Protocol of the Session on June 12, 2008

Ich komme zur Abstimmung über den Antrag der Koalitionsfraktionen. Das ist die Drucksache 16/1529. Wer diesem Antrag zustimmen möchte, den bitte ich um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer ist dagegen? – Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthaltungen? – Sehe ich nicht. Dann ist dieser Antrag angenommen.

[Christian Gaebler (SPD): Gut gemacht, Herr Schäfer! – Weitere Zurufe – Unruhe]

Ich bitte um etwas mehr Ruhe.

Ich rufe jetzt auf

lfd. Nr. 4 c:

Dringlicher Antrag

Bundesrechnungshof rügt Berlin – fehlerhafte Rechtsanwendung im Rahmen der „AV-Wohnen“ muss ein Ende haben!

Antrag der FDP Drs 16/1516

Der Dringlichkeit wird nicht widersprochen.

Für die Beratung steht den Fraktionen jeweils eine Redezeit von bis zu fünf Minuten zur Verfügung. Es beginnt die antragstellende Fraktion der FDP. Das Wort hat Kollege Lehmann. – Bitte schön!

Herr Präsident! Meine Damen, meine Herren! Es scheint mir dringend notwendig, zu Beginn noch einmal auf die Dimensionen hinzuweisen, über die wir im Zusammenhang mit der Übernahme der Leistungen für Unterkunft und Heizung sprechen. Frau Senatorin Knake-Werner trägt Mitverantwortung für den größten Anteil an Arbeitslosengeld-II-Empfängern in ganz Deutschland, denn jeder fünfte Berliner, jede fünfte Berlinerin lebt von Arbeitslosengeld II. Diese leben in ca. 320 000 Bedarfsgemeinschaften, die durchschnittlich 850 € im Monat erhalten. Das sind mehr als 270 Millionen € im Monat. Davon entfallen mehr als 100 Millionen € monatlich auf die Wohnkosten.

Der Landesrechnungshof von Berlin hat die Zahlungen bzw. das Verfahren – also auch die dazugehörige Ausführungsvorschrift AV-Wohnen – überprüft. In seinem Bericht 2007 stellt er fest, dass die von der für Soziales zuständigen Senatsverwaltung erlassene AV-Wohnen zur Ermittlung der angemessenen Aufwendungen für Unterkunft und Heizung in mehrfacher Hinsicht rechtswidrig ist. Der größte finanzielle Schaden entsteht vermutlich durch die Sonderregelung des Landes Berlin, wonach zunächst für die Dauer eines Jahres die tatsächlichen Kosten für Unterkunft und Heizung übernommen werden. Der Bundesgesetzgeber sieht indes eine Prüfung der Angemessenheit bereits nach sechs Monaten vor, was in den anderen Bundesländern auch beachtet wird. Der Rechnungshof schätzt, dass dem Landeshaushalt durch die

rechtswidrigen Regelungen ein Schaden in zweistelliger Millionenhöhe entsteht.

Angesichts dieser finanziellen Dimensionen war es nur eine Frage der Zeit, bis sich auch der Bundesrechnungshof und letztlich der Rechnungsprüfungsausschuss des Bundestages mit der Angelegenheit befassen, denn der Bund beteiligt sich zu 30 Prozent an den Kosten. Das Argument, mit dem sich vor allem SPD und Linkspartei für eine längere Gewährung unangemessen hoher Wohnkosten aussprechen, ist nicht stichhaltig. Sie sagen, es gelinge 43 Prozent der Arbeitslosen innerhalb eines Jahres wieder eine Beschäftigung zu finden. Ob das ursächlich mit der längeren Gewährung unangemessen hoher Wohnkosten zusammenhängt, können sie aber nicht belegen, denn es ist schwierig, die Wirkung einer kürzeren oder längeren Bezugsdauer von Transferleistungen sicher vorauszusagen. Hier ist man auf empirische Daten angewiesen.

Deshalb möchte ich auf die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I hinweisen. Die Verkürzung der Bezugsdaten wurde von der damaligen rot-grünen Regierung wie folgt begründet – ich zitiere:

Die gegenwärtige Struktur der Leistungsdauer, insbesondere die über 12 Monate hinausgehende Anspruchsdauer, kann negative Anreize auf das arbeitsmarktrelevante Verhalten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern setzen. Sie hat erhebliche Steuerungswirkung für den Zugang in Arbeitslosigkeit und den Abgang aus Arbeitslosigkeit. Die Neuregelung setzt damit ein deutliches beschäftigungspolitisches Signal für einstellende Betriebe und gibt neue Impulse für den Arbeitsmarkt.

Und tatsächlich: Im Dezember 2007 ist die Arbeitslosigkeit über 55-Jähriger in Berlin gegenüber dem Vorjahr um 21,3 Prozent zurückgegangen. Das ist in meinen Augen eine erfreuliche Entwicklung, die sich schon seit einigen Monaten abzeichnete. Experten sehen hierin einen Zusammenhang mit der verkürzten Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes. Ob diese Entwicklung auch bei einer Verkürzung der Kostensenkungsfrist der Wohnkosten eintritt, kann niemand bestimmt vorhersagen. Ich glaube aber, dass es Parallelen gibt.

Aktuell geht es jedoch nicht um Prognosen, sondern schlichtweg um die Einhaltung der Rechtslage. Deshalb müssen Sie Ihre peinlichen Ablenkungsmanöver beenden und, wie von der Senatskanzlei oder von SPDAbgeordneten bereits zugesagt, gesetzeskonforme Ausführungsvorschriften erlassen. – Vielen Dank!

[Beifall bei der FDP – Dr. Martin Lindner (FDP): Bravo!]

Das Wort für die SPD-Fraktion hat Kollegin Radziwill. – Bitte!

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Lehmann! Peinlich ist aus meiner Sicht Folgendes: Im Bemühen, Ihre Botschaft zu schnell in das mediale Tor zu platzieren, spielen Sie sich mit diesem Antrag eher ins Abseits. Alle Punkte in Ihrem Antrag, mit dem Sie den Senat beauftragen wollen, sind bereits in Arbeit oder falsche Behauptungen. Deshalb werden wir diesen Antrag heute sofort ablehnen.

Die Kritik des Bundesrechnungshofes und den Beschluss des Rechnungsprüfungsausschusses des Bundestages vom 4. Juni nehmen wir als Koalitionsfraktionen und auch der Senat sehr ernst. Der Senat hat bereits angekündigt, die AV-Wohnen bis zu den Sommerferien zu überarbeiten.

Ihren Vorwurf der fehlerhaften und ungleichen Rechtsanwendung weise ich auf das Schärfste zurück, denn die Umsetzung ist – wie Sie hoffentlich wissen – Ländersache. Bei der Einführung der Grundsicherung für Erwerbslose und der Zusammenlegung der Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe war es uns aus sozialpolitischer Sicht wichtig, angesichts der hohen Arbeitslosigkeit in Berlin und der hohen Anzahl von Betroffenen besondere Härten zu vermeiden. Ich erinnere an dieser Stelle die Opposition an ihre Debatte über drohende 40 000 Umzüge. Es gehört zur Erfolgsgeschichte dieser AV-Wohnen, dass die große Zahl der Angeschriebenen die Kosten ihrer Miete senken konnte und nur rund 700 Bedarfsgemeinschaften umgezogen sind.

Fach- und finanzpolitisch halten wir die bisherigen Ausnahmeregelungen in der AV-Wohnen für sinnvoll und notwendig. Das Gesamtpaket werden wir beibehalten, und auch in den Berichten und Beschlüssen des Bundesrechnungshofes und des Rechnungsprüfungsausschusses des Bundestages stehen diese nicht in der Kritik. Sie suggerieren in Ihrem Antrag, dass mit der aktuellen AV-Wohnen erhebliche Mehrbelastungen des Landeshaushaltes entstanden seien. Der Bericht des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales an den Haushaltsausschuss vom 5. März 2008 stellt jedoch fest – ich zitiere:

Finanzielle Auswirkungen der AV-Wohnen auf den Landeshaushalt sind nicht quantifizierbar. Die vom Rechnungshof Berlin geprüften 277 Fälle lassen im Verhältnis zu in Berlin ca. 350 000 leistungsberechtigten Bedarfsgemeinschaften keine finanziell repräsentativen Rückschlüsse zu.

Selbstverständlich müssen einheitliche Mindeststandards für alle Bundesländer in Absprache mit den betroffenen Ländern und der Bundesebene über die angemessenen und tatsächlichen Kosten der Unterkunft und Heizung erstellt werden. Die Handhabung in den Ländern ist sehr unterschiedlich, aber die regionalen Strukturen und die Entwicklung des Arbeitsmarktes müssen berücksichtigt werden. Spielräume müssen hierbei vorhanden sein. Ebenso muss die Wirtschaftlichkeitsberechnung bei den Aufforderungen zum Umzug solide durchgeführt werden. Auch eine bessere Auswertung der Daten der Betroffenen

und damit eine bessere Kontrolle der Ausgaben sind für notwendig zu erachten.

Die entsprechenden EDV-Programme, beispielsweise A2LL sollten daher dringend qualifiziert werden. Im Bereich des Controllings sehe ich daher noch Handlungsbedarf. Unser Interesse als SPD-Fraktion liegt darin, eine soziale, gerechte und selbstverständliche gesetzeskonforme Ausführungsvorschrift Wohnen im Interesse der Betroffenen weiterhin in Berlin vorzuhalten. – Ich danke für die Aufmerksamkeit.

[Beifall bei der SPD und der Linksfraktion]

Vielen Dank! – Das Wort für die CDU-Fraktion hat der Kollege Hoffmann. Die beiden Redner haben eben ihre Redezeit übrigens nicht ausgeschöpft.

Vielen Dank, Herr Präsident! Ich bin Ihnen sehr dankbar für diesen Hinweis. – Es wäre der Sache angemessen gewesen, wenn die FDP aus diesem Antrag keinen Dringlichkeitsantrag gemacht hätte. Das Einzige, das an diesem Antrag dringlich ist, ist, dass es schon einen Termin für die Überarbeitung gibt. Ansonsten hätten wir heute gar nicht dringlich darüber sprechen müssen.

Worum geht es? – Es geht um die Kritik des Bundesrechnungshofs an den Bundesländern hinsichtlich des Umgang der Leistungsgewährung für die Kosten der Unterkunft für Langzeitarbeitslose. Dieser Bericht des Bundesrechnungshofs, der den Prüfbericht der Landesrechnungshöfe aufgreift, hat auch den Bundestag und insbesondere den Rechnungsprüfungsausschuss veranlasst, entsprechende Ministerien zu beauftragen, das Vorgehen zu untersuchen. Sie fordern nun ein einheitliches Vorgehen. Diese Forderung ist schon jetzt an den unterschiedlichen Auffassungen der Länder gescheitert. Auch das zuständige Bundesministerium hat bereits auf sein Recht, eine Rechtsverordnung nach § 22 SGB II zu erlassen, aus guten Gründen verzichtet.

Was bleibt übrig? – Übrig bleibt die Festlegung und Übereinkunft, dass sich die Länder nach den Urteilen und Rechtsprechungen der Bundessozialgerichte ausrichten sollen, um Rechtsicherheit herzustellen und vor allem auch die Kosten der Unterkunft und Heizung zu senken. Was heißt das für Berlin? – Für Berlin heißt das, es gibt 346 000 Bedarfsgemeinschaften mit einer Ausgabenhöhe von 1,366 Milliarden €. Das ist zu viel nach Ansicht des Landesrechnungshofs, der – entgegen Ihrer Aussage, Frau Radziwill – festgestellt hat, dass dem Land ein Schaden in zweistelliger Millionenhöhe entstanden ist.

Wodurch ist dieser Schaden entstanden? – Ich mache es einmal an folgenden Punkten deutlich: Die Angemessenheitsrichtlinie für die zu übernehmenden Wohnkosten richtet sich nicht nach der Urteilssprechung des Bundes

sozialgerichts, das ein Produkt aus Wohnfläche, Standard und Mietspiegel einfordert. Die Kosten werden rechtswidrig ohne zwischenzeitliche Prüfung für ein Jahr übernommen. Die Angemessenheitsprüfung beginnt erst nach einem Jahr und kann sich entsprechende Einschätzungen, ob es sich gegebenenfalls um einen Härtefall handelt, bis zu einem weiteren Jahr hinziehen. Es beginnt erst dann eine Wirtschaftlichkeitsprüfung.

Genau darum geht es. Es geht nicht darum, den Leuten Geld wegzunehmen, das ihnen zustehen. Das möchte ich hier ganz deutlich sagen. Es geht vielmehr darum, dass das Land Berlin rechtzeitig eine Wirtschaftlichkeitsprüfung mit seiner Verordnung veranlasst. Bei den sogenannten Härtefällen erfolgt oft eine unbefristete Übernahme mit zu hohen Kosten, ohne dass zwischenzeitlich geprüft wird, ob sich die Situation geändert hat.

Obwohl uns das soziale Ziel mit anderen Fraktionen eint, die Anzahl der sogenannten Zwangsumzüge im Sinne der Betroffenen möglichst gering zu halten, teilen wir doch uneingeschränkt die Kritik des Landesrechnungshofs hinsichtlich der mangelnden Kontrolle bei der Leistungsgewährung nach SGB II.

[Beifall bei der CDU – Vereinzelter Beifall bei der FDP]

Wir erwarten deshalb vom Senat, dass er seine Ankündigung zur Überarbeitung der beanstandeten AV ernst nimmt und auch die Angemessenheitsprüfung klar und deutlich regelt. Dazu gehört auch eine statistische Erfassung dieser Fälle. Wir werden in jedem Fall das Verfahren kritisch überprüfen. Es kann nicht sein, dass diejenigen belastet werden, die mit ihrem Steueraufkommen dafür sorgen, dass diese Leistungen überhaupt möglich sind, indem Sie das Geld nicht sachgerecht und angemessen auszahlen.

[Beifall bei der CDU]

Vielen Dank! – Ich sage ohne Wertung, dass auch dieser Kollege seine Redezeit nicht ausgeschöpft hat. Das Wort für die Linksfraktion hat Frau Abgeordnete Breitenbach.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Hoffmann! Sie sollten sich vielleicht doch noch einmal die AV Wohnen durchlesen. Ihr Vortrag war jetzt ein wenig Kraut und Rüben. Die FDP möchte gern, dass die einjährige Übergangsregelung für die Überprüfung der Wohnkosten auf ein halbes Jahr verkürzt wird.

[Dr. Martin Lindner (FDP): Der Senat auch!]

Das hat der Senat nicht beschlossen, Herr Lindner! – Dem Antrag der FDP werden wir keinesfalls zustimmen. Ich möchte das auch begründen.

Die Berliner Wohnungsregelung verfolgt das Ziel, Langzeitarbeitslosen so lange wie möglich den Verbleib in ihrem Umfeld und in ihrer Umgebung zu ermöglichen. Deshalb gibt es die Sonder- und Härtefallregelungen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Wir wollen darüber hinaus Langzeitarbeitslosen die Zeit geben, ihre Anstrengungen auf eine Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt zu konzentrieren, statt sie auf Wohnungssuche zu schicken. Deshalb gibt es die Einjahresfrist.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Als Kritikerin der Hartz-Gesetze möchte ich noch einmal daran erinnern, dass die Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und nicht in erster Linie der Umzug das Ziel der Hartz-Gesetze war. Dem kommen wir nach.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]