partei Die Linke, die einen gesetzlichen Mindestlohn wollen, aber die SPD koaliert dummerweise mit einem der Dinosaurier der

Dumpinglöhne, nämlich der CDU/CSU-Fraktion. Das Problem ist auch, dass die SPD plant, künftig eine Koalition entweder erneut mit der CDU/CSU einzugehen oder mit der FDP – beides Mindestlohngegner. Es sieht also in Deutschland für einen gesetzlichen Mindestlohn schlecht aus.

Deshalb haben wir als Land Berlin im Bundesrat gemeinsam mit anderen beantragt, auf diesem Weg einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Das ist auch dort an den Mehrheiten gescheitert. Und landesweit Mindestlöhne einzuführen, wie es eine Volksinitiative in Bayern versucht hat, ist durch das dortige Verfassungsgericht gestoppt worden. Deshalb reden wir jetzt über den drittbesten Weg – um es freundlich zu formulieren –, nämlich dass der Staat seine Vorbildfunktion bei der Vergabe öffentlicher Aufträge nutzt.

Rot-Rot hat das bereits vor einem Jahr beschlossen. Es wurde darauf hingewiesen, dass der Europäische Gerichtshof mit dem Rüffert-Urteil uns und anderen Ländern aufgegeben hat, diese Regelung aufzuheben. Die Grünen haben bedauerlicherweise sehr schnell in dieser Frage aufgegeben. Der Gesetzesantrag, den die Grünen eingereicht haben, beinhaltete nichts mehr von 7,50 Euro, sondern man ist davon ausgegangen, dass man da nichts mehr machen kann. Wir von SPD und Linkspartei wollen beides: Wir wollen ökologische und soziale Kriterien.

Deshalb sind wir sehr froh, dass Harald Wolf einen Gesetzentwurf vorgelegt hat,

[Zurufe von den Grünen: Wo ist er denn?]

Sie wissen ja, wo er ist – der auch vom Senat beschlossen wurde und jetzt beim Rat der Bürgermeister liegt. Erfreulicherweise hat Harald Wolf über die Eckpunkte im Ausschuss für Wirtschaft, Technologie und Frauen informiert. – In diesem Ausschuss sind Sie nicht, aber Sie können mit Ihrer Kollegin, Frau Paus, sprechen. – Dort ist alles gesagt worden, was der Senat plant, nämlich dass man versucht, dass wenigstens die Regeln, die auf Bundesebene im Rahmen des Entsendegesetzes gefunden wurden, auf jeden Fall auch für die Vergabe öffentlicher Aufträge gelten. Dort ist auch angekündigt worden, dass wir einen Mindestlohn von 7,50 Euro pro Stunde für die Vergabe öffentlicher Aufträge wollen, und – das ist ein entscheidender Unterschied zu dem Gesetzentwurf, den die Grünen erfreulicherweise in Bremen mit auf den Weg gebracht haben – das soll auch europaweit gelten. Da müssen Sie vielleicht noch einmal mit Ihren Kollegen in Bremen sprechen, damit Sie nicht hinter diesem Entwurf zurückbleiben. Auch für europaweite Ausschreibungen sollte man einen Mindestlohn von 7,50 Euro fordern.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Nun gab es beim letzten Gesetzentwurf die nachvollziehbare und berechtigte Kritik, dass wir einen großen Teil der Anforderungen im letzten Entwurf noch nicht dabei hatten. Wir sind nicht hinter dem letzten Mal zurückgeblieben, sondern diesmal weitergegangen und fordern mehr als beim letzten Gesetzentwurf. Deshalb wollen wir,

dass auch die ILO-Kernarbeitsnormen eingehalten werden, das heißt, dass keine Produkte mehr, die durch Kinder- oder Zwangsarbeit entstanden sind, bei öffentlichen Aufträgen von Belang sind. Wir wollen, dass es eine umweltfreundliche Vergabe gibt und dass die Umweltsenatorin ermächtigt wird, die entsprechenden Regelungen hierfür vorzulegen.

Ja, das alles ist ein schwieriger und umstrittener Weg, aber wir lassen uns nicht von der FDP, der CDU, der IHK, dem UVB oder dem Europäischen Gerichtshof einschüchtern, sondern gehen diesen Weg. Wir sind nicht hasenfüßig, sondern versuchen, im Interesse der Schlechtverdienenden in unserem Land das Maximale herauszuholen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Ich freue mich, dass die SPD im Land Berlin diesen Weg mit uns geht. Das kann sie nur in Berlin, weil sie hier mit der Linkspartei regiert, und das ist eine gute Sache. Wir schaffen damit eine gesetzliche Grundlage, die eine Praxis beendet, die von den Grünen nachvollziehbar kritisiert wurde – nicht nur von den Grünen. Diese Praxis gibt es nicht nur in Berlin, in Bremen und Hamburg. Das festzustellen ist der eine Weg, und der andere Weg ist, Gesetze zu schaffen – wie Sie das in Bremen versuchen und wie wir das in Berlin tun. Das ist die Antwort und nicht, sich gegenseitig die miserable Gesetzeslage vorzuwerfen. Wir müssen damit Schluss machen, indem wir die Gesetze ändern.

[Beifall bei der Linksfraktion – Vereinzelter Beifall bei der SPD]

Und trotzdem ende ich damit, womit ich begonnen habe: Wir haben am Sonntag Bundestagswahlen. Die ganz Schlauen haben schon erkannt, dass das eine oder andere, worüber wir hier diskutieren, auch etwas mit den Bundestagswahlen zu tun hat. Es ist schon so, dass das, was wir hier machen, wirklich nur ein kleiner Schritt ist. Die wirkliche Antwort, die man geben muss, ist ein bundesweiter gesetzlicher Mindestlohn. Und wer das auch plausibel findet, den kann ich nur aufrufen, am Sonntag die Parteien zu wählen, die für einen gesetzlichen Mindestlohn sind

[Heiterkeit und vereinzelter Beifall bei der SPD]

ich gehe noch einen Schritt weiter – und die Parteien, die nicht mit anderen Parteien koalieren wollen, die gegen einen gesetzlichen Mindestlohn sind.

[Gelächter bei den Grünen – Zurufe von den Grünen]

Ich weiß, dass da nicht so viele übrigbleiben, das finde ich bedauerlich. Vielleicht kommen irgendwann auch mal bessere Zeiten,

[Zurufe von den Grünen]

aber dieses Thema ist uns sehr wichtig, denn Würde hat ihren Wert, und Arbeit hat ihren Preis. – Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Vielen Dank, Herr Abgeordneter Liebich! – Für die CDUFraktion hat jetzt der Abgeordnete Melzer das Wort.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es erscheint mir zunächst sinnvoll und notwendig, daran zu erinnern, was der eigentliche Zweck dieses Vergabegesetzes ist: Es ist kein Lohngesetz. Es geht letztlich darum zu regeln, wie die Leistungen und Güter beschafft werden, mit denen das Land Berlin, seine Bezirke und seine Unternehmen ihre Aufgaben erfüllen können. Das Vergabegesetz ist dazu das gesetzliche Mittel, um diesen Zweck zu erreichen. Es definiert die Spielregeln für das Land Berlin als wesentlichem Marktteilnehmer in der regionalen Wirtschaft und hat eine hohe Relevanz für die mittelständischen Unternehmen. – Herr Liebich! Dazu haben Sie gerade gar nichts gesagt.

[Beifall bei der CDU – Uwe Doering (Linksfraktion): Das tun ja Sie gerade!]

Das Vergaberecht auf eine Mindestlohndebatte zu reduzieren macht deutlich: Rot-Rot, SPD und Linke haben die wirtschaftliche Bedeutung dieses Vergabegesetzes für Berlin immer noch nicht richtig verstanden.

[Beifall bei der CDU]

Die mittelständische Wirtschaft ist auch gar nicht im Fokus Ihres Interesses. Es geht vor allem darum – Sie haben es eben gesagt –, wenige Tage vor der Bundestagswahl dieses ernste Thema noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen und populistisch auszuschlachten. Das ist durchsichtig, und das merken die Menschen auch. Selbst im „Neuen Deutschland“ wird diese Taktik hinterfragt. Daraus ergibt sich für das „Neue Deutschland“ gleich die Bündnisfrage auf Bundesebene – Zitat:

Es dürfte vielleicht kein Zufall sein, dass dies unmittelbar vor der Bundestagswahl geschieht, bei der ganz besonders ein Bündnis der SPD mit den Linken als angeblich völlig unmöglich beschworen wird.

[Oh! bei der SPD und der Linksfraktion]

Das ist schon sehr eigenartig. Der „Tagesspiegel“ hat auch recht:

Ein paar Tage vor der Wahl ist das nicht mehr als ein schönes Versprechen, das in der Praxis erst noch Bestand haben muss.

„Es ist nicht mehr als ein schönes Versprechen.“ – Sie missbrauchen das Vergabegesetz für Ihren Bundestagswahlkampf.

[Beifall bei der CDU und den Grünen]

Lassen Sie uns dieses wichtige Thema lieber seriös hier im Landesparlament diskutieren! Auch vier Tage vor der Bundestagswahl sind wir gut beraten, den Wahlkampf so weit wie möglich aus den heutigen Diskussion herauszulassen.