Das ist der Tagesordnungspunkt 11. – Herr Senator Wolf hat vorab gebeten, dazu Stellung nehmen zu dürfen. – Bitte, Herr Senator!
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich will nur einige kurze Anmerkungen zum Thema machen, weil in der schriftlichen Beantwortung der Großen Anfrage ausführlich Stellung genommen worden ist. Sowohl die wirtschaftstheoretischen Argumente als auch die, die aus der wirtschaftlichen Realität für einen gesetzlichen Mindestlohn sprechen, wurden umfassend dargestellt.
Ich will noch einige Anmerkungen zu der Diskussion machen, die von Unternehmen selbst geführt wird, da die FDP immer für sich beansprucht, die Interessen der Wirtschaft zu vertreten und den Unternehmen näher zu stehen als andere. Aber das, was von der FDP vertreten wird und in ihrem Antrag und der Begründung der Großen Anfrage zutage tritt, hat nichts mit der unternehmerischen Realität zu tun, sondern mit Ideologie.
Erster Punkt: Das „Handelsblatt“ hat unlängst im Rahmen seines Businessmonitors eine Umfrage zum Thema Mindestlohn veröffentlicht. Das „Handelsblatt“ ist nicht nur unverdächtig, der Sozialdemokratie nahezustehen, sondern auch, Sympathisant der Grünen zu sei, und es ist weit davon entfernt, Zentralorgan der Linken zu sein. Das „Handelsblatt“ stellt in seiner Umfrage unter
800 Managern von Unternehmen mit mindestens 100 Beschäftigten fest, dass eine große Mehrheit der Befragten aus der Einführung eines Mindestlohns keine negativen Folgen befürchten, und 78 Prozent erklärten, es sei für sie keine unternehmerische Anpassung nötig, wenn es zu einem Mindestlohn komme.
Zweiter Punkt: Die Handwerkskammer – auch die ist der ideologischen Nähe zur Regierungskoalition unverdächtig – hat eine Umfrage unter ihren Mitgliedsunternehmen gemacht. Diese kam zu dem Ergebnis, dass sich zwei Drittel der Handwerksunternehmen für einen Mindestlohn aussprechen und eine klare Mehrheit für einen gesetzlichen Mindestlohn.
Wie erklärt sich dieses Ergebnis? – Ich halte die Erklärung für relativ einfach: Es handelt sich um Unternehmen, die die Folgen eines Dumpingwettbewerbs und einer Schmutzkonkurrenz erlebt haben, eines Wettbewerbs, der, wenn er über die Absenkung von Löhnen und möglichst schlechte Arbeitsbedingungen geführt wird, dazu führt, dass Unternehmen, die selbst gute Arbeit garantieren, vom Markt verdrängt werden.
Deshalb, liebe Freundinnen und Freunde von der FDP, ist die Überschrift über der Großen Anfrage „Abschied von der sozialen Marktwirtschaft“ grundfalsch.
Es geht bei der Einführung des Mindestlohns darum, endlich wieder zu einer sozialen Marktwirtschaft zurückzukehren, weil wir in der Vergangenheit eine Entwicklung hatten, in der das Soziale in der Marktwirtschaft über Deregulierung systematisch abgebaut wurde, und nur noch der freie Wettbewerb hat regiert, ohne dass Regeln eingehalten wurden, die Mindeststandards garantiert hätten. Deshalb geht es um eine Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft.
Heute gab es die Meldung, dass sich die Arbeitgeber aus dem Sicherheitsgewerbe jetzt für eine Aufnahme ihrer Branche mit einem Mindestlohn in das Entsendegesetz einsetzen. Auch das ist ein Zeichen dafür, dass es noch Unternehmer gibt, die sich nicht an einem Dumpingprozess nach unten beteiligen wollen, sondern qualitätsvolle Produkte und Dienstleistungen abliefern und ihre Mitarbeiter dafür gut bezahlen wollen. Diese Unternehmer sind nicht von der Ideologie verblendet, die die FDP verbreitet.
Es ist auch volkswirtschaftlich sinnvoll, einen Mindestlohn einzuführen, denn er führt dazu, dass die Einkommen am unteren Ende der Einkommenshierarchie stabili
siert werden. Das stärkt die Binnennachfrage und den privaten Konsum und stabilisiert damit die Konjunktur. Das ist gerade in einer Situation, in der wir angesichts steigender Rohstoffpreise, des hohen Eurokurses und der Probleme auf den Finanzmärkten alle befürchten, dass die Exportkonjunktur in Gefahr gerät, dringend erforderlich. Die Einführung eines Mindestlohns wäre auch in diesem Zusammenhang eine wichtige Maßnahme.
Er ist auch sozialpolitisch geboten, weil meine Partei, die SPD und die Grünen an dem Grundsatz festhalten, dass jemand, der 40 Wochenstunden arbeitet, auch davon leben soll, ohne auf Transferleistungen angewiesen zu sein. Ich finde es erstaunlich, dass diejenigen, die ansonsten tagein, tagaus gegen Subventionierungen wettern und fordern, der Staat solle sich aus der Wirtschaft zurückziehen, offensichtlich kein Problem damit haben, dass wir mit Hartz-IV und ergänzenden Leistungen nach dem Alg II ein gigantisches Subventionierungsprogramm für den Niedriglohnsektor haben, in dem der Steuerzahler die Niedriglöhne, die von Unternehmen gezahlt werden, subventioniert. Das ist der eigentliche Subventionsskandal in der Bundesrepublik. Der muss beendet werden.
Auch wenn man sich die internationalen Erfahrungen ansieht, wird die Legende, Mindestlöhne vernichteten Arbeitsplätze, widerlegt. Sehen wir uns die Erfahrungen in Großbritannien an, wo die London School of Economics unlängst eine ausführliche Studie vorgelegt hat, was dort mit der Einführung der gesetzlichen Mindestlöhne passiert ist. Man kommt zu folgendem Ergebnis: Die Einführung der gesetzlichen Mindestlöhne hat sich insbesondere in einer Reduzierung der Gewinne ausgewirkt, ohne dass daraus Beschäftigungsverluste entstanden sind. Das heißt, es war offensichtlich, dass vor der Einführung der Mindestlöhne noch Verteilungsspielraum vorhanden war, der vor der Einführung der Mindestlöhne zu Extraprofiten bei den Unternehmen, die Dumpinglöhne gezahlt haben, geführt hat. Es ist gut, dass diese Extraprofite abgeschöpft werden und die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einen höheren Anteil an dem Produkt erhalten.
Wenn Sie zugehört hätten, wüssten Sie, dass ich über Großbritannien rede, aber auch dort existiert eine kapitalistische Marktwirtschaft, die nach der gleichen Logik funktioniert wie die Ökonomie in Berlin. Vielleicht kann man auch als Liberaler einmal über den eigenen Tellerrand blicken und von europäischen Erfahrungen lernen, anstatt nur neoklassische „Weisheiten“ – um nicht zu sagen Dummheiten – zu verbreiten. Schauen Sie sich an, wie andere Länder erfolgreich gearbeitet haben, anstatt Irrlehren zu verbreiten!
Auch in der Bundesrepublik Deutschland hatten wir in den letzten Jahren einen deutlichen Anstieg der Gewinnquote. Daraus kann man schließen, dass auch hier ein erheblicher Verteilungsspielraum existiert. Wenn Sie sich ein Unternehmen anschauen, das im Wachschutz in Brandenburg 4,80 € pro Stunde zahlt oder in Berlin einen Tariflohn von 5,25 €, dann ist ein solches Unternehmen in der Lage, eine entsprechende Rendite einzufahren. Denn auch in diesem Sektor gibt es Unternehmen, die versuchen, Standards einzuhalten und einen gesetzlichen Mindestlohn fordern, beispielsweise Securitas. Es ist nicht so, dass diese Unternehmen in der Wachschutzbranche am Existenzminimum stehen, sondern sie zahlen erbärmlich niedrige Löhne, weil es derart viele niedrig qualifizierte Menschen auf dem Arbeitsmarkt gibt, die bereit sind, auch für derartige Löhne zu arbeiten. Das muss beendet werden, indem man den Leuten eine gesetzliche Unterstützung gibt, damit sie ordentlich bezahlt werden und wenigstens ihre Familien ohne ergänzende Leistungen ernähren können.
Eine weitere Konsequenz aus der britischen Erfahrung ist, dass es in einzelnen personenbezogenen Dienstleistungsbereichen geringere Preissteigerungen gab, ohne dass es sich gesamtwirtschaftlich relevant auf die Inflationsrate ausgewirkt hat. Was ist das Problem dabei? – Ich bleibe beim Beispiel Wachschutz:
Erstens geht es bei diesem Thema – wir reden beim Niedriglohnbereich ja meistens über ortsgebundene Dienstleistungen – nicht darum, dass die Gefahr der Verlagerung in Billiglohnländer besteht. Wenn Sie ein Gebäude haben und dafür einen Wachschutz brauchen, lagern Sie die Dienstleistung Wachschutz nicht nach Polen, Weißrussland oder Indien und China aus, denn das Gebäude steht hier und muss hier überwacht werden.
Es nutzt Ihnen überhaupt nichts, wenn in Weißrussland irgendein Gebäude bewacht wird, denn das Gebäude, um das es geht, steht hier. Wo besteht die Verlagerungsgefahr?
Das Einzige, was passiert, ist, dass der Eigentümer des Gebäudes für diese Dienstleistung einen höheren Preis zahlen muss, und dazu sage ich: Das ist vernünftig, denn wir wollen, dass für gute Arbeit auch gute Preise bezahlt werden.
Herr Wirtschaftssenator! Wenn Sie uns Großbritannien als Vorbild und Beispiel für Mindestlöhne anpreisen, frage ich Sie: Stimmen Sie mir zu, dass wir vorbereitend zur Einführung des Mindestlohns dann auch alle anderen wirtschafts-, steuer- und abgabenpolitischen Maßnahmen, die Großbritannien insbesondere unter Margaret Thatcher und den Nachfolgeregierungen eingeführt hat, hier einführen sollten, um dieselben Marktbedingungen herbeizuführen und Wettbewerbsbedingungen zu schaffen, die den deutschen Bewerber gegenüber dem britischen Mitbewerber in eine gleiche Ausgangssituation versetzen?
Lieber Herr Dr. Lindner! Dann müssten Sie sagen, welche Maßnahmen Sie konkret meinen. Wenn Sie meinen, wir sollten die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir einen großen Niedriglohnsektor haben, kann ich Ihnen sagen: Das ist schon längst passiert. – In den letzten Tagen ist aufgrund einer Reihe von Studien noch einmal deutlich geworden, dass die Bundesrepublik Deutschland im Gegensatz zu der Zeit von vor fünf, sieben oder acht Jahren mittlerweile in Europa Spitzenreiter hinsichtlich der Ausdehnung des Niedriglohnsektors ist. Insofern haben Maßnahmen, die so drastisch sind wie die der Regierung Thatcher, durchaus in der Bundesrepublik in der Vergangenheit stattgefunden. Ich sage: Das war ein Irrweg, und das müssen wir jetzt über einen Mindestlohn korrigieren.
Wenn es in der Bundesrepublik in der Vergangenheit nicht eine Politik bzw. Arbeitsmarktpolitik gegeben hätte, die die Ausweitung des Niedriglohnsektors so massiv befördert hat, wären wir vielleicht gar nicht in der Situation, dass wir heute so intensiv über Mindestlöhne diskutieren müssen. Wir haben aber mittlerweile einen riesigen Niedriglohnsektor. Jeder vierte bis fünfte Beschäftigte in der Bundesrepublik arbeitet mittlerweile im Niedriglohnsektor, und es ist dringend notwendig, dass wir hier eine Mindestlohnregelung einführen.
Zurück zur Einführung des Mindestlohns in Großbritannien: Eine weitere Reaktionsweise bestand darin, dass es eine Erhöhung der Produktivität in den Unternehmen gab. Auch das ist nicht verkehrt, sondern eine gute Wirkung, denn die Erhöhung der Produktivität bedeutet auch eine Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit. Insofern komme ich zu der Schlussfolgerung: Der gesetzliche Mindestlohn ist nicht nur aus sozialpolitischen Erwägungen geboten, sondern er ist in mehrfacher Hinsicht auch volkswirtschaftlich vernünftig, auch wenn Menschen und Parteien, die nicht die Fähigkeit haben, über die rein betriebswirtschaftliche Denke und einzelbetriebliche Logik hinaus
zudenken, sich das nicht vorstellen können. Aber Wirtschaft ist mehr als der Einzelbetrieb. Wirtschaft ist ein Gesamtsystem, Wirtschaft ist Volkswirtschaft.
In diesem Zusammenhang muss man auch auf der rechten Seite des Hauses mal wieder dazu kommen, die gesamtwirtschaftlichen Zusammenhänge zu verstehen. Wir werden weiterhin darauf drängen, dass der gesetzliche Mindestlohn eingeführt wird. Eine Mehrheit in der Bevölkerung gibt es dafür schon, und es wird sie demnächst auch politisch geben. – Ich danken für Ihre Aufmerksamkeit!