Sie haben uns gesagt, ein Fundament dieser Koalition – jedenfalls hat der Regierende Bürgermeister das gesagt – sollte sein, die Einheit der Stadt zu vollenden, in West und Ost das zusammenzubringen, was getrennt war.
In Ihren Richtlinien finden wir allerdings kein einziges Projekt dazu. Sie, Herr Müller, haben deutlich gemacht, dass das gar kein Problem mehr sei. Sie sagten, Sie hätten es geschafft, dass die Stadt zusammengewachsen sei. Ihr einziges Projekt, das Sie tatsächlich verfolgen, liegt darin, eine Rechtfertigung zu finden, dass die PDS mit Ihnen den Senat bildet. Wir würden gerne daran weiterarbeiten,
Aber wir sehen kein Projekt, die Einheit zu vollenden, wir sehen vielmehr etwas anderes, Frau Blum. Frau NehringVenus, vormals Stadträtin, jetzt Staatssekretärin bei Harald Wolf, erteilt der Stadt eine Lektion in jüngerer deutscher Geschichte. Ihre Sicht der Einheit: Stalinistische
Diktatur – Reaktion auf den Kalten Krieg, Zwangsvereinigung von KPD und SPD – war ja nicht alles erzwungen.
Herr Müller! Dass sich die Berliner SPD so etwas bieten lässt, ist die eine Sache. Da mögen Sie sich auch jede Lektion verbieten, bitte! Sie gehen mit Ihrer Parteigeschichte so um, wie Sie das möchten. Aber hier zeichnet sich doch Folgendes ab: Das Thema Diktatur der DDR scheint nach einer Legislaturperiode Rot-Rot durch zu sein. Der 60. Jahrestag der Zwangsvereinigung im April dieses Jahres war weder SPD noch PDS eine Erklärung wert.
Das wäre im Wahljahr vielleicht auch nicht so gut angekommen, da hätte man ja eventuell alte Wunden aufgerissen. Zum 50. Jahrestag war das noch anders. Da haben Frau Zimmer und Frau Pau noch politische Verantwortung übernommen, da haben sie von politischer Täuschung, Zwang und Repression bei der Zwangsvereinigung geredet und sich entschuldigt.
Nein, das ist nicht falsch, aber sie haben wenigstens die Verantwortung übernommen. Heute sagen Sie kein Wort mehr dazu, sondern schweigen das tot. – Die Verfolgung der Sozialdemokraten durch die SED – so haben sie gesagt – dürfe nicht verdrängt werden. Diese schönen Worte sind mittlerweile offensichtlich vergessen. Heute hört sich das nämlich so an, ich zitiere aus einer Stellungnahme des Sprecherrates der historischen Kommission zum 60. Jahrestag der Gründung der SED:
Am 21. und 22. April jährt sich zum 60. Male die Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschland, hervorgegangen aus dem Zusammenschluss von KPD und SPD.
Das offenbart nicht nur eine kritische Geschichtsauffassung von Frau Nehring-Venus. Herr Liebich! Sie haben anlässlich der Debatte in diesem Hause am 23. März über das Versagen Ihres damaligen Kultursenators in Hohenschönhausen gesagt: Vielleicht wird unsere Regierungsbeteiligung von einigen Ewiggestrigen als Zeichen missverstanden. – Ich sage Ihnen: Mittlerweile könnte man glauben, dass damit der eine oder die andere vielleicht auch gezielt Politik macht, und das darf nicht sein!
Herr Liebich! Wir verlangen auch von Ihnen und Ihrer Fraktion und Ihrer Partei, dass Sie klar Position beziehen. Wir verkennen die historischen Zusammenhänge nicht, und wir verkennen auch nicht die Bedeutung der Sowjetunion bei der Befreiung Deutschlands vom Faschismus.
Gegen eine Relativierung des 8. Mai haben wir – damals noch gemeinsam, Herr Liebich – gestritten. Wenn aber Thomas Flierl in Hohenschönhausen vor der StasiCamarilla kneift, wenn plötzlich Ihre ganze Parteiführung beim Begräbnis von Markus Wolf auftaucht, wenn Frau Nehring-Venus, die wir als SED-Kritikerin kennen gelernt haben, jetzt solche Töne anschlägt, muss man alarmiert sein. Das ist nicht nur eine kritische Sicht von Geschichte, diese Art von schleichender Relativierung geht uns alle an, gerade wenn sie von einer Regierungspartei kommt. Herr Wowereit! Auf dieses Projekt Einheit können wir wirklich verzichten!
Sie haben ein zweites Credo angesprochen: soziale Gerechtigkeit für die Stadt. – Ja, richtig und gut, ein sehr berechtigtes Anliegen und nach fünf Jahren rot-roter Regierung vielleicht notwendiger als je zuvor, berechtigter als in den vergangenen Jahrzehnten und berechtigter als in anderen Großstädten der Republik. Jedes vierte Kind in Berlin lebt unter der Armutsgrenze. Aber was wollen Sie hierzu umsetzen? – Auch da ist in Ihren Richtlinien nichts erkennbar. Mohammed Yunus, ein Bankier aus Bangladesch, hat für seine Projekte zur Bekämpfung der Armut gerade den Friedensnobelpreis erhalten – das ist ein großes Thema, auf der ganzen Welt und auch hier in Berlin.
Das ist ein visionäres Ziel, und er hat auch etwas daraus gemacht, er hat etwas erreicht. Die rot-rote Variante für Berlin kann man sich in Punkt 38 der Richtlinien anschauen: vier dünne Rinnsale, einige Ladenhüter aus der sozialdemokratischen Mottenkiste, ansonsten gähnende Leere. Das zieht sich durch die gesamten Leitlinien. Visionäre Leitbilder oder auch nur klare Ziele haben wir weder gehört noch gelesen, kein Weg, keine Aufzählung.
Als Grüner kann ich Ihnen sagen, dass mir mein grünes Herz für die Bäume weh tut, die für das Papier draufgegangen sind, auf dem das steht.
Da gibt es kein Vertun, meine Damen und Herren, ich habe ein grünes Herz. Das ist zwar groß, aber in dem Punkt tut es dann auch weh. –
Aber messen wir Sie auch an den Taten, insbesondere denen, die Sie in letzter Zeit abgeliefert haben. Wir haben einige Kostproben Ihrer Regierungskunst erlebt, gekennzeichnet von dem Motto: Wegducken vor der Verantwortung, dafür aber zielsicher mit beiden Beinen von Fettnapf zu Fettnapf.
Erst der furiose Auftritt des Regierenden Bürgermeisters nach dem Urteil aus Karlsruhe – sozusagen als Ouvertüre. Dann seine Audienz bei Merkel: Ganz großes Theater, aber leider völlig in die Hose gegangen und wirklich peinlich für Berlin. Entweder man hat einen gut vorbereiteten Termin, bei dem klar ist, was rauskommen soll – dann kann man auch vorher darüber reden. Oder alles ist unklar – dann geht man hin und kämpft für Berlin. Vorher aber gilt, und da zitiere ich den Kabarettisten Nuhr: Einfach mal die Schnauze halten! Alles andere geht schief, und das ist hier ja auch gründlich passiert.
Und dann die große Wahl zum Regierenden Bürgermeister, die Nagelprobe für die Zuverlässigkeit dieser Koalition – gründlich in die Hose gegangen. Das Ganze wurde von dem geschickten Agieren unseres Herrn Präsidenten gerahmt, der mit geradezu schlafwandlerischer Sicherheit den Wahlakt selbst zu einem ganz großen Theater gemacht hat.
Und dann Ihre Afrikareise. Niemand, Herr Regierender Bürgermeister, kritisiert, dass Sie in Namibia gewesen sind. Aber man fragt sich schon, ob es nicht klüger gewesen wäre, zu Beginn der Legislaturperiode den Partnerstädten einen Besuch abzustatten, die mehr mit der Problemlage der Stadt zu tun haben. Da fallen mir nicht nur Budapest und Prag ein, sondern vor allem auch Istanbul.
Wenn diese Stadt eine Verbindung zu einem anderen Land hat, dann ist das die Türkei. Aber es ist nicht Ihre Reise, die kritikwürdig ist, sondern Ihr Auftreten danach, bei dem Sie sich zu dem Thema „Warum ich meine Kinder nicht auf Kreuzberger Schule schicken würde“ geäußert haben. Erst gab es eine Kampfansage von Sarrazin an die Bezirke, dann kamen Sie mit Ihrer Schelte auf Kreuzberg gleich hinterher – wunderbares Timing! Es war doch klar, dass Sie damit die Kreuzberger Eltern und Lehrerinnen und Lehrer – zu Recht – auf die Palme bringen. Dafür haben Sie sich nun entschuldigt, und auch das zu Recht. Natürlich gibt es in Kreuzberg gute und schlechte Schulen, wie im Übrigen überall in Berlin, man muss da gar nichts schönreden.
Man muss sich aber fragen, wie einem Regierenden Bürgermeister nach fünf Jahren Regierungsverantwortung bei diesem Top-Thema Bildung so etwas passieren kann. Es ist richtig, dass das, was Sie dort kritisieren, auf Sie zurückfällt, auf Sie und Ihre Bildungspolitik. Ihrem ehemaligen Bildungssenator Böger, der ja immerhin einiges angeschoben hat, haben Sie im Nachhinein noch in den Hintern getreten. Sie versprechen soziale Gerechtigkeit für die ganze Stadt, aber Ihre Kinder nach Kreuzberg – niemals!
In dem, was Sie uns hier versprechen, offenbart sich Ihr Geist... Sie glauben doch Ihren eigenen Versprechungen nicht, sonst könnte Ihnen so etwas nicht herausrutschen.
Damit noch nicht genug! Der krönende Abschluss: 95 Tonnen Gammelfleisch „wandern“ in diesem Stadium schon durch die Stadt, und die Verbraucherschutzsenatorin weiß von nichts. Die ganze Bundesrepublik, halb Europa werden von der Senatsverwaltung alarmiert, nur Frau Knake-Werner ist ahnungslos. Frau Lompscher tut jetzt so, als hätten wir Regierungswoche 3 einer völlig neuen Koalition, die überhaupt nichts mit der vergangenen Legislaturperiode zu tun hat. – Frau Lompscher! Mit dieser Taktik lassen Sie selbst noch Herrn Schnappauf, den König der Lebensmittelskandale, erblassen. Wir befinden uns im Jahr 8 nach BSE. Ein Lebensmittelskandal nach dem anderen jagt durch die Republik. Verbraucherinformation ist das heiße und umstritten diskutierte Thema vor diesem Hintergrund. Seit Jahren wird darüber diskutiert, wie bundes- und europaweit grenzüberschreitend informiert, wie eine möglichst schnelle Verbraucherinformation gewährleistet werden kann. Und Sie, als PDS, schaffen es noch nicht einmal, eine Information über eine Bezirksgrenze hinweg weiterzugeben. Aber klar, schuld ist nur die Verwaltung. Das scheint mir ein neuer Stil in dieser Koalition zu werden:
Nicht die politische Führung trägt die Verantwortung, sondern die Verwaltung. – Aber für die Fehler, die da passiert sind, tragen Sie die Verantwortung und niemand anders, Frau Knake-Werner.
Das alles macht nur eins deutlich: Die Verantwortlichen, ob Regierender Bürgermeister, Parlamentspräsident oder Senatorin, haben ihren Laden einfach nicht im Griff. Da klappt nichts. Das Schlimmste ist, dass diese Regierung versucht, aus ihrer Ohnmacht auch noch eine Strategie zu machen, weil sie nichts anderes anzubieten hat. Diese Koalition hat weder ein Ziel noch eine Idee, und sie weigert sich beharrlich, die Realitäten zur Kenntnis zu nehmen und die notwendigen Konsequenzen daraus zu ziehen. Das war nach der Wahl zum Abgeordnetenhaus so, und das war nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts so. Diese Regierung ist schwach und kraftlos, eine Regierung der Ohnmächtigen, die in ihren Regierungssesseln darauf warten, dass jemand sie aufweckt. – Das ist Ihre Strategie, weil Sie der Verantwortung, die Sie übernommen haben, gar nicht gerecht werden können. – Mit dieser Regierungspolitik stellt Herr Wowereit diese Stadt auf ein Abstellgleis, und das ist wahrlich eine Katastrophe.
Berlin ist die Hauptstadt der Bundesrepublik. Es wurde zu Recht darauf hingewiesen, dass mit der Klausel im Grundgesetz die Bedeutung Berlins unterstrichen worden ist. – Aber im Gegensatz zu Ihnen, Herr Wowereit und Herr Müller, glaube ich nicht, dass es bei der Hauptstadtklausel in erster Linie um Geld gegangen ist. Als ob wir nicht schon Milliarden Euro bekämen! Wer diese Vor
schrift jetzt als Anspruchsgrundlage gegenüber dem Bund und den anderen Ländern missbraucht, der verspielt auch noch das letzte bisschen Kredit, das Berlin noch hat.