Protocol of the Session on April 10, 2008

Dieses Urteil – es ist schon angesprochen worden – steht auch im Widerspruch zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das ausdrücklich das Berliner Vergabegesetz mit seiner Tariftreueregelung in seinem Urteil von 2006 für verfassungsgemäß erklärt und dies mit der Intention begründet hat, hier Arbeitnehmerschutz durchzusetzen, den Sozialstaat und die Sozialversicherungssysteme und das Tarifvertragssystem zu stärken. Herr Thiel, das sind alles

Elemente des Sozialstaates, wo das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, diese Institutionen des Sozialstaates werden durch Tariftreuerklärungen, wenn sie vom öffentlichen Auftraggeber verlangt werden, gestärkt. An diesem Gedanken halten wir weiter fest auch im Widerspruch zur gegenwärtigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Darüber werden wir weiter die politische Auseinandersetzung führen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Es gibt auch eine Änderung in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs, wenn Sie sich die Urteile und Rechtsprechungen aus der Vergangenheit ansehen, in denen eindeutig immer wieder für soziale Mindeststandards plädiert worden ist. Das Plädoyer des Generalanwaltes vor dem Europäischen Gerichtshof hat diese Haltung auch noch einmal deutlich gemacht, weil dieses ganz im Geiste der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aus früheren Jahren stand.

Wenn ich mir ansehe, was die europäische Kommission 2004 in der Begründung zur Entsenderichtlinie geschrieben hat, heißt es dort unter anderem:

(...) dass sich Situationen ergeben können, in denen für entsandte Arbeitnehmer niedrigere Arbeitslöhne und sonstige Arbeitsbedingungen als die an dem Ort, wo die befristete Arbeit erbracht wird, geltenden angewandt werden. Dies wiederum dürfte sich mit Sicherheit auf den lauteren Wettbewerb – Herr Thiel, Sie haben vom lauteren Wettbewerb gesprochen –

zwischen Unternehmen und auf den Grundsatz der Gleichbehandlung zwischen ausländischen und nationalen Unternehmen auswirken, was

passen Sie auf –

unter sozialen Aspekten völlig inakzeptabel wäre.

So führte die Europäische Kommission 2004 aus. Der Europäische Gerichtshof erklärt 2008 in seinem Urteil völlig im Widerspruch hierzu, dass das Unternehmen zur Verpflichtung zur Tariftreue seinen Wettbewerbsvorteil, den es aufgrund der im Herkunftsland niedrigeren Löhne nicht geltend machen könne. Das steht im Widerspruch zu dem, was die Europäische Kommission mit der Entsenderichtlinie intendiert hat, mit dem, was Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs in der Vergangenheit war, und im Widerspruch zu dem Gedanken des lauteren Wettbewerbs. Das ist das Plädoyer für unlauteren Wettbewerb, Herr Thiel, und genau für das, was sich Dumpinglöhne nennt, immer weiter das Lohnniveau nach unten zu senken. Wir haben in Europa keinen einheitlichen Markt, sondern die Situation, dass es in bestimmten Länden andere Kostenniveaus gibt und dort deshalb niedrigere Löhne angeboten werden können, als sie in einem Zielland sonst angeboten werden. Wenn das nicht geregelt wird, haben wir den Dumpingwettbewerb nach unten. Das stärkt nicht die Marktwirtschaft, Herr Thiel, sondern schwächt die Marktwirtschaft, weil es Unternehmen ruiniert, weil es Arbeitsplätze gefährdet und weil es einen

Verdrängungswettbewerb nach unten hervorruft. Das wollen wir nicht, und dabei bleiben wir auch.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Es ist schon darauf hingewiesen worden, der Europäische Gerichtshof ist in seinem Urteil nicht umhingekommen festzustellen, dass es die Entsenderichtlinie und damit die Möglichkeit gibt, nationale Regelungen über die Entsendegesetze zu treffen. Insofern hat der Europäische Gerichtshof erklärt, dass alles mit europäischen Recht vereinbar ist, was national allgemein verbindlich und in das Entsendegesetz aufgenommen worden ist. Damit kommen wir zu einem anderen wichtigen Punkt, einem Versäumnis der Bundesregierung seit Jahren. Seit es die Möglichkeit des Entsendegesetzes gibt, ist von diesem nur in sehr ungenügendem Maß Gebrauch gemacht worden. Es ist schon in der Debatte darauf hingewiesen worden, dass die Bundesrepublik Deutschland das einzige Land in der Europäischen Union ist, in dem es kein flächendeckendes System der Mindestlöhne oder der national allgemein verbindlichen Tarifverträge gibt.

Das ist ein gravierendes Versäumnis. An diesem Versäumnis muss gearbeitet werden. Wir brauchen dringend die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen auf der nationalen Ebene. Es muss aufhören, dass bei den Branchenmindestlöhnen innerhalb der großen Koalition von der CDU-Seite, vom Kanzleramt und vom Bundeswirtschaftsministerium immer wieder versucht wird, die Allgemeinverbindlichkeit und die Aufnahme von Branchenmindestlöhnen in das Entsendegesetz zu torpedieren. – Herr Melzer! Wenn Sie hilfreich sein wollen, dann setzen Sie sich dafür ein, dass der Guerillakampf, der zurzeit vom Kanzleramt gegen die Mindestarbeitsbedingungen und gegen Bundesarbeitsminister Scholz geführt wird, eingesetzt wird. Das wäre hilfreich in dieser Diskussion. Damit könnte die CDU sich verdient machen.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Wir müssen ganz klar sagen: Es ist nicht akzeptabel, was in den letzten Wochen öffentlich geworden ist, dass Arbeitgeber sich im Zusammenhang mit der Frage von Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen eine neue Strategie ausdenken – teilweise ist es schon eine alte, aber jetzt wird sie verstärkt angewandt: Man bildet Scheingewerkschaften, die man selbst finanziert. Mit diesen schließt man dann Tarifverträge ab, von denen man meint, dass man sie für allgemeinverbindlich erklärt.

[Mario Czaja (CDU): Das kennt ihr doch vom FDGB!]

Das mit dem FDGB lief anders. Dem musste man dafür kein Geld geben, die haben das so gemacht. – Neulich wurde in einem Magazin deutlich gemacht, dass sich auch christliche Gewerkschaften gegen entsprechende Schulungsvergütung anbieten, in ein Unternehmen, eine Branche zu gehen, sich dort aufzubauen und dann einen Tarifvertrag abzuschließen, der in Konkurrenz zu den DGBGewerkschaften treten kann. Das ist eine weitere Verwilderung der Sitten. Das wollen wir nicht. Es müssen gesetzliche Regelungen getroffen werden, damit das Tarif

vertragssystem und das, was mit dem Entsendegesetz und der Allgemeinverbindlichkeit gewollt ist, geändert wird.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Welche Konsequenzen zieht das Urteil des Europäischen Gerichtshofs nach sich? – Auf der Berliner Ebene ist klar: Alle Vergabegesetze in der Bundesrepublik Deutschland, die Tariftreue verlangen, sind damit tangiert und mindestens in ihrer Rechtskraft eingeschränkt. Darauf muss reagiert werden. Ich weiß nicht, woher die Legende stammt, dass es einen „wolfschen Vergabestopp“ gibt und dass dieser monatelang dauern soll.

[Elisabeth Paus (Grüne): Aus der „Berliner Zeitung“!]

Fragen Sie doch einfach direkt, Frau Paus! Übrigens wurde dort durchaus korrekt zitiert. Die Überschrift war nicht ganz zutreffend. Es empfiehlt sich manchmal, den ganzen Artikel zu lesen, nicht nur die Überschrift.

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD – Elisabeth Paus (Grüne): Hab’ ich geschafft!]

Wir haben im Moment folgende Situation: Wenn Vergaben nach dem Berliner Vergabegesetz erfolgen, sowohl nach dem alten als auch nach dem neuen, sind sie aller Voraussicht nach nicht rechtssicher. Deshalb empfehle ich im Moment, solange der Senat noch kein neues Rundschreiben herausgegeben hat, die Füße stillzuhalten, das heißt, keine Vergabeentscheidung zu treffen.

Der Senat hat sich am vergangenen Dienstag in einer ersten Diskussion mit dem Thema befasst. Am kommenden Dienstag wird es dazu eine Besprechungsvorlage mit Vorschlägen von meiner Seite geben. Eine wesentliche Konsequenz daraus wird sein, dass wir im Moment, was die Tariftreue angeht, nur Tarifverträge zur Ausschreibungsbedingung erheben können, die national für allgemeinverbindlich erklärt worden sind. Das ist bedauerlich, weil das in der Regel Mindestlohntarifverträge sind, das heißt, dass darüber nicht die gesamte Entgelttabelle abgebildet ist. Aber das ist im Moment die Rechtslage.

Es geht mitnichten darum, dass wir das Thema monatelang aufschieben wollen. Es ist jedem klar, dass man das Vergabegeschehen im Land Berlin nicht ein halbes Jahr auf Eis legen kann, bis sich in Europa irgendetwas geändert hat. Wir wissen auch gar nicht, ob sich in Europa etwas ändert, und bei der Bundesregierung weiß man noch viel weniger, ob sich etwas ändert. Es geht darum, dass es jetzt, in dieser Zwischenphase, sinnvoll ist, keine Entscheidung zu treffen. Nach der Beratung im Senat am kommenden Dienstag werden die entsprechenden Rundschreiben in Auftrag gegeben.

Herr Melzer! Auch Ihnen noch einmal den Hinweis: Wenn Sie als den Königsweg die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen nennen und auf die Diskussion verweisen, die ich in dieser Woche mit dem Kollegen Laumann hatte, müssen Sie eines wissen: Den Tarifvertrag Wachschutz, den der Kollege Laumann im letzten Jahr für allgemeinverbindlich erklärt hat, habe ich für Berlin schon vor drei Jahren für allgemeinverbindlich er

klärt. Das Problem bei beiden Tarifverträgen ist nur: Es sind regionale Tarifverträge, sie sind nur für die Region allgemeinverbindlich. Damit entsprechen sie nicht dem Kriterium, das der Europäische Gerichtshof aufgestellt hat, dass es sich um national geltende Regelungen handeln muss. Aus meiner Sicht ist das ein eklatantes Missverständnis des Europäischen Gerichtshofs in Bezug auf das Verfassungssystem der Bundesrepublik Deutschland und auf unser föderales System. Wir haben uns in der Bundesrepublik Deutschland dafür entschieden, die Frage von Mindeststandards über drei Wege zu regeln:

über nationale Gesetzgebung, im Moment das Entsendegesetz und dann die entsprechende Allgemeinverbindlichkeit und Aufnahme in das Entsendegesetz,

über landesgesetzliche Regelung, wie zum Beispiel die Vergabegesetze,

über tarifvertragliche Regelung.

Das sind die drei Komponenten, die wir in der Bundesrepublik Deutschland haben, um soziale Mindeststandards zu sichern. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs hebelt die Landesebene aus und führt in dieser Kombination dazu, dass die tarifvertragliche Ebene nur dann relevant ist, wenn sie wirklich national gilt, und das gilt für die wenigsten Tarifverträge, zumindest, was die Entgelttabelle angeht. Es gilt für die Mindestlohntarifverträge – soweit wir welche haben –, dass sie national gültig sind, aber nicht für die normalen Tarifverträge mit den Entgelttabellen. Also hilft uns dieses hier nicht weiter, es sei denn, es gibt bundesgesetzliche Regelungen, die das Entsendegesetz modifizieren und sagen, dass in den Geltungsbereich des Entsendegesetzes auch regional für allgemeinverbindlich erklärte Tarifverträge aufgenommen werden können.

Die zweite Konsequenz liegt für uns auf der Bundesebene. Wir werden gegenüber der Bundesregierung initiativ werden, nach Möglichkeit mit anderen Bundesländern – der Kollege Liebich hat das schon angesprochen –, damit die Bundesregierung gegenüber der Europäischen Kommission aktiv wird und für eine europarechtliche Klarstellung bei der Entsenderichtlinie sorgt, die der Rechtsauffassung entspricht, die der Generalanwalt vor dem Europäischen Gerichtshof vertreten hat. Diese deckt sich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts und macht es wieder möglich, landesrechtliche Regelungen bei der Vergabe zu treffen, die Mindeststandards und Tariflöhne einklagen.

Zum anderen halte ich es für dringend notwendig, dass die Aufnahme in das Entsendegesetz erleichtert wird. Sie kann nicht an einen Konsens zwischen den Sozialpartnern gekoppelt sein. Damit gibt es ein Vetorecht der Arbeitgeberseite, und das kann nicht akzeptabel sein.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Wenn es von einer Seite verlangt wird und politisch entschieden wird, muss das ausreichen. Es kann nicht davon

abhängig sein, dass es von Arbeitgebers Gnaden ist, ob Dumpinglöhne ausgeschlossen werden oder nicht.

[Beifall bei der Linksfraktion]

Der dritte Punkt: Das Thema der gesetzlichen Mindestlöhne bleibt auf der Agenda. Die gesetzlichen Mindestlöhne sind dringend notwendig, gerade nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs. – Herr Melzer! Das ist kein Marketing-Gag, sondern das ist eine dringende Notwendigkeit, damit die Bundesrepublik Deutschland im Hinblick auf die Schutzrechte und die sozialen Standards das europäische Schlusslicht abgibt und wieder in ein vernünftiges Feld aufrückt, was die Sicherung sozialer Standards angeht. Wir reden über das soziale Europa, aber unser Land ist mittlerweile Schlusslicht in einer ganzen Reihe von sozialen Standards, bei der Entwicklung der Reallöhne in Europa und bei der Sicherung von sozialen Mindeststandards. Das muss sich ändern. Dafür wird dieser Senat trotz dieses Urteils des Europäischen Gerichtshofs weiter eintreten.

Insofern ist das ein Rückschlag, aber ein Rückschlag auf einem Weg, der vor uns liegt. Ich bin absolut sicher, der gesetzliche Mindestlohn in der Bundesrepublik Deutschland wird sich nicht aufhalten lassen, weil sich die Bevölkerungsmehrheit, die es dafür gibt, über kurz oder lang in politische Mehrheiten umsetzen lässt. – Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit!

[Beifall bei der Linksfraktion und der SPD]

Meine Damen und Herren! Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen. Damit hat die Aktuelle Stunde ihr Ende gefunden.

Ich rufe auf die Priorität der Fraktion der Grünen

lfd. Nr. 4 a:

Dringlicher Antrag

Flagge zeigen und die Wahrung der Menschenrechte in Tibet einfordern!

Antrag der CDU, der Grünen und der FDP Drs 16/1351

in Verbindung mit

Dringlicher Antrag

Menschenrechte sind unteilbar – kritischen Dialog nutzen